Migranten auf der belarussischen Seite der Grenze Polen-Belarus
Reuters/MON
Polen

Flüchtlingslage an Belarus-Grenze eskaliert

An der Grenze zwischen Belarus und Polen herrscht seit Monaten Ausnahmezustand. Seit Montag stehen die Zeichen verstärkt auf Eskalation. Polnischen Angaben zufolge haben sich Hunderte Menschen Richtung Grenze begeben und auch versucht, diese zu durchbrechen. Warschau reagierte mit der Entsendung weiterer Soldaten. Die EU-Kommission forderte Polen indes auf, bereits angebotene Hilfe anzunehmen – und forderte schärfere Sanktionen gegen Minsk.

Das polnische Verteidigungsministerium veröffentlichte Luftaufnahmen, die eine größere Menschenmenge an der Grenze zeigten. Nach Erkenntnissen der polnischen Behörden halten sich gegenwärtig zwischen 3.000 und 4.000 Migrantinnen und Migranten in dem belarussischen Gebiet nahe der polnischen Grenze auf, wie Regierungssprecher Piotr Müller mitteilte. Auf dem Staatsgebiet des autoritär regierten Nachbarlandes seien insgesamt sogar mehr als 10.000 Menschen, die die Grenze überqueren wollten.

Der belarussische Grenzschutz sprach am späten Nachmittag von 2.000 Menschen, die die Grenze zu Polen überqueren wollten. Darunter seien Frauen und Kinder. Die Behörde erklärte am Montag laut der staatlichen Nachrichtenagentur Belta, man habe „alle notwendigen Maßnahmen“ ergriffen, um die Sicherheit der Menschen zu gewährleisten.

Geflüchtete an polnischer Grenze

Seit Wochen haben Schutzsuchende aus Krisenregionen versucht, über Belarus in die EU zu gelangen. Nun machte sich eine große Gruppe von Menschen zu Fuß auf den Weg zur Grenze.

„Unter Kontrolle von belarussischen Einheiten“

Die Menschengruppe sei „unter der Kontrolle von bewaffneten belarussischen Einheiten, die entscheiden, wohin sie gehen darf und wohin nicht“, schrieb indes der polnische Geheimdienstkoordinator Stanislaw Zaryn auf Twitter. Zaryn sprach von einer weiteren feindlichen Aktion des Nachbarlandes gegen Polen. Die polnische Regierung berief deshalb einen Krisenstab ein.

Belarus: Lage an Grenze zu Polen eskaliert

An der Grenze zwischen Belarus und Polen ist die seit Monaten angespannte Lage am Montag weiter eskaliert.

Nach Angaben polnischer Behörden gab es am Montag mehrere Versuche, die mit Stacheldraht gesicherte Grenze zu durchbrechen. Das polnische Verteidigungsministerium berichtete von einem solchen Versuch in der Nähe des Grenzortes Kuznica. Auf einem dazu geposteten Video ist zu sehen, wie eine Gruppe von Männern mit Spaten und einem Baumstamm versucht, den Stacheldrahtzaun an der Grenze umzureißen. Ein polnischer Uniformierter geht mit Tränengas gegen die Männer vor.

Regierungssprecher Müller sprach von der möglicherweise schwierigsten Situation seit Beginn der Aktionen des belarussischen Machthabers Alexander Lukaschenko gegen Polen. Polen wird laut Müller weitere Grenzschutzbeamte an den entsprechenden Abschnitt schicken. Außerdem sei man im ständigen Kontakt mit der EU-Grenzschutzagentur Frontex.

EU-Kommission fordert weitere Sanktionen

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen forderte Montagabend schärfere Sanktionen gegen Minsk. Die EU-Staaten sollten „endlich das erweiterte Sanktionsregime gegen die für diesen hybriden Angriff verantwortlichen belarussischen Behörden beschließen“, teilte von der Leyen am Abend mit.

