Die Ränge des Saals im vierten Stock des Antall-Gebäudes im EU-Parlament waren bis zum letzten Platz gefüllt – das Interesse an der öffentlichen Anhörung war enorm, sowohl unter den Abgeordneten im EU-Parlament als auch bei Medienvertretern aus aller Welt. Rund drei Stunden stand Haugen Rede und Antwort über die umstrittenen Geschäftspraktiken ihres ehemaligen Arbeitgebers.
Bereits Anfang Oktober war die 37-Jährige mit brisanten Insiderinformationen über Facebook an die Öffentlichkeit gegangen. Der Vorwurf in aller Kürze: Das Unternehmen stelle Profit über die Sicherheit der Nutzerinnen und Nutzer. Der Facebook-Konzern Meta dementierte und wies die Anschuldigungen als unwahr zurück.
Die Enthüllungen sorgten damals weit über die Grenzen Silicon Valleys für Aufruhr – und auch Haugens Aussagen am Montag dürften wohl nicht ganz ohne Folgen bleiben.
Facebook-Whistleblowerin Haugen im EU-Parlament
Facebook schwächt die Demokratie und ist gefährlich für unsere Kinder – so lautet der Befund einer Person, die den Internetriesen von innen kennt: die ehemalige Facebook-Mitarbeiterin und Wistleblowerin Frances Haugen. In den USA ist sie mit ihren Enthüllungen auf viel Gehör gestoßen. Haugen ist derzeit auf Europatour. Am Montag war sie Gast im Europaparlament.
EU-Parlament sieht Grundrechte bedroht
Die Eingangsworte der Abgeordneten hätten deutlicher nicht sein können: Die Macht von Facebook sei an einem Punkt angelangt, an dem die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger bedroht und Demokratien destabilisiert werden.
Ähnlich äußerte sich auch Haugen: Facebook nütze seine Marktmacht aus. „Toxische“ Inhalte sowie „Fake News“ würden Hass schüren und die Polarisierung in der Gesellschaft verschärfen. Die Sicherheit der Nutzerinnen und Nutzer sei nicht mehr gegeben, im Gegenteil: Die derzeitigen Algorithmen könnten im schlimmsten Fall zu einer Radikalisierung führen.

„Facebook darf nicht mehr im Dunkeln operieren“
Facebook selbst seien die Probleme zwar bekannt, das Unternehmen setze jedoch keine Schritte dagegen, kritisierte die Whistleblowerin. Facebook habe in der Vergangenheit „ganz bewusst“ Entscheidungen getroffen – und diese seien immer dem eigenen Profit untergeordnet gewesen, wie unternehmensinterne Dokumente zeigen würden. „Facebook darf nicht mehr im Dunkeln operieren“, appellierte Haugen an die anwesenden Abgeordneten des Ausschusses für Binnenmarkt und Verbraucherschutz im EU-Parlament.
Gerade das sich derzeit in Entwicklung befindliche Gesetz für digitale Dienste (Digital Services Act, DSA) böte dafür großes Potenzial, zeigte sich Haugen überzeugt. Mit dem DSA sollen in der EU große US-Onlineunternehmen wie Facebook und Google strikter reguliert werden. Zudem soll er unter anderem einen besseren Schutz der Nutzer und ihrer Grundrechte im Internet bieten, wie es seitens der EU heißt. Während beim DSA vor allem gesellschaftliche Fragen im Mittelpunkt stehen, befasst sich das Schwesterngesetz über digitale Märkte (Digital Markets Act, DMA) mit wettbewerbsrechtlichen Aspekten. Bevor die Vorschläge der EU-Kommission umgesetzt werden, müssen sich EU-Staaten und Europaparlament allerdings noch auf eine gemeinsame Linie verständigen.

