Filmszene aus „Camp Confidential“
Netflix
Doku über Fort Hunt

Als Juden in den USA Nazis verhörten

Es war eines der abenteuerlichsten Kapitel des Zweiten Weltkriegs: Nazis, die geheim in die USA geschmuggelt wurden, um sie in einem geheimen Camp zu verhören – ausgerechnet von geflohenen deutschsprachigen Juden im Dienste der US-Army. Auf Netflix ist dazu nun die Kurzdoku „Camp Confidential: Die geheimen Nazis der USA“ zu sehen, die aber viele Aspekte der Geschichte ausblendet.

Über 50 Jahre mussten die Männer, die in Fort Hunt in Virginia ihren Dienst versahen, schweigen. Erst als die US-Behörden die Existenz von „P.O. Box 1142“, so der Codename der Einrichtung, bestätigten, konnten sie ihre Geschichte erzählen. Und viele von ihnen erzählten sie Brandon Bies und seinem Team.

Der Historiker arbeitete für den Nationalparkdienst und stolperte quasi über die Reste des Camps, das 1946 von der US-Army wieder zerstört wurde. Nach und nach kontaktierte er Männer, die damals dort stationiert waren und führte ab 2006 Interviews mit Dutzenden von ihnen. Die Gespräche zeichnete er auf – und sie sind nun ein wesentlicher Teil der Doku.

Viele Stimmen, nur zwei Gesichter

Viele der Männer sind in der Zwischenzeit verstorben – nur ihre Stimmen sind zu hören. Zwei sind in der Doku auch zu sehen: der aus Luxemburg stammende Arno Mayer und der in Wien geborene Peter Weiss. Allerdings verschweigt die Doku, mit welchen Kapazundern man es da zu tun hat. Mayer wurde später Professor für europäische Geschichte an der Universität Princeton.

Peter Weiss
Reuters/Alex Grimm
Menschenrechtsanwalt Peter Weiss

Weiss, der in den Begleittexten von Netflix konsequent falsch geschrieben ist, wurde einer der renommiertesten Menschenrechtsanwälte der USA. Er ist auch Vizepräsident der US-Menschenrechtsorganisation Center for Constitutional Rights, die unter anderem den ehemaligen US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld wegen Kriegsverbrechen angezeigt hatte.

Animationen zeigen Handlung

Als optischen Rahmen für die tragenden Stimmen entschied sich das israelische Regieduo Daniel Sivan und Mor Loushy dafür, die Handlung als Animation darzustellen. Das funktioniert szenenweise, dann wieder nicht. Der Film stößt dabei an die Grenze, etwas als Doku darzustellen, von dem es weder Originalbilder noch genügend überlebende Zeitzeugen gibt. Produziert wurde der rund 35-minütige Streifen von den österreichischen Filmemachern Benji und Jono Bergmann.

Aus Europa geflohen

Er erzählt die Geschichte von jungen Männern, die, eben aus Europa entflohen, in der US-Army ihren Beitrag leisten wollen, Nazi-Deutschland zu besiegen. Viele von ihnen landeten im Camp Ritchie, einem Ausbildungslager der US Army in Maryland. Tausende junge Männer vorwiegend aus Deutschland und Österreich wurden dort von der US-Army vor allem in Verhörtechniken ausgebildet und versahen anschließend Spezialaufgaben innerhalb der Armee.

Viele Prominente durchliefen die achtwöchige Ausbildung der „Ritchie Boys“: Laut dem Historiker Robert Lackner waren es rund 500 Österreicher, darunter der Komponist Georg Kreisler, Opernlegende Marcel Prawy und Filmproduzent Eric Pleskow.

Weiss und Mayer waren noch Teenager, als sie 1942 von der Army nach Fort Hunt geschickt wurden. Ihre Aufgabe: Nazis zu verhören, ihre Deutschkenntnisse und das Wissen um Mentalität und Kultur sollten helfen, dabei erfolgreich zu sein. Wohin sie gebracht wurden, wussten sie zunächst selbst nicht. Das geheime Camp war auch ein klarer Verstoß gegen die Genfer Konvention. Die US-Armee meldete die Anwesenheit der Gefangenen dem Roten Kreuz nicht.

„Würde der Gefangenen nie verletzt“

2007 trafen sich die Männer bei einer Ehrung in Washington wieder – und erzählten auch den Medien ihre Geschichte. Gleichzeitig verwehrten sie sich dagegen, von der damaligen US-Regierung von George W. Bush vereinnahmt zu werden: Man habe Standards gehabt, die die Würde der Gefangenen nie verletzten, betonten die rund zwei Dutzend Männer.

Sie hätten sogar Gewissensbisse gehabt, die Zellen mit versteckten Mikrofonen abzuhören, schilderten die Veteranen. Diese Methode hatte sich allerdings nur so lange als brauchbar erwiesen, bis die Häftlinge erkannten, dass sie abgehört wurden. Und sie hätten sich schlecht gefühlt, wenn sie die Post der Gefangenen zensurierten. Manchmal seien sie mit einem Häftling auch essen gegangen, um ihn so zum Reden zu bringen.

