Ein Warnschild für Radioaktivität
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„Mini-AKWs“

Die Verniedlichung der Atomkraft

Weltweit laufen derzeit Dutzende Projekte zur Entwicklung von SMRs („Small Modular Reactors“, kleinen Reaktoren). Diese „Mini-AKWs“ sind die neuen Hoffnungsträger von Atomindustrie und -staaten, entsprechend werden sie als flexibler, billiger und sicherer vermarktet als konventionelle Großreaktoren. In den Hintergrund tritt dabei, dass die Grundproblematik der Atomkraft genauso vorhanden ist.

„Mini-AKW mag nett klingen“, sagt Günter Pauritsch, Leiter des Centers für Energiewirtschaft und Infrastruktur der Österreichischen Energieagentur, im Gespräch mit ORF.at. Der Name täusche aber darüber hinweg, dass es ein Kraftwerk bleibe, von dem dieselben Sicherheitsrisiken ausgingen. Zwar würde im Fall eines Unfalls oder einer Kernschmelze – ob der geringeren Größe der SMRs – weniger nukleares Material freigesetzt. Um aber die Leistung eines großen Kraftwerks zu ersetzen, brauchte es eine Vielzahl an SMR-Anlagen, was wiederum die Gefahren potenzieren würde.

Mehr Reaktoren, so Pauritsch, würden mehr potenzielle Fehlerquellen darstellen und etwaigen Terroranschlägen eine breitere Angriffsfläche bieten. Mini-AKWs seien somit „viel weniger elegant“, als ihr Name suggeriere. Außerdem gab Pauritsch zu bedenken, dass SMRs derzeit in Europa und den USA nur „Konzepte“ seien, Vorhaben also, deren Funktionstüchtigkeit, Sicherheit und wirtschaftliche Rentabilität in den Sternen stünden.

Schwächer, dafür günstiger

Weltweit gibt es derzeit Dutzende Projekte zur Entwicklung der Mini-AKWs. Die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) definiert SMR-Anlagen als Atomreaktoren mit einer Leistung von maximal 300 Megawatt (MW), in Großkraftwerken kommen Reaktoren im Vergleich auf über 1.000 MW mehr.

SMR haben aber den Vorteil, in Serie gebaut werden zu können, was im Regelfall eine kürzere Bauzeit und geringere Kosten mit sich bringen sollte. Die Anlagen könnten in der Fabrik vormontiert und anschließend an den Standort transportiert werden. Fachleute schätzen, dass eine Anlage mit 300 MW für rund eine Milliarde Euro möglich sein wird.

Ansicht des Reaktors in Flamanville in der Normandie
Reuters/Benoit Tessier
Die Erweiterung des französischen Reaktors Flamanville ist zu einem scheinbar unendlichen Projekt geworden

Milliardengräber Flamanville und Hinkley Point

Konventionelle Atomkraftwerke entwickelten sich in letzter Zeit dagegen oft zum „GAU“, wie auch die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ („FAZ“) schrieb. An dem Reaktorblock Flamanville drei in der Normandie mit einer vorgesehenen Leistung von 1.600 MW baut der französische Energiekonzern EDF bereits seit 2007. Fertig wird der neue Reaktor nach derzeitiger Schätzung frühestens 2023. Die erwarteten Baukosten haben sich in den vergangenen 14 Jahren auf zwölf Milliarden Euro fast vervierfacht. Ähnliche Kostenexplosionen und Verzögerungen gibt es beim Bau des Reaktorblocks „Olkiluoto 3“ in Finnland.

Ganz zu schweigen von dem britischen Atomkraftwerk Hinkley Point C: Londons Regierung gab vor fünf Jahren grünes Licht für den ersten Bau eines Kernkraftwerks in der EU – zu der Großbritannien damals noch gehörte – seit der Katastrophe im japanischen Fukushima 2011. Die ursprünglich veranschlagten Kosten sind bis jetzt um über vier Milliarden auf bis zu 22,5 Milliarden Pfund (24,56 Mrd. Euro) gestiegen. Klagen Österreichs und anderer Staaten vor dem Europäischen Gerichtshof gegen die von der EU-Kommission gebilligten, milliardenschweren Staatssubventionen für das Großprojekt scheiterten.

Atomkraftwerke in Europa

Russischer Vorreiter auf See

Finanzielle Gründe für den Bau von Mini-AKWs sind für Pauritsch allerdings auch fragwürdig – er verweist dabei auf den den Berechnungen zugrundeliegenden, umgekehrten Skaleneffekt: Galten große Meiler bisher als wirtschaftlicher, weil man durch den Mengeneffekt Geld sparen könnte, würde jetzt das Gegenteil suggeriert. Plausibel sei das nicht. Ebenso wenig wie die Bezeichnung „kleine“ Reaktoren – den Konzepten zufolge sollen durch SMR immerhin Zweimillionenstädte mit Strom versorgt werden können.

