Bücher und Geschenke
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Romanempfehlungen

Die Besten für stille Nächte

Das letzte Halbjahr hat wieder eine Palette an Romanen hervorgebracht, die auf ganz unterschiedliche Weise glänzen: Die Empfehlungen der Redaktion von ORF.at reichen von eindringlichen Milieustudien über unterhaltsame Künstlerporträts bis zu poppigem Coming-of-Age.

Unsterbliche Romanfiguren

Im englischsprachigen Raum als „Buch des Jahres“ gefeiert, ist der neue Roman des Briten Chris Whitaker tatsächlich eine jener Familiengeschichten, deren Figuren einen noch lange begleiten. Die 13-jährige Duchess, die in einem Küstenstädtchen in Kalifornien lebt, ihr Bruder Robin, ihre Mutter Star, die die Ermordung der eigenen Schwester nie verwunden hat, und Vincent, der für eben diesen Mord angeblich verantwortlich war. Als Vincent aus der Haft entlassen wird, folgt eine Reihe von denkwürdigen Ereignissen. Wer „Der Gesang der Flusskrebse“ mochte, wird „Von hier bis zum Anfang“ lieben. (Sonia Neufeld, ORF.at)

Chris Whitaker: Von hier bis zum Anfang. Aus dem Englischen von Conny Lösch. Piper, 448 Seiten, 22,95 Euro.

Transkulturelles Künstlerinnenporträt

„Ein mit Schatten begrenzter Raum“ ist der erste Roman der preisgekrönten Schriftstellerin Emine Sevgi Özdamar nach 17 Jahren. Özdamar, die auch als bildende Künstlerin, Schauspielerin und Dramaturgin arbeitet, verarbeitet darin ihre Lebensgeschichte, erzählt aus der Perspektive einer namenlosen jungen Frau. Diese verlässt in den 1970er Jahren Istanbul, um Schauspielerin zu werden und pendelt – wie auch Özdamar selbst – regelmäßig von West- nach Ostberlin. Ein Grenzübertritt als Zeitreise: „Die Mauer war nicht aus Stein, sondern aus Zeit“, heißt es an einer Stelle ihres Romans. Es ist ein extrem dichtes, intensives Leben, das Özdamar auf 800 Seiten ausbreitet. (Imogena Doderer, ORF-TV-Kultur)

Emine Sevgi Özdamar: Ein von Schatten begrenzter Raum. Suhrkamp, 763 Seiten, 28,80 Euro.

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Gefangen in der „Allneunziger“-Zeitschleife

Poppig-mitreißend und nicht zuletzt bestechend klug: In „Die verschissene Zeit“ erzählt die in Belgrad geborene Wienerin Barbi Markovic („Superheldinnen“) vom kriegsgebeutelten Balkan der 90er Jahre in Form einer surrealen Abenteuergeschichte. Drei jugendliche Außenseiter schlagen sich in Belgrad nicht nur mit einem gewalttätigen Vater, Hunger und der Pubertät herum, sondern auch mit einer „Allneunziger“-Zeitschleife, verursacht von einem Zeitmaschinenunfall. Um den Bann zu brechen, sollen die Kids ein Medaillon stehlen. Mit witzig-deftigen Schimpftiraden hat die Geschichte das Thema Kriegstrauma als tief berührenden Hintergrund. (Paula Pfoser, ORF.at)

Barbi Markovic: Die verschissene Zeit. Residenz, 304 Seiten, 24 Euro.

Mit Witz, Charme und Flip-Flop-Geräuschen

Lambert, ein ehemals erfolgreicher Geräuschemacher für Film und Fernsehen, verliert durch einen Golfballtreffer am Kopf das Gehör. Dieser moderne und aberwitzige Nachfolger Beethovens – von dem man erfährt, dass Flip-Flops ideal Raumschiffantriebe und zerplatzende Weintrauben Gewehrschüsse vertonen können – erkundet in Hanno Millesis aktuellem Roman seine persönliche Geschichte und die Stadt Z., die wie ein verkommendes Wien wirkt. Wie elegant und unterhaltsam Millesi hier anhand seines skurrilen Helden den digitalen Strukturwandel und gesellschaftliche Umbrüche transportiert, ist beachtlich. (Florian Baranyi, ORF.at)

Hanno Millesi: Der Charme der langen Wege. Edition Atelier, 183 Seiten, 20 Euro.

Die „Sprengung eines Schweigebergs“

Alois Hotschnigs verstörender Roman basiert auf einer wahren Lebensgeschichte. In „Der Silberfuchs meiner Mutter“ wird die Geschichte des Nationalsozialismus in Bezug zu einer schuldhaften Familiengeschichte gestellt. Berichtet wird aus der Perspektive des Sohnes. Es geht um das Heranwachsen mit einer fremden Mutter, die Ablehung von Stief- und leiblichem Vater, die Flucht ins Schauspiel. Eine Kindheit geprägt von Entbehrungen, psychischer Gewalt und Unsicherheiten. Der Text macht die tiefgreifende Zerstörung durch die Geschichte anschaulich und die Notwendigkeit des Erzählens deutlich. „Der Berg zwischen uns, der ist aufgeschüttet, den gilt es zu bearbeiten“, kommentiert der Autor sein eigenes Werk. Die „Sprengung aus diesem Schweigeberg“ kann als einer der zentralen Romane des Jahres 2021 gesehen werden.
(Imogena Doderer, ORF-TV-Kultur)

Alois Hotschnig: Der Silberfuchs meiner Mutter. Kiepenheuer und Witsch, 168 Seiten, 19,95 Euro.