Gegen politische Vereinnahmung

Die Verhöre seien aber ohne jede Gewalt abgelaufen, betonten die Veteranen gegenüber der „Washington Post“. „Ich habe nie jemanden geschlagen“, sagte damals George Frenkel. „Wir kitzelten die Informationen in einem geistigen Wettstreit heraus. Ich bin stolz darauf, nie meine Humanität kompromittiert zu haben.“

Die Männer schilderten das im Lichte der Debatte dieser Zeit: Der Folterskandal im irakischen Gefängnis Abu Ghraib hatte damals hohe Wellen geschlagen, auch die Verhör- und Foltermethoden in Guantanamo sorgten für Debatten. „Ich fühle mich tief geehrt, hier zu sein, aber ich will klarstellen, dass meine Anwesenheit hier nicht bedeutet, dass ich den Krieg unterstütze“, sagte Weiss damals. Es klinge für ihn so, wie wenn die Armee sagen würde: „Ihr habt damals gruselige Dinge getan, daher ist es okay, wenn wir sie jetzt machen“, sagte Mayer 2007.

Filmszene aus „Camp Confidential“
Netflix
Nicht immer waren die Tricks bei den Verhören zimperlich: Einem Gefangenen wurde angedroht, ihn zu vergasen – allerdings wurde mit einem Staubsauger nur Luft in einen Lieferwagen geblasen

Karriere in den USA

„Wir haben mit einer Partie Schach oder beim Tischtennisspielen mehr Information aus einem deutschen General herausbekommen, als sie es heute mit Folter können“, sagte Henry Kolm, der später als Physiker am MIT Karriere machte. Kolm stammte aus Wien, 1938 war seine Familie vor den Nazis über Belgien in die USA geflüchtet. Auch seine Stimme ist in der Doku zu hören. Bis ins hohe Alter dokumentierte er die Geschichte seines Lebens – und auch seine Beziehung zu Wien – auf einer Website. Er starb 2011.

In der Doku sind auch George Weidinger und Rudolph Fellner zu hören – auch sie stammten ursprünglich aus Wien. Fellner war Professor an der School of Music der Carnegie Mellon University. Auch er starb 2011.

Versteck der Nazi-Raketenproduktion herausgefunden

Einer der größten Erfolge in Fort Hunt war, dass der geheime Standort der deutschen V2-Raketenproduktion in Peenemünde herausgefunden und gezielt bombardiert werden konnte. Mit den Wissenschaftlern aus Peenemünde hatten die USA etwas anderes vor. V2-Mastermind Wernher von Braun und Hunderte Mitarbeiter wurden nach Kriegsende ebenfalls geheim in die USA gebracht – und auch sie landeten im Rahmen der „Operation Overcast“ bzw. der „Operation Paperclip“ in den USA. Angekommen ist sind Braun und einige andere in Boston, wo sie zunächst in der geheimen Einrichtung Fort Strong untergebracht waren. Kolm diente auch dort, wie Historiker Lackner in seinem Buch schreibt. Anschließend wurden die deutschen Wissenschaftler nach Fort Hunt gebracht.

Small Talk mit Nazis

Und nun war es die Aufgabe der jungen jüdischen Männer in US-Uniform, diese nicht zu verhören, sondern zu „betreuen“ und dabei ein bisschen auszuhorchen. „Camp Confidential“ konzentriert sich vor allem auf diesen Aspekt: Wie es Weiss, Mayer und den anderen dabei ging, Nazis zu unterhalten, mit ihnen Sport zu betreiben und mit ihnen einkaufen zu gehen – und sie ungestraft davonkommen zu sehen. Weiss betont, nie mit den Männern mehr als einen dienstlichen Umgang gehabt zu haben.

Filmszene aus „Camp Confidential“
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Wernher von Braun in der Doku

Die USA hofierten die deutschen Wissenschaftler, weil sie ihre Kenntnisse benötigten – auch im Rennen gegen die Sowjetunion. Braun wurde trotz seiner Nazi-Vergangenheit die treibende Kraft im US-Raketenprogramm. Strafrechtlich verfolgt wurde keiner der Wissenschaftler.

Historiker arbeiteten Protokolle auf

Bis 1946 wurden in Fort Hunt fast 3.500 Kriegsgefangene durchgeschleust, unter ihnen auch Wehrmachtsgeneral Reinhard Gehlen, der mit den Resten seines Stabes „Abteilung Fremde Heere Ost“ im Chaos des Kriegsendes bald militärische Ostaufklärung für die USA betrieb. Aus der „Organisation Gehlen“ entstand 1956 der deutsche Bundesnachrichtendienst, dem Gehlen auch als erster Präsident vorstand.

Zehntausende Seiten von Verhörprotokollen wurde 2001 von dem deutschen Historiker Sönke Neitzel gefunden – und gemeinsam mit dem Sozialpsychologen Harald Welzer ausgewertet. Auch der Historiker Felix Römer erforschte die Aussagen der deutschen Soldaten und brachte ein Buch darüber heraus. Laut „Standard“ überlegen Benji und Jono Bergmann auch eine fiktive Serie über den Stoff. Material genug gäbe es – auch vieles, das von der Doku noch nicht erzählt wurde.