Die österreichische Malerin Maria Lassnig mit Oswald Wiener. Um 1998. Photographie von Didi Sattmann.
Didi Sattmann / Imagno / picturedesk.com
Oswald Wiener

Die Avantgarde als Rettung der Welt

„Wir sehnten uns, gelangweilt von einem Krautfleisch, nach einem Kulturmulatschak.“ So beschrieb der Künstler Günter Brus die Ausgangslage für den Aufstand der Aktionskunst gegen die Kultur der Wertebewahrung. Mitten drinnen als Mastermind: der nun verstorbene Oswald Wiener. Wiener war nicht nur der Programmierer für jenen Humus, auf dem später ein Thomas Bernhard, ein Peter Handke und eine Elfriede Jelinek ihre Abrechnungen einpflanzen konnten. Wiener zeigte letztlich für die neue Klimabewegung, wie die Welt gelesen werden kann, will man aus ihrer Kraft der Selbstkorrektur lernen. Eigentlich war er einer der ersten Poeten des Metaverse.

Wien war nicht Paris, schon gar nicht 1968. Aber einige Wegmarken der Protestbewegung blieben auch hierzulande in Erinnerung. Die wahrscheinlich markanteste war eine Aktion an der Uni Wien am 7. Juni des Jahres, die als „Uniferkelei“ in die Annalen einging. Geladen war im Hörsaal 1 der Wiener Universität zum Vortrag „Kunst und Revolution“, der mit einer flammenden Rede eines gewissen Peter Weibel, seitdem einer der großen Medientheoretiker des Landes, begonnen hatte. Zielscheibe der Weibel’schen Rede: der damalige Finanzminister Stephan Koren.

Dann stürmten die Künstler Oswald Wiener, Günter Brus und Otto Mühl die Bühne. Brus sang die Bundeshymne, zog sich aus, entleerte seinen Darm und onanierte, Mühl peitschte einen vermummten Masochisten aus, und Wiener hielt einen unverständlichen Vortrag über die Input-Output-Theorie. Wiener, 1935 in Wien geboren, war damals der wahrscheinlich Etablierteste im Raum und eigentlich das, was sich Weibel später findig anzog. Er war in gewisser Weise der Medientheoretiker dieser Avantgarde, die damals noch nicht erahnen konnte, welche Verwerfungen sie auslösen würde; und wie sehr auch jede Form von Schmäh in den Happenings im Ernst von Polizeiprotokollen landen würde.

Dominik Steiger, Kurt Kalb, Walter Pichler, Christian Ludwig Attersee, Ernst Graf, Oswald Wiener, Ingrid Schuppan.
Christian Skrein / Imagno / picturedesk.com
Erweiterte Wiener Gruppe und doch nicht alle auf dem Bild: Dominik Steiger, Kurt Kalb, Walter Pichler, Christian Ludwig Attersee, Ernst Graf, Oswald Wiener, Ingrid Schuppan (von links nach rechts)

Zugriff auf die Welt

Wiener hatte Rechts- und Musikwissenschaften, afrikanische Sprachen und Mathematik studiert. Schon innerhalb der Wiener Gruppe formulierte er den radikalen ästhetischen Zugriff auf die Wirklichkeit am schärfsten. Und auch in gewisser Weise am konsequentesten. 1959 vernichtete Wiener sein damaliges komplettes literarisches Werk und arbeitete in den folgenden Jahren als Computerexperte bei Olivetti. Sein Roman „die verbesserung von mitteleuropa“ ist eines der Zentralstücke der schriftstellerischen Avantgarde nach 1945: „kunst ist propaganda für die wirklichkeit und wird daher verboten!“, hieß es darin. Das musste das deutsche Feuilleton nachhaltig verstören, verstand man natürlich auch nicht die Doppeldeutigkeit und den Witz beim avantgardistischen Zugriff auf die Welt.


Oswald Wiener auf dem Weg zum Prozess gegen Teilnehmer der Aktion >Kunst und Revolution< an der Wiener Universität. 1968.
Votava / Imagno / picturedesk.com
Der Prozess nach der „Uniferkelei“

„Und so war das Ganze ein simultanes Happening“, kapitulierte Peter Weibel in Ö1 später die damalige Aktion mit seinen Kollegen wie Brus und Wiener. Für Weibel war es ein „Nachholen einer Selbstreinigung Österreichs, die in der Folge der Nazi-Zeit unterschlagen worden“ sei.

