Fußgänger auf einem Gehsteig
ORF.at/Christian Öser
Experten zu CoV-Misere

„Jetzt muss schnell entschieden werden“

Die Ankündigung aus Salzburg und Oberösterreich, kommende Woche einen Lockdown für alle zu verhängen, ist eine politische Kehrtwende mit langer Vorlaufzeit. Expertinnen und Experten zufolge kommt sie viel zu spät. „Die Bremsspur war jetzt so lange, dass sie in Wand geendet hat“, so Komplexitätsforscher Peter Klimek. „Jetzt muss schnell entschieden werden“, sagte Simulationsforscher Niki Popper auch mit Blick auf alle anderen Bundesländer.

Es sei „wichtig, dass jetzt einmal Entscheidungen getroffen werden“, so Popper im Interview mit „Aktuell nach eins“ hinsichtlich der Landeshauptleutekonferenz, die am Freitag stattfinden wird. Er verwies dabei auf Zahlen, die schon länger „auf dem Tisch liegen“. Wichtig sei jedenfalls, dass die Politik fortan „mit einer Stimme spreche“. „Wenn wir (mit den Zahlen, Anm.) schneller runterkommen wollen, werden wir auch in anderen Regionen Maßnahmen brauchen“, so Popper.

Die Dynamik sei unterschiedlich: „Regionale Entscheidungen“ würden durchaus Sinn ergeben, sagte der Simulationsforscher, Bund und Länder müssten sich die Frage stellen, „wie schnell man jetzt runter will“. Popper verwies auf den Umstand, wonach man auch gesehen habe, dass die bisherigen Maßnahmen noch nicht den gewünschten Effekt gezeigt hätten. „Sie haben nicht gereicht“, gab der Experte zu bedenken – mehr dazu in wien.ORF.at.

Analyse von Niki Popper

Simulationsforscher Niki Popper gibt einen Überblick, wie sich die CoV-Lage in den nächsten Tagen entwickeln wird

Klimek ortet „unfassbare Entwicklung“

Die nun in Oberösterreich und Salzburg angekündigten harten Lockdowns sind für den Komplexitätsforscher Klimek das bittere Ende einer „unfassbaren Entwicklung, die man zugelassen hat“. Nie im Pandemieverlauf sei die „Ausnahmesituation so extrem“ gewesen. Daher sei nun aber auch davon auszugehen, dass die ergriffenen Maßnahmen entsprechend wirkungsvoll sein werden, sagte der Forscher. Aktuell sei leider „kein Bundesland aus dem Schneider“.

Die Frage, ob man bundesweit einen harten Lockdown brauche, sei eine „Strategiefrage“, äußerte sich der Wissenschaftler vom Complexity Science Hub Vienna (CSH) und der MedUni Wien ähnlich wie Popper.

Beim Blick nach Wien oder ins Burgenland zeige sich schon eine weniger dramatische Infektionssituation, die entsprechend in eine noch etwas entspanntere Situation in den Spitälern mündet. Popper führte auch die PCR-Test-Strategie an, die etwa in Wien – im Gegensatz zu anderen Bundesländern – gut laufe.

„Es braucht endlich Strategie für Winter“

Abseits der „Kopfspiele“ über harte Lockdowns da oder dort brauche es letztlich endlich eine „Strategie für den Winter“ und Klarheit darüber, „wie wir nach den Maßnahmen weitermachen wollen“, so Klimek. Selbst wenn man aktuell etwa in Wien mit weniger restriktiven Maßnahmen eine Abflachung der Infektionskurve bewirken könne als in anderen Bundesländern, müsse man sich überlegen, ob dann gewisse Kontaktbeschränkungen im Verlauf des Winters weiter gelten sollen.

Von Laer gegen Ausgangssperren

Auch in der Frage der Impfpflicht müsse man Entscheidungen treffen, so Klimek. „Denn das ist für die längerfristige Perspektive die viel wichtigere Frage“, wenn man nicht noch einmal genau da landen möchte, wo Österreich jetzt steht. Für die Innsbrucker Virologin Dorothee von Laer bleibt die Impfung der einzige Ausweg, während sie Ausgangssperren kritisch gegenübersteht. Kontakte würden dadurch nicht minimiert.

Schon beim letzten Lockdown und beim Schließen der Gastronomie hätten sich viele Treffen ins Private verlagert. Die Ansteckungen passierten dann dort, sagte Von Laer gegenüber der „Tiroler Tageszeitung“: „Von Lockdown zu Lockdown zu taumeln, ohne dass die Impfrate steigt, wäre die schlechteste Lösung.“ Man habe noch einige Pfeile im Köcher, um einen Lockdown zu vermeiden. Die Virologin riet, Veranstaltungen über zehn Personen zu verbieten.

Sie sei „nicht so optimistisch“, dass sich der Lockdown allein mit den nun ergriffenen Maßnahmen vermeiden lässt, so Von Laer. Wegen ihrer jüngsten Aussage, wonach es in sechs Monaten 3-G geben wird – „dann ist man entweder geimpft, genesen oder gestorben“ –, sah sich Von Laer missinterpretiert. Es gehe grundsätzlich um die Frage, wie viele Tote eine Gesellschaft in Kauf nehme, um eine nötige Immunisierung von 90 Prozent zu erreichen. Eine solche habe Großbritannien erreicht, „bei doppelt so vielen Toten wie Österreich“.

