Bücher in einer Papierlandschaft
ORF.at/Zita Klimek
Krimis unterm Tannenbaum

Das Christkind braucht starke Nerven

Pageturner-Qualitäten, Gesellschaftskritik und literarischer Anspruch – die ORF.at-Redaktion empfiehlt ihre saisonalen Lieblingskrimis und -thriller. Von Frankreich über das verschneite Kanada bis hinein in die österreichischen Wälder nehmen neue Figuren, aber auch Publikumslieblinge Ermittlungen auf. Neben Entführungsstories und Mörderjagden überzeugen auch ungewöhnliche Erzählexperimente.

Die Weisheit des Hinterwäldlers

Im verschlafenen Nest Cardiff, Vermont, sieht Sheriff Lucian Wing nach dem Rechten. Hier geht es ruhig zu, die Menschen sind „ziemlich gesetzestreu“, das Einfangen eines verirrten Wildschweins ist das Highlight der Saison. Die Beschaulichkeit endet mit dem Auftauchen zwielichtiger Gestalten aus der Großstadt: Die Tochter eines undurchsichtigen Magnaten soll entführt worden sein. Doch Sheriff Wing ist skeptisch. – Wortkarge Raubeine, lebenskluge Ehefrauen und viel amerikanisches Landkolorit machen „Herren der Lage“ zur leichtfüßigen Lektüre – liebenswert altmodisch und auf erholsame Weise spannend. (Johanna Grillmayer, ORF.at)

Castle Freeman: Herren der Lage. Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren. Hanser, 192 Seiten, 20,95 Euro.

Spurensuche in Bordeaux

Ein Mann bittet eine Anwältin, die Verteidigung seiner Frau zu übernehmen. Sie hat die drei gemeinsamen Kinder getötet. Doch nicht so sehr der Fall bringt die Anwältin aus der Fassung, als die plötzlich auftauchende unscharfe Erinnerung an eine weit zurückliegende traumatische Begegnung mit diesem Mann, der nun in ihrer Kanzlei in Bordeaux steht. „Die Rache ist mein“ ist kritischer Gesellschaftsroman und fesselnder Thriller zugleich. Täuschung und Wirklichkeit verschwimmen zusehends, Erwartungen werden aufgebaut und laufen ins Leere – bis zum großen Finale. (Romana Beer, für ORF.at)

Marie NDiaye: Die Rache ist mein. Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer. Suhrkamp, 236 Seiten, 22,70 Euro.

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Wenn man Menschen dupliziert

Was für eine schöne, erkenntnistheoretische Science-Fiction-Parabel: Ein Passagierflugzeug muss durch ein Wetterloch und verdoppelt sich samt den Menschen an Bord. Eine physikalische Anomalie – aber was bedeutet sie für Individuen? Sind wir nun reale Originale oder programmiert und duplizierbar wie Figuren in Computerspielen? Höchst spannend wird auch durchdekliniert, was passiert, wenn ein Mensch in doppelter Ausführung um seine Existenz streitet. Wem gehört das Kind – und wem der Lover? Kein Krimi, aber lockere und gleichzeitig philosophische Spannungsliteratur, die international einer der großen Bestseller des Jahres war. (Simon Hadler, ORF.at)

Herve Le Tellier: Die Anomalie. Aus dem Französischen von Romy und Jürgen Ritte. Rowohlt, 352 Seiten, 22,95 Euro.

Literarischer Thriller aus Irland

Um seine Vergangenheit hinter sich zu lassen zieht der ehemalige Polizist Cal Hooper von Chicago in den Westen von Irland. Von den Dorfbewohnern wird er freundlich aufgenommen, die Renovierung seines alten Cottages schreitet gut voran. Doch plötzlich wird die ländliche Idylle gestört: Cal fühlt sich beobachtet und auf den umliegenden Farmen kommen auf seltsame Weise Tiere zu Tode. Die irische Autorin Tana French legt mit „Der Sucher“ einen literarischen Thriller vor, der große Fragen stellt: Wie wollen wir leben? Wie sollen wir handeln? Und wie weit gehen wir für das, was uns wichtig ist? (Sonia Neufeld, ORF.at)

Tana French: Der Sucher. Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. Fischer Scherz, 496 Seiten, 22,70 Euro.

