„ich bin ganz alleine, 1000 & aber1000 Kilometer liegen zwischen uns & ich bin ohne Eltern & habe doch Eltern“: Betritt man das Foyer des Jüdischen Museums am Wiener Judenplatz fällt der erste Blick auf diesen Satz, der in Kinderschrift groß an der Wand prangt. Direkt gegenüber ein weiterer Satz aus einem Brief: die verzweifelten Worte einer Mutter, die darum bittet, dass ihr Kind in einem Kindertransport nach Großbritannien gebracht werde.
Die zwei Wände symbolisieren die zwei Seiten der Geschichte der Kindertransporte, erzählt Sabine Apostolo, Kuratorin der Ausstellung „Jugend ohne Heimat. Kindertransporte aus Wien“, die seit Mittwoch im Jüdischen Museum Wien gezeigt wird. „Es gab sehr viel Leid und es gab viele Kinder, die keinen Platz bekommen haben. Es gibt aber auch das Überleben und es gibt viele Kinder, die viel aus ihrem Leben machen konnten. Auch wenn es sicher kein leichtes Leben war“, so Apostolo im Gespräch mit ORF.at.
Novemberpogrom als auslösendes Moment
Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Österreich und dem „Anschluss“ im März 1938 begannen für die jüdische Bevölkerung die brutale Ausgrenzung und Verfolgung. Viele versuchten zu emigrieren, doch innerhalb kurzer Zeit schlossen die meisten Länder ihre Grenzen. Erst nach dem Pogrom gegen die jüdische Bevölkerung in der Nacht auf den 10. November 1938, bei dem sich der antisemitische Hass zu brutaler Gewalt verdichtete, erklärten sich einige Länder dazu bereit, zumindest Kinder aufzunehmen.

Deren Eltern mussten die schwere Entscheidung treffen, ihre Kinder, viele davon noch Kleinkinder, alleine in einen Zug zu setzen. Der Plan, so bald wie möglich zu folgen, gelang vielen nicht – sie wurden deportiert und ermordet. Die Kindertransporte retteten viele Leben, doch sie brachten auch eine Kindheit und Jugend ohne Heimat und ohne Familie mit sich. Den Großteil der Kinder nahm Großbritannien auf, gefolgt von den Niederlanden, Belgien, Frankreich, Schweden, den USA und der Schweiz.
Strenge Auswahlkriterien
Verlässt man das Foyer und betritt den ersten von zwei Ausstellungsräumen, steht man als Erstes direkt vor einer Wand – voll mit Faksimiles verschiedener Formulare, die ein Gefühl dafür geben, wie schwierig es war, einen Platz in einem Kindertransport zu bekommen. Die Eltern mussten etwa bestätigen, dass ihre Kinder geistig und körperlich gesund und keine „Bettnässer“ seien. Es wurden Recherchen über den Hintergrund der Familien durchgeführt, etwa ob der Vater Alkoholiker sei. Und: Vor der Ausreise musste für jedes Kind erst ein Bürge gefunden werden.

„Die Auswahlkriterien waren sehr streng, und es war nicht sehr wahrscheinlich, dass man einen Platz bekommt“, sagt Apostolo. Noch bevor der erste Kindertransport im Dezember 1938 Wien verließ, habe es bereits 10.000 Anmeldungen gegeben. Etwas mehr als 3.000 Kinder konnten in den wenigen Monaten bis Kriegsbeginn aus Wien weggebracht werden.
Beim ersten Kindertransport habe die Jüdische Gemeinde Wien noch darauf achten können, dass jene Kinder einen Platz bekamen, die am gefährdetsten waren: Waisen und ältere Burschen. Bald lautete aber die Vorgabe aus Großbritannien, jenem Land, das die meisten Kinder aufnahm: Es sollten Kinder geschickt werden, die leicht in Pflegefamilien unterzubringen seien. „Das bedeutete meist: kleine Mädchen, blond mit blauen Augen. Es entstand dann ein ziemliches Ungleichgewicht“, so Apostolo.
Mehrheit der Kinder bekam keinen Platz
Ein Bub, der alle Kriterien erfüllte und dennoch keinen Platz bekam, war der 1923 geborene Leo Steiner, an dessen Schicksal in der Ausstellung stellvertretend für die vielen Daheimgebliebenen erinnert wird. Seine Ausreise scheiterte letztlich daran, dass sein möglicher Bürge im August 1939 auf Urlaub war. Trotz der Bestätigung der Dringlichkeit des Falles durch die Israelische Kultusgemeinde (IKG) wurde der 16-Jährige auf keine Liste gesetzt. 1941 wurde er mit seinen Eltern nach Litauen verschleppt und bei einer Massenerschießung ermordet.

