The Beatles bei ihrem letzten Live-Konzert auf einem Dach in London
2021 Apple Corps Ltd.
„Get Back“

Hautnah an den Beatles

Als die Beatles 1969 ihr letztes Album „Let it Be“ aufnahmen, zeichnete eine Filmcrew die Sessions auf. Nun hat „Herr der Ringe“-Regisseur Peter Jackson aus dem Material eine achtstündige Doku mit einzigartigen Einblicken geschnitten. Für Fans voller spannender kleiner Details wie den Geburtsmomenten großer Hits, bietet „Get Back“ eine ausgedehnte Momentaufnahme dieser konfliktbehafteten Wochen.

Womöglich wird es der letzte gemeinsame Liveauftritt der Beatles, so viel ist von Beginn an klar. Seit drei Jahren haben die Musiker nur noch im Studio gearbeitet, nun wünscht sich Paul McCartney noch einmal ein Konzert. Eine Livefernsehshow vielleicht? Oder, damit es ordentlich Lärm macht, ein illegaler Auftritt in den Houses of Parliament, womöglich von der Polizei noch gitarrespielend rausgetragen, wie John Lennon scherzt? Oder, etwas konventioneller, in einem Kinderkrankenhaus oder einem Waisenhaus?

Gemeinsam begeben sich die vier Musiker am 2. Jänner 1969 in eine Halle in den Twickenham Film Studios und beginnen mit Proben für ein Album, das erst in Fragmenten existiert und in den folgenden Wochen nach und nach Form annehmen wird. Abschluss wird ein legendäres Konzert sein, das schließlich nicht vor kranken Kindern, sondern vor Passantinnen und Passanten und unter enormer Polizeipräsenz auf dem Dach des Hauptquartiers von Apple Corps stattfindet, dem Unternehmen der Beatles.

Paul McCartney, George Harrison, Ringo Starr und John Lennon
2021 Apple Corps Ltd./Linda McCartney
Kuscheln im Studio: Letzte Harmonien auf „Let it Be“, kurz vor dem Auseinanderbrechen der „Fab Four“

Im Studio anwesend war auch eine Filmcrew unter Regisseur Michael Lindsay-Hogg, der mit seinen Kamera- und Tonleuten täglich alle Konflikte, Song-Geburten, Blödeleien und musikhistorischen Momente aufzeichnete, und aus dem Material die 81-minütige Doku „Let it Be“ schnitt, die 1970 Premiere feierte, jedoch ohne dass eines der Bandmitglieder daran teilgenommen hätte. Bei Fans gilt der Film als trauriges Dokument des Auseinanderbrechens der Band, für die „Beste Filmmusik“ gab es 1971 aber einen Oscar.

Epische Studioaufnahmen

Dass in den vielen Dutzend aufgenommenen Stunden Material aber auch eine erhebende Geschichte verborgen lag, davon war man bei Apple Corps überzeugt, jener Firma, die nach wie vor alle kreativen und geschäftlichen Interessen der noch lebenden Bandmitglieder vertritt. Apple Corps ist seit Jahrzehnten damit befasst, noch aus den improvisiertesten Aufnahmen Alben zu machen, denen allerdings nur noch hartgesottene Fans echten Genuss abringen können.

Mit einer Neuevaluierung der Aufnahmen wurde Peter Jackson beauftragt, berühmt für seine „Herr der Ringe“-Trilogie und berüchtigt für epische Filmlängen. Unter seiner Regie ist nun ein neuer Dokumentarfilm entstanden, an die acht Stunden lang, der in drei Teilen auf der Streamingplattform Disney Plus veröffentlicht wird. Sein Gespür für Archivaufnahmen hat Jackson 2018 mit dem Erster-Weltkrieg-Dokumentarprojekt „They Shall not Grow Old“ bewiesen, für das er Filmaufnahmen von der Front in Frankreich nachbearbeitet und mit sensationellen Zeitzeugenberichten aus dem BBC-Audioarchiv unterlegt hatte.

