Kraftwerk und Stromleitungen in Hanau, Deutschland.
Reuters/Kai Pfaffenbach
EU und Klimaschutz

Zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Derzeit ist die 26. Weltklimakonferenz im schottischen Glasgow in vollem Gange. Es werden Verhandlungen geführt, Verträge geschlossen und nicht zuletzt auch viele Versprechungen gemacht. Die EU positioniert sich dabei gern als Klimaschutzvorreiterin. Zu Recht?

Seit 1990 geht die Kurve der CO2-Emissionen weltweit steil bergauf. Nicht aber in Europa. Hier flacht sie langsam ab. Im Rahmen der Weltklimakonferenz (COP) betonten Spitzenpolitikerinnen und -politiker daher die Vorreiter- und Vorbildrolle der EU. Der Weg der EU sei jener, dem auch die anderen Staaten der Welt folgen müssten, so die Appelle.

„Natürlich gehört die EU zu den Ländergruppen, die ihre eigene Klimapolitik in den letzten Jahren schrittweise vorangebracht haben“, sagt Sven Harmelig, EU-Klimabotschafter und Experte für Internationale Klimapolitik bei Climate Action Network Europe (CAN), im Gespräch mit ORF.at.

Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen.
APA/AFP/Steve Reigate
Europa stehe „weltweit an der Spitze“ der Klimaschutzbewegung, meinte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen

Studie bescheinigt „beschädigte Führungsrolle“

Auch die Pläne für die Zukunft sind ambitioniert: Mit dem „Green Deal“ will Europa 2050 der erste klimaneutrale Kontinent werden, mit dem Programm „Fit for 55“ bis 2030 mindestens 55 Prozent der Treibhausgase im Vergleich zu 1990 einsparen.

In einer kürzlich erschienenen Studie zum Thema Klimakrisenbekämpfung in der Fachzeitschrift „Annual Review of Environment and Resources“ ist jedoch zu lesen: Die EU habe sich aufgrund ihrer Klimapolitik zwar lange als Führerin positioniert, doch die Vorreiterrolle habe etliche Beschädigungen erfahren – sei es durch ausbleibende finanzielle Zusagen, die verzögerte Ratifizierung des Kyoto-Protokolls oder die inkonsistenten Klimapolitiken der einzelnen Mitgliedsstaaten.

EU-Klimaschutzmaßnahmen „unzureichend“

Auch dem Klimabotschafter Harmelig zufolge sei das Programm, das die EU vorlege, nicht genug, um die Pariser Klimaschutzziele zu erreichen. Europa müsste „eigentlich einen Schritt weiter gehen“.

Als „unzureichend“ klassifiziert ebenso der Climate Action Tracker die Maßnahmen. Die EU müsse sicherstellen, dass die in Brüssel beschlossenen klimapolitischen Maßnahmen von den Mitgliedsstaaten auch umgesetzt werden, heißt es dort. Das sei derzeit nicht der Fall, im Gegenteil. So hätten etwa viele Mitgliedsstaaten noch keinen konkreten Plan für das „Fit for 55“-Ziel vorgelegt.

Braunkohleabbau in Deutschland.
ORF.at/Christian Öser
Trotz des längst beschlossenen Kohleausstiegs werden in Deutschland nach wie vor Dörfer abgerissen, um neue Kohleabbaustätten zu erschließen

Vorwurf des „Greenwashings“

Ein Blick auf die Emissionsgrafiken zeigt zudem: Was die konsumbasierten Emissionen pro Person betrifft, sind die EU-Staaten weiterhin vorne mit dabei. Von der historischen Verantwortung ganz abgesehen.

Derzeit muss sich die EU auch den Vorwurf des „Greenwashings“ gefallen lassen. Schließlich wird gerade darüber debattiert, ob Atomkraft und Erdgas zukünftig innerhalb der EU als nachhaltig klassifiziert werden sollen.

Experte: Osteuropäische Länder als Bremsklötze

Dazu kommt, dass „immer, wenn es um klimapolitisch wegweisende Entscheidungen geht, manche auf die Bremse treten, da gehören osteuropäische Länder dazu, Polen insbesondere“, so Harmelig.

TV-Hinweis

Eine Reportage zu Europas größtem Kohleabbaugebiet ist derzeit in der TvThek zu sehen: „Weltjournal“: „Deutschland – verheizte Heimat für die Kohle“.

