Ärztin impft gegen das Coronavirus
Reuters/Hannibal Hanschke
Deutschland

Ruf nach Impfpflicht für bestimmte Gruppen

Angesichts der weiter steigenden CoV-Neuinfektionszahlen und des Inzidenzwerts drängt die deutsche Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina auf die Ausweitung von 2-G-Regeln und Impfpflichten für bestimmte Berufsgruppen. Nötig seien jetzt „Impfpflichten für Multiplikatoren“, sagte Leopoldina-Präsident Gerald Haug dem „Spiegel“. Das seien nicht nur Pflegerinnen und Pfleger, sondern auch Lehrpersonal und weitere Berufsgruppen mit viel Kontakt zu anderen Menschen.

Die 2-G-Regel, wonach nur geimpfte oder genesene Menschen Zutritt zu Veranstaltungen bekommen, solle „eine größere Geltungsreichweite“ erhalten, forderten Haug und die Leopoldina-Forscherinnen und -Forscher weiter. In der Arbeitsschutzverordnung solle zudem „eine angemessene Regelung zur Offenlegung des Impfstatus“ von Beschäftigten festgeschrieben werden. Bisher dürfen Arbeitgeber den Impfstatus ihrer Beschäftigten nicht erfragen.

Die Forderungen der Leopoldina gehen deutlich über die Pläne der „Ampelparteien“ SPD, Grüne und FDP hinaus, über die am Donnerstag im Bundestag beraten werden soll. Darin ist etwa eine Impfpflicht für bestimmte Gruppen nicht vorgesehen, die Ausweitung von 2-G-Regeln soll weitgehend den Ländern überlassen werden.

Täglich neue Höchstwerte bei Inzidenz

Die deutschlandweite Inzidenz erreichte nach Angaben des Robert-Koch-Instituts (RKI) von Mittwochfrüh mit 232,1 erneut einen Rekordwert. Die Zahl der Neuinfektionen stieg auf 39.676 innerhalb von 24 Stunden. Auch die Zahl der Todesfälle von CoV-Infizierten stieg sehr stark auf 236 innerhalb eines Tages.

Drosten: 3-G und 2-G vermutlich nicht ausreichend

Kurzfristig müsse man wieder Maßnahmen diskutieren, „die wir eigentlich hofften, hinter uns zu haben“, sagte auch der Berliner Virologe Christian Drosten im NDR-Podcast „Das Coronavirus-Update“, der am Dienstagabend veröffentlicht wurde. „Wir müssen also jetzt die Infektionstätigkeit durch Kontaktmaßnahmen wahrscheinlich wieder kontrollieren – nicht wahrscheinlich, sondern sicher“, sagte der Virologe. Er schränkte allerdings ein, dass es juristisch schwer sein könnte, breite allgemeine Kontaktbeschränkungen durchzusetzen.

Drosten erwartet einen sehr anstrengenden Winter „mit neuen, sagen wir ruhig: Shutdown-Maßnahmen“. Maßnahmen wie 3-G und selbst 2-G reichten vermutlich nicht aus, um angesichts der Delta-Variante die Zahl der Infektionen genug zu senken. Er sprach von einer „echten Notfallsituation“ angesichts der Lage auf den Intensivstationen. „Wir müssen jetzt sofort etwas machen.“

2-G Plus als möglicher Standard für den Winter?

Auch andere Forscher haben Vorschläge, wie der aktuellen CoV-Welle beizukommen ist. „2-G plus Test dürfte Standard werden über den Winter“, sagte Hajo Zeeb vom Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie in Bremen. Das würde bedeuten, dass nur Geimpfte und Genesene Zutritt zu bestimmten Orten haben und zusätzlich getestet sein müssen.