„Eine der fruchtbarsten Phasen“

Bei der Zusage zu dem Beatles-Projekt hatte Jackson nach eigenen Angaben gezögert, als selbst erklärter Fan, der das „Let it Be“-Album immer zwiespältig betrachtet hatte und Sorge hatte, auch das Filmmaterial sei melancholisch und düster. Er war jedoch überrascht: „Ich glaube nicht, dass es noch eine andere Drei-Wochen-Periode in der Geschichte der Beatles gab, die kreativer und fruchtbarer war“, so Jackson: „Das ist nicht der deprimierende Bruch der Beatles, der in miesen Aufnahmen resultiert hat, sondern tatsächlich eine der intensivsten Phasen des Songwritings, der Proben und Aufnahmen, die sie womöglich je hatten.“

„Get Back“ – so sollte nach McCartneys Wunsch ursprünglich auch das Album heißen, im Sinne eines „Zurück zu den Wurzeln“ – ist nun das Ergebnis von Jacksons Bemühungen, aus den über 60 Stunden Filmmaterial ein möglichst intensives Filmerlebnis zu gestalten. Vor allem in den ersten Tagen in den Twickenham Film Studios – später wechseln die Beatles für die Aufnahmen ins Studio von Apple Corps – ist das ein ausgesprochen retro-buntes Schauerlebnis.

Nur auf den ersten Blick wirken die Aufnahmen improvisiert, der Hintergrund ist sorgfältig in pudrigen Regenbogenfarben ausgeleuchtet. Jemand platziert täglich eine Vase mit frischen Mini-Osterglocken in Gelbgrün zu Ringo Starrs Füßen, die Blüten bilden zum rosavioletten Hintergrund einen reizvollen Kontrast. Irgendwann werden die Blumen zum Running Gag, wenn Ringo den Strauß des Tages wie ein Hochzeitsbukett überreicht bekommt, weil sonst niemand eine Hand freihat.

Konflikte im Studio

George Harrison, der sich von McCartney bevormundet fühlt und immer stiller wird, verlässt irgendwann fast wortlos das Studio, „Cut, cut“ ruft jemand, da soll nicht mitgefilmt werden, erst Tage später ist er wieder an Bord. „Wenn er nicht zurückkommt, holen wir halt Eric Clapton“, sagt Lennon, vermutlich ist es nur ein Witz. Von den Spannungen weiß man längst, hier wird ihnen aber genau nachgespürt. Auch dass Yoko Ono immer mit dabei sitzt, sorgt für Konflikte unter den „Fab Four“.

Paul McCartney und John Lennon beim Proben
2021 Apple Corps Ltd.
Wo ist George? Harrison wurde es bei den Studio-Sessions zu viel, wie „Get Back“ zeigt

Als Lennon eines Morgens nicht auftaucht im Studio, spricht Paul aus, was auch die anderen denken: Wenn es hart auf hart kommt und John sich zwischen Yoko und den Beatles entscheiden muss, wird Yoko gewinnen. Was weniger bekannt ist: Wie groß Onos Geduld gewesen sein musste, bei diesen wochenlangen Sessions auszuharren. Das wird hier sehr deutlich spürbar, denn vor allem ist die „Get Back“-Doku lang und mäandernd. Womöglich sind die Beatles längst nicht mehr als Band aus realen Personen, sondern als historisches Phänomen zu betrachten, wie Lady Diana oder John F. Kennedy.

Spurensuche im Material

„Get Back“ ermöglicht durch die extensive Laufzeit eine Spurensuche nach Mustern, Konflikten und Song-Geburten. Was für die kompetente Beatles-Exegese ein Geschenk ist, wird für alle anderen eher zum sanft kuratierten Dahinplätschern: Kurze Text-Inserts benennen Personen und Songs, Fotoeinblendungen erläutern historische Kontexte wie etwa den virulenten Rassismus und die resultierenden Unruhen in Großbritannien, die sich im unveröffentlichten Song „Commonwealth“ niederschlagen und auch aus „Get Back“ zwischendurch einen antirassistischen Protestsong machen.

Dann wieder blitzen Kleinode auf wie ein an der Gitarre wimmernder und summender McCartney, der seiner Stimme bei „Get Back“ nachhorcht. Jener geheimnisvolle Moment, in dem ein Song entsteht, in dem sich zaghaftes oder beherztes Herumprobieren allmählich zu dem formt, was später ein Hit ist, der Moment, den Filme über Musikerinnen und Musiker immer wieder zu rekonstruieren versuchen, der so schwer fassbar ist: Hier ist er dokumentiert, in Echtzeit.