Der spätere Schauspieler, Regisseur und Drehbuchautor Otto Tausig bekam zwar einen Platz und wurde 1939 mit einem der letzten Kindertransport nach England gebracht – eine liebevolle Pflegefamilie erwartete ihn dort aber nicht. Tausigs Mutter hatte zuvor eine Annonce für ihn in „The Times“ geschaltet, um einen privaten Sponsor in Großbritannien zu finden. Dieser entpuppte sich als Pädophiler. „Was weiter mit dem Mann passierte, weiß ich nicht. Es war dann Krieg, und ich hatte andere Sorgen“, sagte Tausig später.
Vom geretteten Kind zum „feindlichen Ausländer“
Denn der Kriegsausbruch bedeutete nicht nur das Ende der Transporte – die Kinder wurden nun als Deutsche und somit „feindliche Ausländer“ gesehen. Burschen ab 16 Jahren, wie Tausig, die zuvor vor den Nationalsozialisten gerettet worden waren, wurden in britischen Internierungslager gebracht. 1946 kehrte Tausig zurück nach Wien und begann ein Studium am Max-Reinhardt-Seminar. Neben Engagements als Schauspieler und Regisseur am Wiener Burgtheater und anderen Bühnen war er bis kurz vor seinem Tod im Jahr 2011 in zahlreichen Fernsehproduktionen, etwa aus der „Tatort“-Reihe, zu sehen.

Auch Helga Aichinger, die Zwillingsschwester der Autorin Ilse Aichinger, wurde im Juli 1939 mit einem Kindertransport nach Großbritannien gebracht. Ilse Aichinger blieb bei ihrer Mutter in Wien zurück, denn es gab nur Platz für eine der Schwestern. Der Plan, einander bald in England wiederzusehen, wurde vom Krieg zerstört. Erst über acht Jahre später sahen sich die Schwestern wieder.
Zweite Flucht aus Frankreich
„ich bin ganz alleine, 1000 & aber1000 Kilometer liegen zwischen uns & ich bin ohne Eltern & habe doch Eltern“: Dieser Satz aus dem Brief eines Kindes, der auch beim Verlassen der Ausstellungsräume wieder ins Auge springt, stammt von Paul Peter Porges. Der später erfolgreiche Cartoonist wurde 1927 in Wien geboren und war eines von 103 Wiener Kindern, die im Frühjahr 1939 in einem Kindertransport in Paris ankamen.

Im Gegensatz zu den Kindern, die nach Großbritannien gebracht wurden, mussten jene, die in Frankreich untergekommen waren, ein zweites Mal vor den Nazis flüchten. Nach einer Zwischenstation in der Schweiz wanderte Porges in die USA aus, wo er über 25 Jahre für das Satiremagazin „MAD“ arbeitete und auch auch als Zeichner für den „New Yorker“ bekannt wurde. In Porges’ Werk ist immer wieder seine Faszination für Wiener Figuren wie Alma Mahler-Werfel und Sigmund Freud zu erkennen.
Hinweis
Von 10. November 2021 bis 15. Mai 2022 wird die Ausstellung „Jugend ohne Heimat. Kindertransporte aus Wien“ im Jüdischen Museum Wien gezeigt.
„Es ist mir ja nichts passiert“
„Viele der Wiener Kinder entwickelten ein sehr starkes Zeitzeugenbewusstsein“, erzählt Apostolo: „Jahrzehntelang haben sie gedacht, sie sind alleine mit ihrem Schicksal. Ende der 1980er Jahre begannen sie, einander zu treffen, auszutauschen und ihre Geschichten zu erforschen.“ So entstand auch im nicht deutschsprachigen Raum der Begriff „Wiener Kinder“ als Selbstbezeichnung jener, deren Lebensrettung zugleich das Ende ihrer Kindheit bedeutete.
Für die Aufarbeitung sei auch die zweite Generation wichtig gewesen, die Kinder der Kindertransportkinder, so die Kuratorin: „Sie bestärkten ihre Eltern darin, dass das, was sie erlebt haben, erzählenswert ist. Und dass es nicht im Schatten der Schicksale jener Menschen steht, die das Konzentrationslager überlebt haben.“ Denn lange sei das Trauma der Kinder im Vergleich mit KZ-Überlebenden relativiert worden. Und auch die Wiener Kinder selbst hätten sich viel zu lange gesagt: „Es ist mir ja nichts passiert.“