In einer Grube im Boden liegt ein zusammengekrümmter Mann. Die Figur hat ihren Pullover über den Kopf gezogen und verschwindet förmlich in ihren Kleidern. An Erwin Wurms Skulptur aus der Serie „Psycho“ ist nichts Individuelles mehr zu erkennen, seine Gestalt verhüllt sich wie in einem Kokon. Es würde wohl niemandem einfallen, in der 2010 entstandenen Arbeit kuscheliges „Cocooning“ zu sehen. In der x-ten CoV-Welle drängt sich vielmehr der Gedanke an einen Verzweifelten auf, der mittels Schlabberpulli den täglichen „Bad News“ und dem Homeoffice entrinnen möchte.
Wurms weiß lackierte Aluminiumfigur ist Teil der außergewöhnlichen Gruppenschau „House of Losing Control“, dem Herzstück der diesjährigen Vienna Art Week (VAW). Als Präsentationsort dienen heuer ein leerstehendes Autohaus und eine ehemalige Disco, beide hinter dem Augarten. Auf 4.300 Quadratmetern sind dort Kunstwerke von rund 80 zeitgenössischen Kunstschaffenden zum Thema Kontrollverlust vertreten.
Cindy Sherman und Gelitin
Die Schau wurde förmlich aus dem Boden gestampft, kam das Angebot zur Bespielung des verlassenen Geländes doch erst im September. Der wilde Mix umfasst berühmte Namen wie Cindy Sherman und Bruce Nauman ebenso wie etablierte heimische Positionen (etwa Gelitin), aber auch viele Newcomer aus dem In- und Ausland.
„Die Künstlerinnen und Künstler haben uns gerettet!“, schwärmt VAW-Leiter Robert Punkenhofer. Nur das Engagement der Teilnehmerinnen und Teilnehmer habe die kurzfristige und mit 60.000 Euro bescheiden budgetierte Schau ermöglicht. Die Vienna Art Week wird seit 2005 vom Dorotheum organisiert und gesponsert. 80 Prozent des Produktionsbudgets von circa 250.000 Euro stemmen das Auktionshaus und andere private Geldgeber.
Im Unterschied zur Berlin Art Week dreht sich der hiesige Veranstaltungsreigen aber nicht vorrangig um den Kunstmarkt, sondern bindet das gesamte Feld mit Museen, Kunsthallen, Offspaces und Ateliers ein. Der Ausstellungseintritt ist kostenlos, ebenso der Großteil der rund 200 Künstlergespräche, Vorträge, Führungen und Events.
Marathon zu den Ateliers
Einen alljährlichen Höhepunkt des Siebentagemarathons stellen die „Open Studio Days“ dar. Dieses Wochenende öffnen wieder hundert Künstlerinnen und Künstler in der ganzen Stadt ihre Pforten für die breite Öffentlichkeit. Dass ein spannendes Atelier dem eigenen Image dient, wusste der Historienmaler Hans Makart bereits vor 150 Jahren. Die üppige Inszenierung mit Ritterrüstung, Tapisserien und Löwenfell des Malerfürsten finanzierte das Kaiserhaus. Angesichts der Immobilienspekulation ist es in Wien schwierig geworden, ein erschwingliches Atelier mit Heizung zu finden; noch immer trifft man Künstler bei Holzöfen und mit Handschuhen bei der Arbeit.
Die „Open Studio Days“ bieten auch die Gelegenheit, unbekannte Ecken der Stadt kennenzulernen. Kunstschaffende siedeln sich oft in ehemaligen Werkstätten an. Mittlerweile vermieten Firmen wie das Simmeringer Elektrounternehmen Dietzel Univolt ihre leerstehenden Produktionshallen. Sarah Bechter und Xenia Lesniewski bauten ihre Staffeleien in den dortigen Backsteinbauten auf.
Auch alternative Kunstinstitutionen, etwa das Weiße Haus beim Schwarzenbergplatz, vergeben Arbeitsräume. Wer Glück hat, ergattert einen Platz in einer „Zwischennutzung“. So konnte etwa Christiane Peschek jahrelang in einer ehemaligen Klinik samt Park in Hietzing arbeiten. Da das Objekt verkauft wurde, müssen die Künstlerin und ihre Kollegen demnächst weichen.
Facettenreicher Kontrollverlust
Wer den Geruch von Ölfarbe und die Späne auf der Werkbank nicht alleine erkunden möchte, kann sich einer geführten Tour anschließen. Neben Bezirksrundgängen und Bundesatelier-Führungen bietet sich ein Rundgang durch die zehn Ateliers an, die von einer Jury zum diesjährigen Festivalmotto „Losing Control“ ausgewählt wurden. Wie der Zufall als künstlerische Methode funktioniert, wird in dem mit Material vollgestopften Studio von Christian Eisenberger ebenso greifbar wie im strukturierten Arbeitsbereich der Konzeptkünstlerin Almut Rink.
Während der „Open Studio Days“ finden auch Künstlergespräche statt. Ein breites Diskursprogramm rollen auch die Ausstellungshäuser während der Kunstwoche aus. 2004 schlossen sich mehr als 20 Wiener Museen und Institutionen zum „Art Cluster Vienna“ zusammen, sie beteiligen sich mit Extraveranstaltungen bei der Kunstwoche.
Wittgensteins Fotoalbum
Das Leopold Museum eröffnete kurz vor der Vienna Art Week seine Schau „Ludwig Wittgenstein – Fotografie als analytische Praxis“. Das ambitionierte Ausstellungsprojekt, das der Künstler Gregor Schmoll gemeinsam mit der Kuratorin Verena Gamper konzipierte, erkundet das Verhältnis des Philosophen (1889–1951) zum fotografischen Bild.
Der Clou der Schau liegt in der Kombination mit zeitgenössischer Kunst: Die thematischen Ausstellungskapitel zeigen die historischen Aufnahmen des Philosophen – zum Beispiel sein Fotoalbum, Selbstporträts oder Architekturaufnahmen – in zentral angeordneten Vitrinen; sie werden von maßgeblichen Fotoarbeiten von Thomas Ruff, Gilian Wearing, Gerhard Richter und vielen anderen gerahmt, die ähnliche Fragestellungen oder Techniken verfolgten.
Warm anziehen
Durch die zahlreichen Leihgaben, vor allem des Wittgenstein Archive Cambridge, konnte auch ein interessanter Raum zur Industriellenfamilie Wittgenstein gestaltet werden. Im Zentrum stehen aber weniger die Motive als die Beziehung von sprachanalytischer Philosophie und dem Medium Fotografie.
Übrigens: Die Kontrolle abzugeben, fiel dem großbürgerlich geprägten Denker sehr schwer. Wittgenstein diktierte erfahrenen Fotografen wie Moritz Nähr, wie sie ihn zu porträtieren hatten, oder er setzte sich gleich selbst in den Fotoautomaten, um seine nachdenkliche Miene festzuhalten.
Zum Thema Kontrollverlust findet in der Hauptschau der Vienna Art Week am Donnerstag, dem 18. November, noch ein „Losing Control Line-up“ statt. Dabei werden „in raschem Wechsel“ etliche Talks, Lectures, Präsentationen und Filmscreenings stattfinden. Die Themen geben schon die Arbeiten der Schau vor, zum Beispiel Umweltzerstörung, Energiekrise, politische Radikalisierung oder Kolonialgeschichte. Da heißt es, sich „warm anziehen“, auch angesichts der ungeheizten Ausstellungshallen – am besten gleich mehrere Pullover übereinander.