Zuvor hatte die EU-Kommission Polen gedrängt, Hilfe anzunehmen. Eine gemeinsame Grenze könne am besten gemeinsam gemanagt werden, sagte ein Sprecher der Behörde in Brüssel. Frontex, die Asylbehörde EASO und die Polizeibehörde Europol stünden bereit, bei der Registrierung von Migrantinnen und Migranten, der Bearbeitung von Asylgesuchen und dem Kampf gegen Menschenschmuggel zu helfen. Polen müsse diese Hilfe jedoch anfordern. Man habe die Regierung bereits mehrfach dazu ermuntert, hieß es.

Der Migrationsexperte Gerald Knaus brachte in der ZIB2 einen Migrationspakt nach dem Vorbild des EU-Türkei-Deals ins Spiel. Die Union solle mit Partnern wie der Ukraine, Moldawien und Georgien vereinbaren, dass diese Staaten die Menschen aufnehmen und Asylverfahren durchführen. Mit diesem „Antierpressungspakt“ würde die EU nämlich ein Signal an Menschen senden, „sich nicht nach Minsk locken zu lassen“.

Migrationsforscher Knaus zur Lage in Belarus

Migrationsforscher Gerald Knaus spricht über die Situation an der Grenze zu Belarus. Knaus konzipierte vor fünf Jahren den Flüchtlingspakt zwischen der EU und der Türkei.

Knaus warnte zugleich vor einem „Wettbewerb der Brutalität“ mit dem Regime in Minsk. Dass die polnischen Behörden weder Frontex noch Hilfsorganisationen in die Region ließen, „lässt befürchten, dass hier systematisch von Grenzschützern EU-Recht gebrochen wird und dass man niemanden dabeihaben will, der das bemerkt“.

Auch Litauen verstärkt Grenzschutz

Auch Litauen will den Grenzschutz verstärken. Innenministerin Agne Bilotaite kündigte am Montag an, Truppen an seine Grenze zu Belarus zu verlegen, um sich auf einen möglichen Zustrom von Migranten vorzubereiten, so Bilotaite. Wie viele Soldaten verlegt werden und wo genau sie eingesetzt werden, wollten die litauischen Behörden unter Verweis auf Sicherheitsbedenken nicht sagen.

Migranten stehen vor einem Maschendrahtzaun, dieser wird auf der anderen Seite von Sicherheitskräften bewacht
APA/AFP/Leonid Shcheglov
Polen hat die EU-Außengrenze zu Belarus über weite Strecken mit Stacheldraht abgesichert

Litauen sicherte Polen angesichts der jüngsten Entwicklungen an der EU-Ostgrenze zu Belarus zudem seinen Beistand zu. „Wir sind bereit, unserem Nachbarn jede erforderliche Unterstützung zu leisten (…)“, twitterte Staatspräsident Gitanas Nauseda nach einem Telefonat mit seinem polnischen Amtskollegen Andrzej Duda. Das ebenfalls an Belarus grenzende Litauen stehe in „voller Solidarität“ zu Polen.

Beide Staatschefs vereinbarten, regelmäßig Informationen über die Lage an der Grenze zu Belarus auszutauschen und Maßnahmen zu koordinieren, hieß es in einer Mitteilung der Präsidialkanzlei.

Mehrere Todesfälle

Hilfsorganisationen warnen angesichts des nahenden Winters vor einer Verschlechterung der Lage der an der Grenze festsitzenden Menschen. Die UNO hat die EU und Belarus zu einer raschen Lösung für die Flüchtlinge und Migranten im Grenzgebiet aufgerufen. „Es ist inakzeptabel, dass Menschen sterben und das Leben anderer gefährdet wird. Sie sind Geiseln einer politischen Pattsituation, die jetzt gelöst werden muss“, sagte zuletzt die UNHCR-Regionaldirektorin für Europa, Pascale Moreau.

Lukaschenko sieht sich mit Kritik konfrontiert, Menschen aus Krisenregionen einfliegen zu lassen, um sie dann in die EU zu schleusen. Er hatte als Reaktion auf Sanktionen gegen sein Land erklärt, Menschen auf ihrem Weg zu einem besseren Leben im „gemütlichen Westen“ nicht mehr aufzuhalten. Nach Angaben des UNO-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) kamen schon mindestens acht Flüchtlinge an der Grenze ums Leben. Die EU-Staaten Polen und Litauen haben in den vergangenen Monaten Tausende Grenzübertritte gemeldet.