Die Frau aus dem See

Baltimore in den 1960er Jahren: Eine schwarze Frau, die schon Monate zuvor von ihrer Familie als vermisst gemeldet wurde, wird tot in einem See gefunden. Weder die Polizei noch die Medien interessieren sich für den Fall. US-Bestsellerautorin Laura Lippmann klagt in „Wenn niemand nach dir sucht“ nicht nur strukturellen Rassismus an, sondern erzählt in diesem packenden Thriller auch die Geschichte einer Hausfrau, die den Fall der Frau aus dem See (Originaltitel: The Lady in the lake) aufklären will. Zu Recht schwer beeindruckt von Lippmans Plot-Twists zeigte sich Stephen King in der New York Times. (Romana Beer, für ORF.at)

Laura Lippmann: Wenn niemand nach dir sucht. Aus dem Englischen von Kathrin Bielfeldt und Jürgen Bürger. Kampa, 384 Seiten, 22,60 Euro.

Immer tiefer in den Wald hinein

Amira wünscht sich sehnlichst ein Kind, ihr Freund Josef ist sich anfangs nicht so sicher. Als Amira endlich schwanger ist, wollen die beiden ein paar Tage in einer entlegenen Waldhütte entspannen. Aus einer vermeintlichen Beziehungsgeschichte und dem in letzter Zeit literarisch häufig bemühten Mutterschaftstopos zaubert die österreichische Autorin Jessica Lind Horrorstoff vom Feinsten. Friedlich und schutzgebend, düster und bedrohlich, wird der Wald neben Amira und Josef zum Protagonisten dieses beeindruckenden Debütromans, der gekonnt zwischen Genregrenzen wandelt. (Romana Beer, für ORF.at)

Jessica Lind: Mama. Kremayr & Scheriau, 192 Seiten, 20 Euro.

Einsturz der Wiener Reichsbrücke

Im August 1976 stürzte die Wiener Reichsbrücke ein, die damals eruierte Ursache, Materialermüdung, war gewissermaßen höhere Gewalt. In „Die Möbel des Teufels“, dem neuen Krimi von Heinrich Steinfest, liest sich das freilich ganz anders: Nachforschungen dazu startet Leo Prager, der nach 40 Jahren Südseeinsel nach Wien zurückkehrt, weil seine Schwester, eine Parlamentsstenografin, ermordet wurde. An seiner Seite: Steinfests legendärer einarmiger Detektiv Markus Cheng, der bei diesem sechsten Fall jedoch die Rolle mit seiner Sekretärin Frau Wolf tauscht. Gewohnt leichtfüßige Krimilektüre mit viel philosophischem Hintersinn. (Paula Pfoser, ORF.at)

Heinrich Steinfest: Die Möbel des Teufels. Frau Wolf und Cheng ermitteln. Markus Cheng Band 6. Piper, 400 Seiten, 16,50 Euro.

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Emmerich und die Psychoanalyse

Rundum psychologisch gut eingeführt – aber nicht überfrachtet – wurde von Alex Beer in den ersten vier Bänden Kommissar August Emmerich. Auch im fünften Band ermittelt er mitten im Nachkriegselend der Wiener 20er Jahre. Diesmal spielt die Psychoanalyse eine Hauptrolle, und Emmerich betritt die internationale Bühne, wenn es gilt, einen grausamen Serienkiller zu überführen. Schließlich droht es sogar Emmerich selbst an den Kragen zu gehen. Plus: die mehrfach preisgekrönte Autorin erzählt gekonnt die verquirxte Biographie des Publikumslieblings Emmerich weiter – Stichwort Vergangenheitsbewältigung. Gutes Futter für die vielen Fans. (Simon Hadler, ORF.at)

Alex Beer: Der letzte Tod. Ein Fall für August Emmerich. Limes, 384 Seiten, 20,60 Euro.

Suspense zum Weihnachtsfest

Trotz der dicken Schneeschicht auf Bäumen und Häusern will in Three Pines keine Weihnachtsruhe einkehren: Die Buchhändlerin des beschaulichen Dorfes in den kanadischen Wäldern meldet eine berühmte Persönlichkeit als vermisst – Chief Inspector Armand Gamache nimmt die Ermittlungen auf. Es ist bereits der neunte ins Deutsche übersetzte Band der Erfolgsreihe um den liebenswerten Kommissar, Langeweile kommt aber noch lange keine auf. Im Gegenteil: Die kanadische Bestsellerautorin Louise Penny zeigt sich wieder einmal als Meisterin des klassischen Kriminalromans. (Romana Beer, für ORF.at)

Louise Penny: Der vermisste Weihnachtsgast. Aus dem Englischen von Andrea Stumpf und Gabriele Werbeck. Kampa, 576 Seiten, 19,40 Euro.

