„Schall ist flüssig“

Wolfgang Tillmans und die Pandemie

Wolfgang Tillmans wurde als Subkultur- und Techno-Chronist im London der 90er Jahre weltberühmt, 2000 erhielt er als erster Nichtengländer und erster Fotograf den renommierten Turner-Preis. Mit „Schall ist flüssig“ will das Wiener mumok, wenn es wieder öffnen kann, nun erstmals in Österreich eine gelungene Werkschau mit Bildern von Partywohnungen und Endgeräten, Knäckebrotscheiben und Baustellen, vom Vollmond und den Menschen aus seinem Umfeld zeigen: vermeintlich Zufälliges als Spiegel des Lebens in der Pandemie.

Ein iPhone im Videochat-Modus steht da an eine Wasserflasche gelehnt, platziert auf einem weißen Krankenhaustischchen. Der Patient ist Tillmans selbst, wie oben im kleinen Chatfenster zu erkennen ist. Auf dem großen Displayteil sieht man hellrosa Bettwäsche aufgetürmt, dort, wo wir Betrachterinnen und Betrachter uns eigentlich selbst sehen sollten.

Mit „Lüneburg (self)“ (2020) hat Tillmans eine in den sozialen Netzwerken viel geteilte Metapher für die Pandemie entworfen: Kuschelige Geborgenheit trifft hier auf Bildschirmsterilität, medial vermittelte Nähe auf eine doch unübersehbare Trennung zwischen dem Gesunden und Kranken. Sehnsucht schwingt hier mit – und die Kompliziertheit, aber auch Möglichkeit von Begegnung in Zeiten der Pandemie.

Fotostrecke mit 8 Bildern

Werke von Wolfgang Tillmans
Mumok
Links: „Lüneburg (self)“, rechts: „blue self portrait shadow“, beide 2020
Werke von Wolfgang Tillmans
Mumok
„Omen“, 1991
Werke von Wolfgang Tillmans
Mumok
„Unlikely match“, 2017
Werke von Wolfgang Tillmans
Mumok
Links: „Corridor after party“, 1992, rechts: „Suit“, 1997
Werke von Wolfgang Tillmans
Mumok
Links: „Concrete Column III“, 2021, rechts: „The Spectrum/Dagger“, 2014
Werke von Wolfgang Tillmans
Mumok
Links: „Mond in Erdlicht“, 1980, rechts: „Crossing the international date line“, 2020
Werke von Wolfgang Tillmans
Mumok
„Freischwimmer 227“ (2012)
Werke von Wolfgang Tillmans
Mumok
„Weak Signal II“, 2014

„Ich wollte die Situation festhalten, wie sie ist“, will sich Tillmans im ORF.at-Interview zu dieser Aufnahme nicht weiter festlegen. „Seine Position ist eine, die die derzeitige Situation extrem gut einfängt und bearbeitet“, meint jedenfalls der Kurator Matthias Michalka über die – weit über das explizite Bild hinausgehende – Aktualität von Tillmans’ Werk. So treffgenau, könnte man hinzufügen, dass die Eröffnung lockdownbedingt auf den 14. Dezember verschoben werden musste.

„Dokumentarist“ der Generation X

Schon seit jeher beschäftigt sich Tillmans mit den (nun noch einmal anders virulent gewordenen) Themenblöcken Körper und Medien: 1968 in Deutschland geboren, zog er zum Kunststudium nach England. Seine Fotos von den aufkommenden Londoner Techno-Clubs und aus der Schwulen-Club-Szene wurden in den Zeitschriften „i-D“, „Tempo“, „Spex“ und „Prinz“ veröffentlicht. Tillmans wurde zum Weltstar, gefeiert als zärtlicher Dokumentarist einer verletzlichen und partyaffinen Generation.

Ausstellungsansicht „Schall ist flüssig“
Mumok
Ausstellungsansicht: Mittig die Rückenaufnahme „Omen“ 2014, links das Regentropfen-Dschungelbild „Schall ist flüssig“ (2021)

Auch diese Bilder der damaligen Zeit, von den wild-grindigen Party-WGs oder den Körpern im Discodunkel, hängen jetzt im zweiten Stock des mumok. Wer bei diesem Streifzug durch 40 Jahre Schaffen mit einer klassischen Retrospektive rechnet, wird aber nicht fündig werden. Tillmans, der seine Bilder immer selber hängt, präsentiert bewusst keine Chronologie, sondern zeigt auf den ersten Blick bunt durcheinandergewürfelte Bilderwelten – Bilder von Landschaften, Architekturen, Gegenständen und Himmelserscheinungen im Groß- und Kleinformat, gerahmt und ungerahmt, vergrößert und verkleinert oder einfach mit Klebeband an die Wand geheftet.