Eine Reliquie hat einen Schuss

Ein Revolver als Reliquie? Wie passt das mit allen Mythen der Geburt eines Heilands und der Erlösungsgeschichte zusammen? Die in Wien lebende deutsche Autorin Anna Albinus hat mit ihrer Novelle „Revolver Christi“ eines der beachtlichsten Debüts dieses Jahres hingelegt und dafür zu Recht, wie viele finden, den Nachwuchspreis im Rahmen des Österreichischen Buchpreises geholt. Man ersetze das Konzept der Reliquie durch ein sehr verfremdetes, zugleich auch phallisches Motiv – wiederhole aber sonst alle Anbetungsrituale. Und lasse die Reliquie nicht nur wohltätig, sondern auch mörderisch sein. Eine Metapher auch auf Macht oder Ohnmacht der Glaubens. (Gerald Heidegger, ORF.at)

Anna Albinus: Revolver Christi. Novelle. Edition foto Tapeta, 80 Seiten, 15,50 Euro.

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Comeback eines Gescheiterten

Der US-Schauspieler Ethan Hawke hat sich im Laufe der Jahre nicht nur als Charakterdarsteller, sondern auch als talentierter Schriftsteller einen Namen gemacht. In seinem jüngsten Roman schreibt er – ja, über sich selbst. Ein erfolgreicher Schauspieler fährt durch seine Untreue die Ehe mit einer ebenfalls berühmten Sängerin an die Wand und suhlt sich zunächst in Selbstmitleid. Wie der Gescheiterte den Weg zurück in ein besseres Leben findet, ist mitreißend und überzeugend erzählt. Man kann sich dem Urteil der Punkrockikone und Lyrikerin Patti Smith nur anschließen: „‚Hell strahlt die Dunkelheit‘ ist ein großartiger Roman.“ (Sonia Neufeld, ORF.at)

Ethan Hawke: Hell strahlt die Dunkelheit. Aus dem Englischen von Kristian Lutze. Kiepenheuer & Witsch, 336 Seiten, 23,95 Euro.

Ausweitung der Spielräume im Nachkriegsitalien

Alba de Cespedes war in der italienischen Resistenza aktiv und schuf mit ihren Romanen das Fundament für die Befragung weiblicher Identitäten etwa im Schreiben einer Elena Ferrante. In „Das verbotene Notizbuch“ schildert die Enkelin des ersten kubanischen Präsidenten das unscheinbare Leben von Valeria. In einem heimlich geführten Tagebuch reflektiert sie die engen Spielräume, die das Nachkriegsitalien ihr als Ehefrau, „mamma“ und Büroangestellte zudenkt – bis sie beginnt, diese auszudehnen. 69 Jahre dauerte es bis zur deutschen Übersetzung dieses Romans, die hoffentlich die Wiederentdeckung von Cespedes umfangreichem Werk einläutet. (Florian Baranyi, ORF.at)

Alba de Cespedes: Das verbotene Notizbuch. Aus dem Italienischen von Verena von Koskull. Insel, 302 Seiten, 24,70 Euro.

Scherben und Granatäpfel

Ein Mann fällt von der Leiter, beim Beschneiden des Granatapfelbaums im Garten. Seine Frau ruft die Rettung. Doch zwischen diesen beiden Ereignissen liegt mehr Zeit, als sie sollte, und der Grund dafür füllt einen ganzen Roman: Barbara Frandinos „Das hast du verdient“ ist die Geschichte einer Liebe voll zärtlicher Rituale, die irgendwann müde wird, zerbricht und nach einer bedeutungslosen Affäre neuen Schwung aufnimmt – allerdings in die Gegenrichtung. Frandino ist ein im besten Sinne unangenehmes, grandios kühles Buch gelungen über die alltägliche Grausamkeiten, die einander nur Liebende antun können. (Magdalena Miedl, für ORF.at)

Barbara Frandino: Das hast du verdient. Aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl. Folio, 165 Seiten, 22 Euro.

Frauen und Hass im Netz

Dass Doris Knecht so einiges über Beziehungen weiß, beweist sie in ihrem neuen, sehr persönlichen Roman „Die Nachricht“ einmal mehr. Diesmal erzählt sie die Geschichte von Ruth, einer Frau, die nach einem Schicksalsschlag endlich ihr selbstbestimmtes Leben zurückerlangt hat. Bis sie plötzlich seltsame Nachrichten von einem Unbekannten erhält, der sie bedroht, verleumdet und ihre Souveränität ins Wanken bringt. Knecht thematisiert Frauenfeindlichkeit, Hass im Internet und die Ohnmacht der Betroffenen schonungslos und verhandelt eindrucksvoll ein inakzeptables Phänomen unserer Zeit. (Sonia Neufeld, ORF.at)

Doris Knecht: Die Nachricht. Hanser Berlin, 256 Seiten, 22,70 Euro.