Danowski in der Krise

Ein neuer Fall für Adam Danowski – und das ausgerechnet, als sich der Hamburger Kriminalkommissar bei einer Kur an der Ostsee von den fünf vorangegangenen Fällen erholen will. Doch während er müde und ausgelaugt im Sesselkreis sitzt und sein Innerstes nach Außen kehren soll, wird ein paar Zimmer weiter ein Mann getötet. Till Raether hat mit „Danowski: Hausbruch“ einen sehr genreuntypischen Krimi abseits des üblichen „Whodunit“ geschrieben, der vielleicht gerade deshalb zum Besten gehört, das die deutschsprachige Kriminalliteratur derzeit zu bieten hat. (Romana Beer, für ORF.at)

Till Raether: Danowski: Hausbruch. Rowohlt, 304 Seiten, 16,50 Euro.

Nervenkitzel im Darknet

Auch wenn der deutsche Krimiautor Arno Strobel ein Vielschreiber ist, gelingt es ihm dennoch, dass keines seiner Bücher dem anderen gleicht. In seinem neuen Thriller „Sharing“ beleuchtet er nicht nur die dunkelsten Winkel der menschlichen Seele, sondern auch des Internets. Als die Frau des Car- und Apartment-Sharing-Unternehmers Markus in die Hände eines brutalen Entführers gerät, bekommt der Slogan seiner Firma „Sharing is caring“ plötzlich eine ganz andere Bedeutung. Markus muss sich selbst in die Untiefen des Darknets begeben, um seine Familie zu retten. Ein Pageturner. (Sonia Neufeld, ORF.at)

Arno Strobel: Sharing – Willst du wirklich alles teilen? Fischer, 356 Seiten, 16,50 Euro.

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Politkrimi in der deutschen Provinz

Nach zwei DDR-Krimis hat Max Annas sein neues Werk „Der Hochsitz“ in der BRD angesiedelt. Es ist Ostern 1978 und damit kurz nach dem Deutschen Herbst, die RAF versetzt das Land in Aufruhr und auch die Geister der Vergangenheit spuken noch. Sanne und ihre Freundin Ulrike radeln durch die Gegend, sammeln Fußballerbilder und beobachten von ihrem Geheimversteck – dem Hochsitz – aus die Umtriebe in ihrem Dorf. Dabei gibt es Mord und reichlich andere Delikte. Ein klassischer Krimi ist „Der Hochsitz“ aber nicht: Aus kurzen, nicht immer sofort nachvollziehbaren Momentaufnahmen zeichnet Annas ein Zeit- und Lokalpanorama und spürt den Abgründen eines Dorfes nach. (Saskia Etschmaier, ORF.at)

Max Annas: Der Hochsitz. Rowohlt, 272 Seiten, 22,70 Euro.

Nervengift als historische Klammer

Sergej Lebedew hat mit „Das perfekte Gift“ einen literarischen, fast schon lyrischen Agententhriller abgeliefert, der in seiner Brutalität und bedeutungsschweren Düsternis umso mehr schockiert. Es geht um Morde mittels Giftstoffen wie die aus der Nowitschok-Gruppe. Ein ehemaliger Sowjetchemiker und Überläufer wird auf Geheiß des Systems Putin von einem ehemaligen Sowjetfolterschergen gejagt. Tief taucht man ein in die emotionale Welt der beiden. Historische Kontinuitäten, Fragen von Gut und Böse, all das wird hier verhandelt. Eher keine leichte Ablenkungskost, aber ein ungemein intensives Leseerlebnis. (Simon Hadler, ORF.at)

Sergej Lebedew: Das perfekte Gift. S. Fischer, 256 Seiten, 22,90 Euro.

Gesellschaftsthriller vom Großmeister

In den 1970er Jahren, lange vor den weltbekannten Wallander-Krimis, begann Henning Mankell seine Karriere als Autor gesellschaftskritischer Romane. Nach 42 Jahren liegt jetzt „Der Verrückte“ auf Deutsch vor: Im Zentrum steht der Kommunist Berit Krass, der im Schweden der 1950er Jahre das offene Geheimnis eines NS-Arbeitslagers und der Kollaboration der lokalen Eliten mit den Nazis aufdecken will. Eine meisterhaft konstruierte Geschichte einer sozialen Ausgrenzung, die in Gewalt mündet. Dass die Verhältnisse von der ersten Seite an klar umrissen sind, tut der Spannung keinen Abbruch. (Florian Baranyi, ORF.at)

Henning Mankell: Der Verrückte. Aus dem Schwedischen von Andrea Fredriksson-Zederbauer. Zsolnay, 561 Seiten, 26,80 Euro.