Haugen: Historische Chance
Das DSA-Gesetz könnte globale Maßstäbe setzen und andere Länder – auch die USA – dazu bewegen, neue Regeln einzuführen, so Haugen. „Aber das Gesetz muss stark formuliert sein und konsequent umgesetzt werden. Ansonsten werden wir die Gelegenheit verpassen, die Zukunft von Technologie und Demokratie in Einklang zu bringen.“
Neue Onlineregeln zum „Schutz der Demokratie“
Bei ihrer Anhörung im Europaparlament in Brüssel hat Facebook-Whistleblowerin Frances Haugen große Hoffnungen in die europäischen Pläne gesetzt, neue Regeln für Onlinekonzerne zu entwickeln. Das Gesetz für digitale Dienste (Digital Services Act, DSA) habe das Potenzial, global Maßstäbe zu setzen. Es könne andere Länder – auch die USA – dazu bewegen, neue Regeln einzuführen, betonte Haugen.
Solche Chancen gebe es nur einmal pro Generation. Die EU könne Regeln etablieren, die Risiken durch Onlineplattformen eindämmen und zugleich die Redefreiheit schützen. „Sie können der Welt zeigen, wie Transparenz und Aufsicht funktionieren müssen.“
Sicherheit vs. Meinungsfreiheit
Auch die Abgeordneten stellten während der Anhörung klar, dass die Selbstregulierung der großen Tech-Konzerne bisher „voll und ganz gescheitert“ sei. Als EU müsse man Verantwortung übernehmen und die Unternehmen zu Rechenschaft ziehen. Das „schädliche Monopol“ Facebooks müsse aufgebrochen und Europa sicherer gemacht werden, so der Tenor.
Im Mittelpunkt der Debatte stand dabei die Frage, wo die Grenze zwischen Meinungsfreiheit und Sicherheit verlaufe. Haugen plädierte für eine „inhaltsneutrale Lösung“ und setzte dabei vor allem auf Transparenz. Essenziell sei, dass Facebook seine Daten bzw. Algorithmen offenlege, denn nur so könnte das System Facebook verstanden sowie unabhängige Kontrollen durch Fachleute garantiert werden. Und weiter: Nationale Regulierungsbehörden seien nicht sinnvoll, vielmehr bedürfe es einer zentralen Aufsichtsbehörde in Europa.
Doch auch den Nutzerinnen und Nutzern selbst müsste Zugang zu den Daten gewährt werden, damit diese die Risiken besser beurteilen können: „Wir haben einen freien Markt, die Menschen können kaufen, was sie wollen. Aber die Zutaten müssen angeführt werden“, so Haugen.

Anhörung mit Folgen?
Inwiefern die Aussagen Haugens tatsächlich Einfluss auf die EU-Gesetzgebung nehmen werden, bleibt fraglich. Netzpolitik-Journalist Alexander Fanta etwa erwarte keine konkreten Auswirkungen, „dafür ist es einfach zu spät im Gesetzgebungsprozess“, schließlich befinde sich der DSA bereits in Fertigstellung, so Fanta gegenüber ORF.at.
Anders sieht das der SPÖ-EU-Delegationsleiter Andreas Schieder. Gegenüber ORF.at meint er: „Es geht darum, jetzt noch in der Endphase nachzuschärfen.“ Sollte das beim Entwurf nun nicht mehr gelingen, gäbe es immer noch die Möglichkeit, Ergänzungen durch Abänderungsanträge miteinfließen zu lassen.
Ähnliche Töne schlug auch die ÖVP an: „Die Aussagen von Frances Haugen müssen uns alle aufrütteln. Wir werden die Erkenntnisse aus den Enthüllungen von Haugen in das neue Gesetz für digitale Plattformen wie Facebook einfließen lassen, damit Europa Vorreiter bei fairen Regeln für die digitale Welt wird“, sagten die ÖVP-Europaabgeordneten Barbara Thaler und Christian Sagartz.
Fantas Einschätzung zufolge könnten die Enthüllungen zweifellos aber die Neuauflage des Verhaltenskodex gegen Desinformation beeinflussen. Dabei gehe es um „die heikle Frage, welche Inhalte als schädlich von Plattformen wie Facebook oder WhatsApp gelöscht werden sollten“. Ein Beispiel dafür sei etwa die Bekämpfung von Desinformation. Bisher habe die EU hier keine großen Änderungen machen wollen – „um die freie Meinungsäußerung nicht einzuschränken“. Kritiker und Kritikerinnen beanstanden seit Langem, dass die Macht zu bestimmen, was als schädlicher Inhalt gilt oder nicht, nach wie vor bei den großen Digitalkonzernen liegt.