Porträt einer vergessenen Kiez-Legende

Loriot bezeichnete ihn einmal als Geheimtipp, nun widmet Rocko Schamoni dem Maler, Grafiker und Satiriker Heino Jaeger eine Biografie. Darin nimmt Schamoni die Leserinnen und Leser nach seinem Bestseller „Große Freiheit“ erneut mit auf den glitzernden, verruchten Kiez – ins Hamburg der 1960er und 1970er Jahre. „Der Jaeger und sein Meister“ ist eine höchst unterhaltsame Lektüre und ein liebevolles Porträt des 1997 verstorbenen Hamburger Humoristen Jaeger und der schillernden und doch prekären Kulturszene von St. Pauli. (Romana Beer, für ORF.at)

Rocko Schamoni: Der Jaeger und sein Meister. Hanserblau, 288 Seiten, 22,70 Euro.

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Eine Mutter

Edouard Louis umkreist seit einigen Büchern die brutale Welt seiner Kindheit in einem heruntergekommenen, nordfranzösischen Dorf. Der aggressive, trinkende Vater; die katatonische Haltung seiner Mutter angesichts ihres Schicksals; seine Mitschüler, die ihn wegen der femininen Art drangsalieren; sie alle kennt man schon, nur der Fokus verschiebt sich von Buch zu Buch. Diesmal geht es um die Mutter – und um ihre späte Emanzipation. Punktgenau seziert Louis seine Beziehung zu ihr, kein Wort ist zu viel in diesem schmalen Band. Empathie und schonungslose Wahrheit können miteinander einhergehen. Louis beweist es einmal mehr. (Simon Hadler, ORF.at)

Edouard Louis: Die Freiheit einer Frau. Aus dem Französischen übersetzt von Hinrich Schmidt-Henkel. S. Fischer, 96 Seiten, 17,95 Euro.

Stricknadeln und düstere Hinterzimmer

Im Jahr 1963 war Abtreibung in Frankreich bei Strafe verboten. Annie Ernaux beschreibt, welchen Spießrutenlauf es für sie als junge Studentin aus einfachen Verhältnissen bedeutete, ihre ungewollte Schwangerschaft zu beenden. Schonungslos, direkt und ohne eine Spur von Scham berichtet Ernaux von dem Jahrzehnte zurückliegenden „Ereignis“ und einer archaisch anmutenden Epoche der Stricknadeln und düsteren Hinterzimmer. Meisterlich setzt die Autorin in gewohnter Art ihr jüngeres Ich ins Zentrum einer Geschichte, die weit über das Einzelschicksal hinausgeht. (Johanna Grillmayer, ORF.at)

Annie Ernaux: Das Ereignis. Aus dem Französischen von Sonja Finck. Suhrkamp, 104 Seiten, 18,95 Euro.

Missbrauchsgeschichte als Drahtseilakt

Es gibt kaum Heikleres, als einen Missbrauch aus der Perspektive des Täters zu erzählen – das wusste schon Vladimir Nabokov, als er „Lolita“ (1955) schrieb. Was die nicht binäre Autorin Marieke Lucas Rijneveld mit „Mein kleines Prachttier“ vorlegt, geht weit darüber hinaus: Der Tierarzt Kurt erzählt darin, wie er einen Sommer lang die 14-jährige Tochter eines Rinderbauern umgarnt, manipuliert und missbraucht. In Form einer an das Opfer gerichteten Abbitte lässt er tief in sein Inneres blicken. Literarisch versiert – nicht umsonst gewann Rijneveld schon den International Booker Prize – und schonungslos ist das Buch eine fordernde Lektüre, die einen nicht unverändert zurücklässt. (Florian Baranyi, ORF.at)

Marieke Lucas Rijneveld: Mein kleines Prachttier. Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen. Suhrkamp, 364 Seiten, 24,70 Euro.

Kampf, Liebe und Solidarität im Reservat

North Dakota, 1953: Die indigenen Chippewa schlagen sich auf dem Land, das der Staat ihnen zugewiesen hat, durch das karge Reservatsleben. Nachtwächter Thomas Wazhashk muss feststellen, dass die Regierung mit einem neuen Gesetz Übles im Schilde führt. Pixie Paranteau sucht ihre verschollene Schwester und blickt in einen Abgrund. In „Der Nachtwächter“ schafft Louise Erdrich das Porträt einer Gemeinschaft, die ihre alten Traditionen pflegt und sich gegen eine Übermacht zur Wehr setzt. Mit feinem Humor und wunderbar warmherzig erzählt sie eine Geschichte von Kampf, Liebe und Solidarität. (Johanna Grillmayer, ORF.at)

Louise Erdrich: Der Nachtwächter. Aus dem Englischen von Gesine Schröder. Aufbau, 496 Seiten, 24,95 Euro.