Die EU erkennt Lukaschenko seit der umstrittenen Präsidentenwahl im vergangenen Jahr nicht mehr als Staatsoberhaupt von Belarus an. Unterstützt wird der „letzte Diktator Europas“, wie ihn Kritiker nennen, von Russlands Präsident Wladimir Putin.

Migranten stehen vor Zaun bewacht von Polizisten
AP/Leonid Shcheglov/BelTA
Die NATO betrachtet die jüngste Eskalation mit Sorge

NATO warnt vor Instrumentalisierung von Flüchtlingen

NATO-Angaben zufolge setzt Lukaschenko die NATO-Mitgliedsstaaten Litauen, Lettland und Polen gezielt unter Druck. Es sei „inakzeptabel, wie das Lukaschenko-Regime Flüchtlinge als hybride Taktik einsetzt“ – man beobachte die „jüngste Eskalation an der Grenze zwischen Polen und Belarus“ mit Sorge, so ein Sprecher des Militärbündnisses am Montag.

Auch die EU wirft dem autoritär regierenden Lukaschenko vor, Flüchtlinge aus dem Nahen Osten gezielt in die EU zu schleusen, um auf diese Weise Vergeltung für europäische Sanktionen zu üben. „Die Lage an der Ostgrenze ist beispiellos und von einem komplett skrupellosen, aggressiven Regime verursacht“, sagte dazu EU-Innenkommissarin Ylva Johansson der „Welt am Sonntag“.

Zeitung: Deutlich mehr Flüge aus Nahost

Der Zeitung zufolge habe Belarus zuletzt die Zahl der Flüge aus dem Nahen Osten nach Minsk deutlich erhöht. Laut den neuesten Landeplänen des Flughafens in der belarussischen Hauptstadt seien bis März wöchentlich rund 40 Flüge aus Istanbul, Damaskus und Dubai geplant. Diese drei Flughäfen würden derzeit am häufigsten von flüchtenden Menschen für Direktflüge nach Belarus genutzt, um von dort Richtung EU weiterzureisen.

In Belarus könnten laut „Welt“ demnächst zudem fünf weitere Flughäfen aus Nahost angeflogen werden. Sie würden den Angaben zufolge von nationalen zu internationalen Airports umgewidmet. Einer der Flughäfen liege nur 20 Kilometer von der polnischen Grenze entfernt in Grodno.

Ruf nach europäischem Krisenstab

Bundeskanzler Alexander Schallenberg (ÖVP) versicherte Polen der „vollen Solidarität in diesen schwierigen Zeiten“. „Wir werden nie akzeptieren, dass Migranten von dem Regime in Belarus als Waffen instrumentalisiert werden!“, so der Kanzler am Montagabend in einem auf Englisch verfassten Tweet. Die außenpolitische Sprecherin der Grünen im österreichischen Parlament, Ewa Ernst-Dziedzic, forderte angesichts der drohenden Eskalation indes die sofortige Einrichtung eines europäischen Krisenstabs, außerdem sollten Frontex, EASO und das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen eingeschaltet werden.

Migranten wärmen sich an einem Lagerfeuer
APA/AFP/Leonid Shcheglov
Flüchtlinge sitzen in Belarus teils seit Wochen in der Grenzregion zu Polen fest

„Polen ist alleine nicht in der Lage, den schlimmen Zustand auf eine Art und Weise zu lösen, die internationalem wie auch europäischem Recht entspricht, geschweige denn, einen Lösungsweg zu gehen, der menschenrechtliche Standards erfüllt“, so Ernst-Dziedzic in einer Aussendung.

Laut Informationen der grünen Abgeordneten, die am Wochenende an die polnisch-belarussische Grenze gereist war, befinden sich bereits 12.000 polnische Soldaten an der Grenze. „Das dringlichste Gebot in der jetzigen Situation ist es, menschliches Leben zu schützen“, so die Grüne und forderte die rasche Einrichtung eines humanitären Hilfskorridors. Außerdem müsse Medien und internationalen Beobachtern Zugang gewährt werden.