Flüchtlinge an der Grenze zwischen Polen und Belarus
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Krise Polen – Belarus

EU will auch Fluglinien sanktionieren

Angesichts der sich dramatisch verschlechternden Flüchtlingslage an der polnisch-belarussischen Grenze hat EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zusätzliche Sanktionen gefordert. Belarus müsse mit der „zynischen Instrumentalisierung von Migranten“ und Migrantinnen aufhören, so von der Leyen am Montagabend. Neben Minsk nimmt die EU jetzt auch Fluglinien, die die Flüchtlinge nach Belarus bringen, ins Visier – auch ihnen drohen Sanktionen.

„Ich fordere die Mitgliedsstaaten auf, die erweiterte Sanktionsregelung gegen die belarussischen Behörden, die für diesen hybriden Angriff verantwortlich sind, zu billigen“, sagte von der Leyen. Die EU arbeite insbesondere daran, Fluggesellschaften von Drittstaaten zu sanktionieren, die am Transport von Menschen nach Belarus beteiligt seien. EU-Kommissionsvize Margaritis Schinas sagte, er werde in den kommenden Tagen in die Herkunfts- und Transitländer der Migranten reisen.

Nach dem jüngsten Andrang von Flüchtlingen schloss Polen einen Grenzübergang zu Belarus. Am Dienstag um 7.00 Uhr sei der Grenzverkehr für Waren und Personen am Übergang Kuznica eingestellt worden, teilte der Grenzschutz über Twitter mit. Reisende wurden gebeten, auf die Grenzübergänge in Terespol und Bobrowniki auszuweichen – rund 230 bzw. 70 Kilometer von Kuznica entfernt. Am Montag hatten größere Gruppen von Geflüchteten in der Nähe von Kuznica vergeblich versucht, die EU-Außengrenze von belarussischer Seite aus zu durchbrechen. Die polnische Armee stationierte 12.000 Soldaten an der Grenze.

Flüchtlinge an der Grenze zwischen Polen und Belarus, darüber ein Hubschrauber
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Flüchtlinge an der Grenze von Polen und Belarus werden von einem Hubschrauber aus beobachtet

Der polnische Regierungschef Mateusz Morawiecki sieht die EU durch den Andrang Tausender Migranten und Migrantinnen in Gefahr. „Heute steht die Stabilität und Sicherheit der gesamten EU auf dem Spiel“, schrieb Morawiecki am Dienstag auf Twitter. Die Regierung in Minsk wies derweil Anschuldigungen zurück, den Andrang von Geflüchteten an der Grenze gezielt herbeizuführen.

Tausende harren an der Grenze aus

Nach Erkenntnissen der polnischen Behörden halten sich gegenwärtig zwischen 3.000 und 4.000 Geflüchtete im belarussisch-polnischen Grenzgebiet auf – viele kommen aus Krisengebieten wie Afghanistan und dem Irak. Auf dem Staatsgebiet des autoritär regierten Nachbarlandes seien insgesamt sogar mehr als 10.000 Menschen, die die Grenze überqueren wollten. Der belarussische Grenzschutz sprach am späten Nachmittag von 2.000 Menschen, die die Grenze zu Polen überqueren wollten. Darunter seien Frauen und Kinder. Nach Angaben des UNO-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) kamen schon mindestens acht Flüchtlinge an der Grenze ums Leben.

Auf am Montagabend in sozialen Netzwerken veröffentlichten Videos war zu hören, wie polnische Beamte Menschen in einem provisorischen Zeltlager über Lautsprecher vor illegalen Grenzübertritten in die EU warnten. Staatsnahe belarussische Medien berichteten unter Berufung auf den Grenzschutz des autoritär geführten Landes von angeblichen Schüssen auf polnischer Seite. Aus Polen gab es dazu zunächst keine offiziellen Angaben.

Litauen verhängt Ausnahmezustand

Litauen will angesichts der zugespitzten Lage an der EU-Außengrenze zu Belarus für einen Monat den Ausnahmezustand in der Grenzregion verhängen. Die Regierung des baltischen EU-Landes legte dem Parlament in Vilnius am Dienstag einen entsprechenden Beschluss zur Billigung vor. Das Kabinett folgte damit einem Vorschlag von Innenministerin Agne Bilotaite.

Der Ausnahmezustand soll ab Mitternacht entlang der Grenze zu Belarus und fünf Kilometer landeinwärts gelten sowie in den Migrantenunterkünften in Kybartai, Medininkai, Pabrade, Rukla und Vilnius. Dort kam es am Montag zu Unruhen – in einem Lager wurde Tränengas eingesetzt.

Knaus warnt vor „Wettbewerb der Brutalität“

Der Migrationsexperte Gerald Knaus brachte in der ZIB2 einen Migrationspakt nach dem Vorbild des EU-Türkei-Deals ins Spiel. Die Union solle mit Partnern wie der Ukraine, Moldawien und Georgien vereinbaren, dass diese Staaten die Menschen aufnehmen und Asylverfahren durchführen. Mit diesem „Antierpressungspakt“ würde die EU nämlich ein Signal an Menschen senden, „sich nicht nach Minsk locken zu lassen“.

Migrationsforscher Knaus zur Lage in Belarus

Migrationsforscher Gerald Knaus spricht über die Situation an der Grenze Polens zu Belarus. Knaus konzipierte vor fünf Jahren den Flüchtlingspakt zwischen der EU und der Türkei.

Knaus warnte zugleich vor einem „Wettbewerb der Brutalität“ mit dem Regime in Minsk. Dass die polnischen Behörden weder Frontex noch Hilfsorganisationen in die Region ließen, „lässt befürchten, dass hier systematisch von Grenzschützern EU-Recht gebrochen wird und dass man niemanden dabeihaben will, der das bemerkt“.