2G-Hinweis auf Lokaltür in Berlin
Reuters/Christian Mang
Die 2-G-Regel ist in Deutschland noch nicht verpflichtend, wird aber diskutiert

Denn auch Geimpfte und Genesene (2-G) könnten sich infizieren. „Es ist dringend nötig, dass wir vom Entspannungsmodus in den Ernsthaftigkeitsmodus zurückkehren, leider auch alle Geimpften.“ Einige besonders stark betroffene Bundesländer haben in den vergangenen Tagen ihre CoV-Regeln schon verschärft.

Gerade mit Blick auf den Schutz besonders bedrohter Menschengruppen führt aus Sicht von Zeeb kein Weg an einer Impfpflicht – samt Boosterpflicht – für Pflege- und medizinische Berufe vorbei. Auch die Impfgeschwindigkeit müsse dringend wieder deutlich angehoben werden, forderte er. „Ob es ohne Impfzentren geht, täglich ein Prozent der Bevölkerung zu impfen wie im Sommer 2021, da bin ich skeptisch.“ Fuhrmann sprach sich dafür aus, den Betroffenen zumindest zeitnah eine Auffrischungsimpfung anzubieten.

Menschenschlange vor einem Impfbus in Stuttgart
APA/AFP/Thomas Kienzle
Drohende Verschärfungen sorgen auch in Deutschland wieder für einen Andrang bei den Impfbussen

Gefahr auch für Geimpfte

Auch vollständig Geimpften müsse deutlicher als bisher vermittelt werden, dass sie sich noch anstecken und die Infektion weitergeben können und dass in Einzelfällen auch ein schwerer Verlauf möglich ist, sagte Jan Fuhrmann, Experte für mathematische Epidemiologie an der Universität Heidelberg. Reine 2-G-Regeln etwa beim Einlass in Restaurants sind auch aus Fuhrmanns Sicht nicht die Lösung, wenn es um die Eindämmung der Infektionsausbreitung geht – solange sie nicht durch eine zusätzliche Testpflicht auch für Geimpfte und Genesene begleitet werden.

Eine Zielvorgabe für Impfquoten ist nach Angaben des Mathematikers praktisch nicht mehr anzugeben, wenn es darum geht, Infektionen zu vermeiden. „Die Delta-Variante ist so ansteckend, dass auch eine nahezu vollständige Durchimpfung nicht zu einer Ausrottung der Krankheit führen würde, zumal die Wirksamkeit der Impfstoffe gegen die reine Infektion innerhalb weniger Monate nachlässt.“

Der Schutz vor schwerer Erkrankung halte hingegen deutlich länger an, auch wenn er nicht perfekt sei. „Es wird immer einen kleinen Teil der Geimpften geben, die trotz Impfung schwer erkranken können“, fasste er zusammen: „Bei vielen Millionen Geimpften macht eben auch dieser kleine Teil Zehn- oder gar Hunderttausende Menschen aus.“

Klare Kommunikation und Zielvorgaben gefordert

Viola Priesemann vom Göttinger Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation ist es wichtig, dass Politiker und Politikerinnen vor allem das Ziel ihrer Strategie klar kommunizieren. Dann könne man die Maßnahmen darauf einstellen. „Ist das Ziel nicht definiert, dann verpuffen einige der Maßnahmen“, sagte die Forscherin. Bei der Strategie stelle sich die Frage, „ob wir über viele Wochen am Limit der Intensivstationen bleiben sollen oder die Belastung dort verringert werden soll mit entsprechend stärkeren Maßnahmen“.

„Beides sind realistische Szenarien, denn das Impfen und Boostern wird einige Zeit dauern, bis es seine Wirkung entfaltet“, so Priesemann. Bei der aktuellen Impfgeschwindigkeit von 0,2 Prozent der Bevölkerung pro Tag dauere es zudem Monate, um wie in Israel die Hälfte der Menschen mit Boostern zu erreichen. „Ein wirklich zügiges, niedrigschwelliges Impfen und Boostern würde hier – genauso wie in Israel – mit großer Sicherheit die aktuelle Welle brechen.“