Deutsche Koalitionsverhandler im Westhafen von Berlin
Tobias Schwarz / AFP / picturedesk.com
Deutschlands neue Koalition

Die Bildsprache einer Wende

Wenn die neue deutsche Koalition eines seit der ersten Kontaktaufnahme und aus schmerzlichen Erfahrungen des Wahlkampfs gelernt hat, dann das: Man muss die Hoheit über die eigene Erzählung behaupten. Das heißt auch: Möglichst die Bilder zu steuern, die sich die Öffentlichkeit von der „Ampel“ macht. Und zumindest das scheint gelungen. Seit Mittwoch steht die Koalition, die bei ihrem ersten Gang an die Öffentlichkeit aussah, als wären es die neuen Ermittler eines Serienformats. Berlin 2021 ist offenkundig: „Brooklyn Nine-Nine“.

Wie verärgert waren die etablierten Medien, als die Verhandler der deutschen Politzukunft in Zeiten von Instagram und Co. das Heft des Handelns in die Hand nahmen. Über ein Instagram-Posting verbreitete Grünen-Chefin Annalena Baerbock, dass sich die Key-Player in der Aushandlung einer neuen Koalition vorab getroffen hätten. Und das waren, wie FDP-Chef Christian Lindner schon im Wahlfinale verkündet hatte: die Grünen und die FDP. Sie mussten und wollten gemeinsam herausfinden, ob man mit der SPD oder mit der Union ein Dreierbündnis schmieden würde. Und sie nahmen rasch das Heft des Handelns in die Hand.

Den Move der Offensive, den deutete man in diesem Fall selbst und verbreitete ihn über Instagram. Ein Schachzug. Und eine programmatische Ansage, die bis zum Finale der Koalitionsverhandlungen halten sollte. Hier wollten einander Politikerinnen und Politiker auf Augenhöhe treffen. Und zumindest nicht in der Öffentlichkeit und auf offener Bühne streiten.

Deutsche Koalitionsverhandler im Westhafen von Berlin
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Jedes Bild hat mindestens zwei Seiten: So auch das der Koalitionsheldinnen und -helden

„Das Selfie der vier Kleinkoalitionäre ist ein mediales Meisterstück“, kommentierte die Eliteeinheit der „Süddeutschen Zeitung“, die Seite-drei-Redaktion, die damalige Kontaktaufnahme der „Kleinkoalitionäre“, auch „Zitruskoalition“ genannt: „Während Fernsehkameras unablässig umherschwenken, um aus dem parlamentarischen Leben dieser Tage möglichst symbolschwere Bilder zu ziehen, produzieren vier Politiker eigenhändig das Foto der Woche.“ Der Untertext im Artikel, der den „dialektischen Witz“ hinter dieser Szenerie lobte: Auch wir vom reflektierten Edelprint waren in Zeiten sozialer Netzwerke außen vor.

Bis zum Schluss der Verhandlungen jedenfalls hat man die Nummer der neuen deutschen Sachlichkeit und Contenance durchgehalten – eher sickerten schon Missstimmungen innerhalb einer Partei nach außen, etwa die gereizte Stimmung zwischen dem Habeck- und dem Baerbock-Lager bei den Grünen. Der „Spiegel“ bediente diese Nummer gut.

Scholz kippt die Politik Schröders und behält Merkels Raute

In der SPD hat sich die Ruhe der Raute, die der künftige Kanzler Olaf Scholz geschickt von Angela Merkel in seine Partei trug, durchgesetzt. Man könnte darin eine späte Rache an der beinahe ewigen CDU-Kanzlerin sehen, hatte doch Merkel zu Beginn alle Errungenschaften der Ära Schröder übernommen, für die der SPD-Kanzler noch abgestraft wurde. Und jetzt Scholz: Er übernimmt die Symbolsprache von Merkel. Und schafft die Politik des letzten SPD-Vorgängers im Kanzleramt kurzerhand ab. Mindestlohn, Ende von Harz IV, Raute – das ist die neue Wende in Deutschland.

Am Mittwoch wählte man nach dem Erfolg der Verhandlungen dann einen Ort in Berlin, der mindestens so charmant aussieht wie die Stadt Duisburg. Im Westhafen schritt die Spitze der Verhandler und Parteien den Kai der Presseabsperrung entgegen. Scholz darf als Kanzler mit Richtlinienkompetenz den rechten Arm erheben und den Zeigefinger Richtung Zukunft strecken. Die anderen marschieren lächelnd mit. Sogar Norbert-Walter Borjans und SPD-Bundesgeschäftsfüher Lars Klingbeil sehen passend und glücklich aus.

Die Szene erinnert an die US-Comedy-Serie „Brooklyn Nine-Nine“: Ein strammer, aber etwas langweiliger Aufräumer kommt ins Polizeidepartment 99, wo Chaos, aber auch einiges an Fröhlichkeit herrschte. Department 99 sollte das sicherste Revier des NYPD werden. Sollte.