Zeitung: Deutlich mehr Flüge aus Nahost

Der deutschen „Welt am Sonntag“ zufolge hat Belarus zuletzt die Zahl der Flüge aus dem Nahen Osten nach Minsk deutlich erhöht. Laut den neuesten Landeplänen des Flughafens in der belarussischen Hauptstadt seien bis März wöchentlich rund 40 Flüge aus Istanbul, Damaskus und Dubai geplant. Diese drei Flughäfen würden derzeit am häufigsten von flüchtenden Menschen für Direktflüge nach Belarus genutzt, um von dort Richtung EU weiterzureisen.

Laut „Welt“ könnten demnächst zudem fünf weitere Flughäfen in Belarus vom Nahen Osten aus angeflogen werden. Sie würden den Angaben zufolge von nationalen zu internationalen Airports umgewidmet. Einer der Flughäfen liege nur 20 Kilometer von der polnischen Grenze entfernt in Grodno.

Migranten stehen vor Zaun bewacht von Polizisten
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Die Lage der Flüchtlinge verschlechtert sich zusätzlich durch den nahenden Winter

Putin hinter Lukaschenko

Die EU erkennt den belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko seit der umstrittenen Präsidentenwahl im vergangenen Jahr nicht mehr als Staatsoberhaupt an. Unterstützt wird der „letzte Diktator Europas“, wie ihn Kritiker nennen, von Russlands Präsident Wladimir Putin.

Die EU wirft dem autoritär regierenden Lukaschenko vor, Flüchtlinge aus dem Nahen Osten gezielt in die EU zu schleusen, um auf diese Weise Vergeltung für europäische Sanktionen zu üben. „Die Lage an der Ostgrenze ist beispiellos und von einem komplett skrupellosen, aggressiven Regime verursacht“, sagte EU-Innenkommissarin Ylva Johansson der „Welt am Sonntag“.

Weber sieht auch neuen Erpressungsversuch der Türkei

Auch der Fraktionschef der Europäischen Volkspartei im Europaparlament, der CSU-Politiker Manfred Weber, sprach sich für „verschärfte Sanktionen gegen Lukaschenko und sein Umfeld“ aus. „Die europäische Botschaft muss sein: Es reicht!“, sagte Weber der deutschen „Bild“ (Dienstag-Ausgabe). Die EU-Reaktion auf Lukaschenkos Vorgehen müsse „geschlossen und entschlossen“ sein.

Migranten wärmen sich an einem Lagerfeuer
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Flüchtlinge sitzen in Belarus teils seit Wochen in der Grenzregion zu Polen fest

Kritisch äußerte sich Weber mit Blick auf die Türkei – eines der Länder, von denen aus Migranten mit Flügen nach Belarus gelangten. „Wenn der türkische Präsident (Recep Tayyip) Erdogan nun mittels zahlreicher Migrantenflüge aus der Türkei nach Belarus neue Erpressungsversuche gegen die EU unternimmt, braucht es eine unmissverständliche Antwort“, sagte Weber. „Damit wird er genauso scheitern wie mit seinem Versuch, Migranten über die griechisch-türkische Grenze zu schleusen. Die Kommission muss umgehend Gespräche mit der türkischen Regierung aufnehmen.“

Ruf nach europäischem Krisenstab

Bundeskanzler Alexander Schallenberg (ÖVP) versicherte Polen der „vollen Solidarität in diesen schwierigen Zeiten“. „Wir werden nie akzeptieren, dass Migranten von dem Regime in Belarus als Waffen instrumentalisiert werden!“, so der Kanzler am Montagabend in einem auf Englisch verfassten Tweet. Laut Europaministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) will Belarus die EU „erpressen“ und „gezielt spalten“. Gebot der Stunde sei daher, die EU-Länder an der Außengrenze umfassend zu unterstützen.

Die außenpolitische Sprecherin der Grünen im österreichischen Parlament, Ewa Ernst-Dziedzic, forderte angesichts der drohenden Eskalation indes die sofortige Einrichtung eines europäischen Krisenstabs, außerdem sollten Frontex, die Asylbehörde EASO und das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen eingeschaltet werden.

EU bot Polen bereits mehrfach Hilfe an

Auch der geschäftsführende deutsche Innenminister Horst Seehofer forderte Engagement aus Brüssel: „Wir müssen der polnischen Regierung bei der Sicherung der Außengrenze helfen“, sagte der CSU-Politiker der „Bild“ (Dienstag-Ausgabe). „Das wäre eigentlich Aufgabe der EU-Kommission. An die appelliere ich jetzt, dass sie aktiv wird.“ Die Situation könnten Polen und Deutschland nicht alleine bewältigen.

Migranten stehen vor einem Maschendrahtzaun, dieser wird auf der anderen Seite von Sicherheitskräften bewacht
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Polen hat die EU-Außengrenze zu Belarus über weite Strecken mit Stacheldraht abgesichert

Die EU-Kommission hat jedoch nach eigener Aussage Polen bereits mehrfach ermuntert, Hilfe anzunehmen. Die EU-Grenzschutzagentur Frontex, EASO und die Polizeibehörde Europol stünden bereit, bei der Registrierung von Migranten, der Bearbeitung von Asylgesuchen und dem Kampf gegen Schmuggel zu helfen, hieß es am Montag. Polen müsse diese Hilfe jedoch anfordern.

Zuvor hatte sich auch das US-Außenministerium „besorgt“ über die Lage an der polnisch-belarussischen Grenze gezeigt, das Verteidigungsbündnis NATO kündigte den betroffenen Bündnisstaaten Unterstützung an.