Das Wiener „Zock-Fest“ Mitte der 1960er Jahre

Die Wucht der Avantgarde in Wien lag in ihrer Performance-Kraft

Brus erklärte in einem ORF-Interview 2003: „Ich habe den Staat nicht verändern wollen im Sinn einer neuen Regierungsform oder so was, ich wollte ihn nur aus seinem Mief rauslocken. Zugleich wollte ich aufschreien und sagen: Was macht ihr mit mir?“ Man habe sich „zur totalen Provokation entschlossen“, hielt Brus später im Band „Das gute alte Wien“ fest: „Ich ging mit einer maßlosen Wut im Bauch ins Rennen. Ich hatte keine ‚Kunst‘ mehr vor, sondern nur den Schock.“

Buchumschlag „Die Verbesserung von Mitteleuropa“ von Oswald Wiener. Österreich. Photographie. 1968.
Christian Skrein / Imagno / picturedesk.com
Vielleicht das Schlüsselwerk in Prosa der Avantgarde nach 1945

„Ich war so glücklich, dass man drauf geschissen hat“

Bei einer Diskussion im Jahr 2003 über die damaligen Geschehnisse meldeten sich mehrere Augenzeugen zu Wort. Der Architekt Günther Feuerstein erzählte: „Ich bin in der ersten Reihe gesessen. Dort war der Gestank aber bald unerträglich. Also haben wir uns nach hinten gesetzt.“ Auch eine Kunstgeschichte-Studentin dieser Zeit gab ihre Eindrücke wieder. Sie habe die damals üblichen Vorlesungen unerträglich gefunden und den Mut der Künstler bei der Aktion aufrichtig bewundert: „Ich war so etwas von glücklich, dass man endlich darauf geschissen hat.“

Oswald Wiener als Musiker

Ö1 stellt die Musik von Oswald Wiener vor – mehr dazu in oe1.ORF.at.

Am Tag nach der Veranstaltung folgte bei den Aktionisten die Enttäuschung, als man gemeinsam im Kaffeehaus zusammensaß: „‚Da haben wir ganz schön versagt‘, greinte Wienerwald“ – schreibt Brus, der seinem Zeitgenossen Wiener den Decknamen „Wienerwald“ gab und seinen Kollegen Nitsch nur unter „Hermann Schlacht“ auftreten lässt. Es habe weder Schlagzeilen noch einen Skandal gegeben.

Mit einem Tag Verspätung stellten sich die Reaktionen ein – die dann aber ebenso heftig waren wie die Aktion selbst, ganz abgesehen von der beispiellosen medialen Entrüstung. Mühl verbrachte einige Wochen in Untersuchungshaft. Der nach eigenen Angaben damals „meistgehasste Mensch Österreichs“, Brus, wurde wegen „Verletzung der Sittlichkeit und Schamhaftigkeit“ zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt.

er Autor Oswald Wiener am Mittwoch, 13. Juni 2012, während der Veranstaltung „Attersee und seine Freunde“ in Wien.
Herbert Neubauer / APA / picturedesk.com
2013: Comeback im Wiener Porgy & Bess anlässlich einer Feier für Christian Ludwig Attersee

Exil in Berlin

Nach zwei Monaten Haft und danach erwirkter Freilassung flüchtete Brus gemeinsam mit Wiener 1969 nach Berlin, wo man mit Gerhard Rühm die „Österreichische Exilregierung“ und deren „Regierungs-Zeitschrift“ „Die Schastrommel“ gründete. Erst 1976 konnte erwirkt werden, dass die Haft- in eine Geldstrafe umgewandelt wurde. Gnade kam vom damaligen Bundespräsidenten Rudolf Kirchschläger. Heute gilt die Aktion „Kunst und Revolution“ als zentraler – und abschließender – Moment des Wiener Aktionismus, sie ist längst in die Kunstgeschichte-Bücher eingegangen.

„Das war ein Terror im Kaffeehäferl“

Im Alter von 86 Jahren ist Oswald Wiener am Donnerstag gestorben. Er war einer der Mitbegründer der legendären Wiener Gruppe, die die Kunst- und Literaturszene nach 1945 maßgeblich prägte.

Oswald Wiener hatte sich in Berlin mit seiner Gaststätte „Exil“ etabliert. Er legte ein Fernstudium der Mathematik und Informatik an der Technischen Universität Wien ab und ist nicht erst seit damals ein Guru dafür, naturwissenschaftliche und kybernetische Ansätze in Literatur und Philosophie zu übertragen.

Porträt von Oswald Wiener 2003
Brigitte Friedrich / SZ-Photo / picturedesk.com
Oswald Wiener 2003

Aus der „Verbesserung Mitteleuropas“ war das Projekt einer Beobachtung der Selbstkorrekturkraft der Welt geworden, die Wiener im Anschluss an die Thesen von Alan Turing entwickelte. Nur als besonders schneller Rechenautomat habe der Mensch die Chance zu erkennen, wie die Welt ihre Irrtümer blitzschnell repariert. Wieners Vorstellungen zur künstlichen Intelligenz könnten nicht zuletzt eine junge Generation, für die die Selbstreparatur der Welt so etwas wie eine letzte Chance auf Überleben ist, begeistern.

„Nicht schon wieder …!“ hieß Wieners zweiter Roman, den er 1990 unter dem Pseudonym Evo Präkogler veröffentlichte. Wieners Vermischung von menschlicher und künstlicher Intelligenz darf so manchen Metaverse-Adepten ebenso interessieren wie das von der Populärkultur so gierig aufgesogene Werk „Snow Crash“.