Den Beweis lieferte erst zu Beginn der Woche Polens Premierminister Mateusz Morawiecki. Am Rande der Weltklimakonferenz kritisierte er laut einem Bericht der Plattform Euractiv, dass die Vorenthaltung von EU-Geldern Polens Energiewende gefährden könne.

Doch es ist nicht nur Polen – jedes Land habe seine eigenen Problembereiche, so Harmelis. In Deutschland etwa würden gerade beim Verkehr fossile Brennstoffe noch stark verteidigt, konstatiert Harmelig. Ohnehin würden noch zu viele öffentliche Gelder fossile Energien subventionieren. Mit einer Umschichtung, beispielsweise in Richtung höhere Investitionen in erneuerbare Energien, „könnte Europa schon ein ganzes Stück weiter sein“.

Analysen: Lobbygruppen auch in EU einflussreich

Die Autoren und Autorinnen der „Annual-Review“-Studie machen in ihrer Untersuchung indes neun Bereiche aus, die Antwort darauf geben würden, warum die Erreichung der Klimaziele nach wie vor in weiter Ferne liegt. Diese reichen von Geopolitik bis hin zu Psychologie.

Auch Lobbying wird in der Studie eine zentrale Rolle bei der Verhinderung effektiven Klimaschutzes zugeschrieben. Vor allem die Fossilindustrie habe seit jeher die Klimawissenschaft diskreditiert, um die Energiewende hinauszuzögern, so die Autoren.

Wie stark die Lobbyinggruppen auch bei der Klimapolitik der EU Einfluss nehmen, zeigen etwa regelmäßige Analysen des britischen Thinktanks InfluenceMap. Insbesondere Lobbygruppen aus der Transport- und Schwerindustrie würden die „Fit for 55“-Ziele „zurückdrängen“, heißt es in dem aktuellen Report.

Bild zeigt den Runden Tisch beim G20 Gipfel in Rom.
APA/AFP/Brendan Smialowski
Bis zum 12. November wird auf der Klimakonferenz noch verhandelt – im Mittelpunkt steht jetzt die Umsetzung der Maßnahmen

EU „einer der wichtigsten Player“

Was die derzeit stattfindende Weltklimakonferenz (COP) betreffe, zeigt sich Klimabotschafter Harmelig skeptisch. Zwar habe es in den ersten Tagen einige positive Signale seitens der Politik gegeben, allerdings müsse nun die Umsetzung der Maßnahmen im Vordergrund stehen. Es reiche nicht, „eine Deklaration nach der anderen zu verfassen“. Wenngleich man hierbei nicht vergessen dürfe, dass es sich bei den Verhandlungen der COP um eine Konsensfindung von über 190 Ländern handle.

Der EU „als einer der größten Volkswirtschaften und größten Geber für Klimafinanzierung“ schreibt der Experte bei den Verhandlungen eine wichtige Rolle zu. Dass die EU in den Verhandlungen auch als solche auftrete, setze viele interne Abstimmungen und Koordination zwischen den EU-Ländern voraus.

Es gehe darum, gemeinsame Positionen zu finden und diese dann in die Verhandlungen mit dem Rest der Welt zu tragen. „Die EU ist also schon sehr einflussreich hier und neben Amerika und China einer der wichtigsten Player“, so Harmelig.

Die schwedische Klimaaktivistin Greta Thunberg.
AP/PA/Andrew Milligan
Der Druck durch Aktivisten und Aktivistinnen in der Bevölkerung ist „extrem wichtig“, um den Klimaschutz voranzutreiben, so der EU-Klimabotschafter Harmelig

Experte: Druck aus der Bevölkerung steigt

Zudem steige der gesellschaftliche Druck – angetrieben von den Jugendlichen der Klimaschutzbewegung „Fridays For Future“. Das sei „extrem wichtig“, so Harmelig. Zum einen mache das deutlich, dass es sich bei Klimaschutz nicht mehr nur um ein Randthema handle, zum anderen würden nicht zuletzt auch Politiker und Politikerinnen davon profitieren.

Aufgrund des „breiten gesellschaftlichen Rückhalts“ sei es ihnen möglich, im Klimabereich mehr durchzusetzen. Ob ihnen das aber auch gelingen mag, wird sich allerdings erst zeigen – wohl weit nach dem Ende der COP.