Gartlehner: Viel Zeit verschwendet

Der Epidemiologe Gerald Gartlehner sagte am Donnerstagabend in der ZIB2: „Es wurde sehr viel Zeit verschwendet, der Weg zurück wird härter werden.“ Infizierte kämen mit zwei Wochen Verzögerung auf Intensivstationen. Die Spitäler seien bereits überlastet. Trotz Lockdowns in Oberösterreich und Salzburg stehe der Höhepunkt in diesen Ländern noch bevor. Gartlehner geht davon aus, dass Patientinnen und Patienten in andere Länder transferiert werden.

Analyse von Gartlehner und Stainer-Hämmerle

Der Epidemiologe Gerald Gartlehner und die Politologin Kathrin Stainer-Hämmerle analysieren die aktuelle CoV-Situation aus medizinischer bzw. politischer Sicht.

„Ganz Österreich braucht eine Reduktion der Kontakte“, sagte Gartlehner weiter, vielleicht keinen harten Lockdown, aber einen Lockdown mit unterschiedlicher Intensität je nach Bundesland. Wien, das Burgenland und die Steiermark stünden ja besser da. Homeoffice etwa sei eine wirksame Möglichkeit, Kontakte zu reduzieren.

Die Politikwissenschaftlerin Kathrin Stainer-Hämmerle sagte, Ziele und Maßnahmen seien nach wie vor zu wenig koordiniert. Je nachdem, ob es um Kontaktreduzierung oder um Steigerung der Impfbereitschaft geht, seien die Maßnahmen unterschiedlich. Ein aktiverer Zugang zu Impfunwilligen sei verabsäumt worden, die Reaktionszeit der Politik sei zu langsam gewesen und die Abstimmung zwischen Türkis und Grün „erschreckend“ mangelhaft, aber auch zwischen ÖVP-geführten Ressorts und dem Bund und den Ländern. Die Koordination fehle hier.

Ärztekammer fordert Impfpflicht

Am Donnerstagabend sprachen sich die Ärztekammern geschlossen für eine generelle Covid-19-Impfpflicht aus. „Es braucht jetzt ein klares Zeichen der Republik, dass die Gemeinschaft die aktuelle Situation nicht mehr länger hinnehmen kann“, begründete Thomas Szekeres, Präsident der Österreichischen und der Wiener Ärztekammer, die Forderung nach einer Impfpflicht für alle.

„Wir appellieren an die Politik, hier endlich eine klare Ansage zu machen und auch einen Katalog mit den Konsequenzen für Impfverweigerer zu erstellen“, berichtete er das Ergebnis einer Videokonferenz der Bundes- und neun Länderkammern.

Edtstadler: Diskussion notwendig

Man müsse über die Impfpflicht „diskutieren, alle Argumente auf den Tisch legen und entscheiden“, sagte Verfassungsministerin Karoline Edtstadler (ÖVP). Sie hält die Diskussion über eine generelle Impfpflicht für notwendig, ebenso Oberösterreichs Landeschef Thomas Stelzer (ÖVP). Sie verwies auf ein aktuelles Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), das eine generelle Impfpflicht – für eine andere Impfung als die gegen Covid-19 – als „verhältnismäßig ansieht, wenn es entsprechend begründet ist“.

Eine allgemeine Impfpflicht sei aus verfassungsrechtlicher Sicht möglich, die Frage sei lediglich, ob sie im konkreten Fall verhältnismäßig ist. Die Verhältnismäßigkeit sah etwa Verfassungsrechtler Bernd-Christian Funk im Ö1-„Mittagsjournal“ als gegeben an: So wie die Entwicklung der Dinge laufe, sei die „Schwelle der Verhältnismäßigkeit“ erreicht. Auch Karl Stöger von der Uni Wien sieht „gute Chancen“, dass eine derartige Pflicht vor dem Verfassungsgerichtshof (VfGH) halte. Ähnlich auch Peter Bußjäger von der Uni Innsbruck: Obwohl die Impfpflicht für die gegenwärtige Welle ziemlich spät komme, scheint ihm diese Maßnahme als Vorsorge für kommende Wellen „verhältnismäßig“.

Ampelkommission: „Effektive Maßnahmen“ bundesweit

Unterdessen wies die Ampelkommission in ihrer aktualisierten Risikoanalyse am Donnerstag darauf hin, „dass die aktuell gültigen Präventionsmaßnahmen nicht ausreichend sind, um eine nachhaltige Senkung der Inzidenzen kurzfristig herbeizuführen“. Insbesondere gelte das für Regionen mit besonders hohem Infektionsgeschehen bzw. hohen Spitalsauslastungen wie Oberösterreich und Salzburg. Die Kommission spricht sich daher für Lockdowns aus, die „in den am stärksten betroffenen Regionen unmittelbar umzusetzen sind“.

Darüber hinaus wird zu „effektiven Maßnahmen zur Kontaktbeschränkung im gesamten Bundesgebiet (geraten), um einer akut drohenden Überlastung der medizinischen Versorgung gezielt entgegenzuwirken“. Und weiter: „Die Schließung des Bildungsbereiches sollte jedoch die Ultima Ratio sein.“ Impfen und Boostern sollten einen „signifikanten Anstieg der effektiven Immunisierung der Bevölkerung“ sicherstellen – zudem empfiehlt die Kommission die Prüfung einer generellen, temporären Impfpflicht für die gesamte impfbare Bevölkerung.