Ihr gemeinsamer Nenner: eine gewisse Beiläufigkeit. Der Blick ist einfühlsam, nachdenklich und geduldig und immer entschieden unbestimmt. Tillmans bewundert die Schönheit eines vom Wasser umspülten Gesteinsbrockens ebenso wie ein filigranes Netzwerk aus Kabeln, das sich von einem Lautsprecherturm hinunterzieht.

Alles ist verbunden

Im großen mumok-Raum verzichtet man ganz auf Trennwände – wodurch im Tillman’schen Assoziationsraum alles potenziell verbunden ist. Betritt man die Schau, sticht etwa ein Großformat ins Auge, das eine nackte, muskulöse Schulterpartie mit einer darauf abgestützten Hand zeigt. Ein Stück weiter hängt eine Baustellendetailaufnahme mit einem Betonstrahl, der auf Metallverstrebungen schießt. Die flüssige Masse wird auf dem Foto zur monumentalen Säule.

Mit studiert lässigem, um nicht zu sagen zurückhaltendem Look bannt Tillmans auf ganz unterschiedliche Weise Vergänglichkeit aufs Bild – und zeigt sie in ihrer ganzen Schönheit. Da die verwandelbare Materie, dort der gestählte, aber verletzliche Körper. Eine Meditation zur jeweils spezifischen Oberfläche.

Mit seinen frühen Momentaufnahmen ist Tillmans oft als Porträtist und Chronist seiner Szene interpretiert worden – so wie die Instagrammer heute? Im ORF.at-Gespräch verwehrt sich der Künstler gegen diese Interpretation: „Ich habe nicht mein Leben fotografieren wollen, was oft als Tagebuch, als diaristische Praxis beschrieben worden ist. Ich hatte immer das Übersetzen des Persönlichen im Kopf. Das ist diametral entgegengesetzt zur Intention der meisten Social-Media-Posts“, so der selbst auf Instagram sehr aktive Tillmans. Ihm gehe es nicht um das „Ich“.

Verpixelte Sternenbilder

Was Tillmans’ Fotos außerdem noch auszeichnet, ist Medienreflexivität: So holt er seine Bilder aus der sentimentalen Zeugenschaft. Nicht jeder Stern auf den Himmelsaufnahmen ist natürlich, vieles sind die Pixel, die erst durch das Aufblasen entstehen. Der tropische Regensturm auf einem dunkelgrünen Dschungelstück präsentiert sich etwa in Form von kleinen, punktförmigen Wassertropfen, festgehalten durch die kurze Belichtungszeit.

Ausstellungshinweis

„Wolfgang Tillmans: Schall ist flüssig“, bis 22. April 2022 im Mumok Wien. Die Ausstellung wird nach Ende des Lockdowns eröffnet.

„Die allgemeine Sehgewohnheit weiß, dass Regen Linien sind. Das Interessante ist, dass auf diesem Bild der Regen tatsächlich zu Punkten wird. Also zu dem, was Regen eigentlich ist“, so Tillmans dazu. Ihm gehe es um „Randbereiche des Sichtbarmachens, des Sichtbarwerdens“.

Daneben hängt das Foto eines Musikrekorders, der wohl den Sound zum Regenguss liefert – womit ein weiteres Element im Mikrokosmos des Künstlers angesprochen ist. Seit jeher mit der Musikwelt verbunden, veröffentlichte Tillmans erst im November sein erstes Album „Moon in Earthlight“, zu hören nun in einer Sound-Video-Installation im mumok-Untergeschoß.

Politisch aktiver Geist

Tillmans’ fotografischer Blick ist kein distanzierter Blick auf die Welt, sondern einer, der einen involviert und in Beziehung treten lässt: Fotos von LGBTQ-Flüchtlingen in einem ugandischen Refugee Camp und von frühen „Black Lives Matter“-Demos zeigen den Künstler als politisch aktiven Geist.

Das Engagement reicht weit über die Kunst hinaus: Im Vorfeld des Brexit-Referendums engagierte sich Tillmans mit einer aufsehenerregenden „Remain“-Kampagne. Seit letztem Jahr macht er sich für unabhängige Veranstaltungsorte stark, die durch die Covid-19-Pandemie um ihre Existenz fürchten.

Was der mumok-Schau gelingt, ist, dass sie scheinbar ganz spielerisch auf unterschiedlichen Ebenen wirkt: Man kann Verbindungen zwischen den Motiven suchen, tief eintauchen in Fragen der eigenen Betrachterposition oder der Wirkweise von Medien – oder man schaltet den Kopf aus und genießt den speziellen Charme und die Schönheit von Tillmans Momentaufnahmen. Eine Empfehlung vielleicht auch für den Weihnachtsstress, nach dem Lockdown.