Vorreiter für die SMR sind auf der „Akademik Lomonossow“ zu finden: Das Schiff mit zwei Atomreaktoren an Bord liegt in der Hafenstadt Pewek im Fernen Osten Russlands, wo es seit eineinhalb Jahren für die Stromversorgung der örtlichen Bevölkerung und Wirtschaft sorgt. Der staatliche Betreiber Rosatom plant, 2028 seinen ersten Minireaktor an Land zu bauen. Für Pauritsch hat das allerdings wenig Relevanz: „Wollen wir in Europa wirklich Reaktoren nach russischem Vorbild?“

Endlagerung bleibt ungelöst

Die Bedeutung der Atomkraft schwindet indessen weltweit: Ihr Anteil an der Stromerzeugung beträgt nur noch rund zehn Prozent, bei der gesamten Energieversorgung seien es lediglich drei Prozent. Pauritsch: „Atomkraft ist nicht in der Lage, einen signifikanten Beitrag zu leisten.“ Zudem sei „auch nach 70 Jahren noch ungelöst“, wie und wo der radioaktive Abfall über Jahrhunderte endgelagert werden soll.

Eindrücklich sei das am Beispiel Gorleben zu sehen: Das Bergwerk in Niedersachsen war trotz heftiger Proteste jahrzehntelang als mögliches künftiges Endlager für deutschen hochradioaktiven Atommüll betrachtet und entsprechend erforscht worden. Wegen nicht ausräumbarer Zweifel an der geologischen Eignung wurde es im Vorjahr von der Liste potenzieller Standorte genommen, diesen September erfolgte der Beschluss zur endgültigen Stilllegung.

Atommüllendlager bei Gorleben
APA/AFP/Nigel Treblin
Nach jahrzehntelangen Konflikten wird das Kapitel Gorleben bald endgültig geschlossen sein

„Geopolitische und militärische Interessen“

Das deutsche Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (BASE) ließ unlängst ein Gutachten zu SMR erstellen – das Resümee fällt kritisch bis ernüchternd aus. Darin wird auch festgestellt, dass sich am Festhalten an der Atomkraft „eine Vielzahl von Motivlagen, unter anderem industrielle und wirtschaftliche Entwicklung und geopolitischer Einfluss“ vermengen würden.

„Auch im Bereich SMR spielen industrie-und geopolitische Motivlagen sowie militärische Interessen eine Rolle. Die Mehrheit der Länder, die SMR-Entwicklungsaktivitäten verfolgen, unterhalten Kernwaffenprogramme und bauen Atom-U-Boote und/oder verfügen bereits über ein großes kommerzielles Atomprogramm.“ Darauf verwies auch Pauritsch – Länder wie Großbritannien und Frankreich, wo Präsident Emmanuel Macron unlängst eine Milliarde Euro zur Förderung der Atomkraft angekündigt hat, wären dafür Beispiele. Die zivile Nutzung der Atomkraft sei dabei Rechtfertigung für die militärische.

Grüner Mantel

Derzeit schlagkräftigstes Argument der Atombefürworter ist der Klimaschutz: Ein Drittel der Treibhausgasemissionen weltweit kommt aus der Stromproduktion, Nuklearreaktoren stoßen hingegen kein CO2 aus. Ohne Atomstrom, wird argumentiert, könne die EU nicht wie geplant bis 2050 klimaneutral werden. Und ein weiterer Vorteil von Atomstrom wird ins Treffen geführt: AKWs würden, anders als Erneuerbare Energien, verlässlich Strom liefern, auch im dunklen Winter oder an windstillen Tagen.

Für Pauritsch und viele andere Fachleute sind das allerdings kümmerliche Argumente: Von Co2-Neutralität könne keine Rede sein, beim Abbau und Transport des Spaltmaterials, meist Uran, und beim Bau des Kraftwerks würden sehr wohl Klimagase anfallen, ebenso beim Abbruch der Anlage sowie bei der Lagerung des radioaktiven Abfalls. Zudem dauere es viel zu lange, neue Atomkraftwerke zu entwickeln und zu bauen, als dass diese die Abkehr von der Verbrennung fossiler Energieträger wie Kohle, Öl und Erdgas beschleunigen könnten.

Spaltkraft innerhalb der EU

Wie groß die Kluft in dieser Frage ist, zeigt sich innerhalb der EU und dem Ringen um die Taxonomie – darin werden Wirtschaftstätigkeiten als nachhaltig eingestuft, wenn sie zu einem von sechs definierten Umweltzielen, wie Klimaschutz oder Kreislaufwirtschaft, beitragen und keinem der Zielbereiche signifikant schaden („Do no significant harm“-Prinzip). Eine Mehrheit der EU-Staaten will die Atomkraft in den Rechtstext aufgenommen wissen, besonders Frankreich übte zuletzt erheblichen Druck aus.

Dagegen stemmen sich unter anderem Deutschland und Österreich: Sie legten kürzlich in Brüssel ein Rechtsgutachten vor, das die Aufnahme von Atomkraft in die Taxonomie als „vor den EU-Gerichten anfechtbar“ einstufte. Zumindest vorläufig dürfte das Match aber zugunsten der Atombefürworter ausgehen, wie die eben aus dem Amt geschiedene deutsche Kanzlerin Angela Merkel (CDU) jüngst festhielt: Der Vorschlag zur Aufnahme in die Taxonomie könne nur abgelehnt werden, wenn 20 EU-Mitglieder mit Nein stimmen würden: „Das ist eine sehr hohe Hürde und ist voraussichtlich nicht der Fall.“