Man mit Lira-Banknoten vor einer Wechselstube
APA/AFP/Yasin Akgul
Währungskrise

Türken geben Lira für Dollar auf

Eine Währungskrise erschüttert die Türkei. Präsident Recep Tayyip Erdogan scheint nicht imstande zu sein, den rapiden Verfall der Lira zu stoppen. Das Vertrauen der Türkinnen und Türken in die Regierung ist mittlerweile sogar derart gering, dass viele damit begannen, US-Dollar zu kaufen. Inzwischen patrouilliert die Polizei in Teilen Istanbuls, während sich das Land auf die dritte Nacht mit Protesten vorbereitet.

Seit Erdogan nach dem Putschversuch 2016 seine Macht einzementierte, gab es nur wenige größere Proteste. Auch jetzt treten Demonstrationen nur vereinzelt in den größeren Städten des Landes auf, doch sollte man sie im Auge behalten. Denn lange vorbei sind die Zeiten, in denen die Menschen in der Türkei das Gefühl hatten, Teil einer stabilen Wirtschaftsmacht zu sein. Die Zivilbevölkerung begibt sich auf die Straße, da etliche Personen der Mittelschicht zunehmend ihre Ersparnisse verlieren. Indes sinkt der Wert der Lira weiter.

Die Regierung will die Demos vermeiden, indem sie die Polizei kritische Social-Media-Konten auf „manipulative Inhalte“ über den historischen Absturz der türkischen Währung durchforsten lässt. Nach Angaben des „Wall Street Journals“ („WSJ“), das eine lokale Anwaltsvereinigung zitierte, nahm die Polizei in Istanbul bei der Niederschlagung der Proteste am Mittwochabend mindestens 55 Personen fest.

Zentralbank: 59 Prozent Anleihen in Fremdwährungen

Die rasante Talfahrt der Türkischen Lira – 13 Prozent in diesem Monat und etwa 38 Prozent seit Jahresbeginn – führte dazu, dass Türkinnen und Türken ihre Lira vorwiegend in Dollar, Euro und andere Währungen umtauschen. Fremdwährungen stiegen in der letzten Woche bis zum 19. November um fast eine Milliarde Dollar, wie aus den von der Türkischen Zentralbank am Donnerstag veröffentlichten Daten hervorgeht.

Mann wird während Demonstration in Istanbul festgenommen
AP/Emrah Gurel
In Istanbul regt sich seit Mittwoch Protest gegen Erdogan

Etwa 59 Prozent der Bankeinlagen von Privatkunden und -kundinnen seien nun in Fremdwährungen, so die Daten der Zentralbank. Das hohe Niveau der Fremdwährungseinlagen mag das mangelnde Vertrauen der Bevölkerung in die Fähigkeit der Regierung unterstreichen, die Wirtschaft zu steuern.

Erdogan gegen Erhöhung der Zinssätze

Ausländische Investorinnen und Investoren sowie auch Türkinnen und Türken flüchten aus der Lira, seit Erdogan den früheren Gouverneur der Türkischen Zentralbank, Naci Agbal, entlassen hatte, weil dieser im März die Zinssätze erhöht hatte. Erdogan hatte daneben noch eine Reihe von Spitzenbeamten entlassen, die ihn an der Senkung der Zinssätze gehindert hatten.

Zentralbanken erhöhen in der Regel die Zinssätze, um die Inflation zu bekämpfen, in der Hoffnung, die Nachfrage nach Krediten abzukühlen. Doch die türkische Währung brach ein, nachdem die Zentralbank dem Druck Erdogans nachgegeben hatte, die Zinssätze zu senken, um das Wachstum trotz steigender Inflation anzukurbeln. Die jüngste Zinssenkung am 18. November brachte die Türkei näher denn je an eine Wirtschaftskrise.

Türkischer Präsident Tayyip Erdogan
Reuters/Umit Bektas
Erdogan bezeichnet die Lage als „wirtschaftlichen Unabhängigkeitskrieg“

Doch die Regierungspartei AKP leugnet die Krise. „Der Bankensektor ist einer der stärksten in der Türkei. Es gibt keine Probleme, es gibt keine Notlage“, sagte etwa der Gouverneur der Zentralbank, Sahap Kavcioglu, nach einer Sitzung der Bankenaufsicht am Donnerstag. Kavcioglu ist ein ehemaliger Beamter von Erdogans Partei, den der Präsident im März ernannt hatte. Auch Erdogan selbst verteidigte seine Politik in einer Rede Anfang der Woche und sagte, die Türkei führe einen „wirtschaftlichen Unabhängigkeitskrieg“.

Diese Äußerungen ließen die Lira weiter sinken. Und trotz des Absturzes kündigte Erdogan weitere Zinssenkungen an. „Der Leitzins wird sinken. Wir werden nicht zulassen, dass hohe Zinsen unser Volk und unsere Bauern zermürben“, sagte Erdogan am Freitag.

„Nicht ideal“, auch nicht für starke Unternehmen

Die Probleme mit der Lira belasten den Unternehmenssektor des Landes auf breiter Front. Den Daten der Zentralbank zufolge haben türkische Unternehmen in der vergangenen Woche ihre Fremdwährungseinlagen um fast eine Milliarde US-Dollar reduziert, das könnte ein Zeichen für einen schwächer werdenden Zugang zu externem Kapital sein.

Mann kauft in einer Fleischerei ein
Reuters/Murad Sezer
Berichten zufolge macht sich ein sinkender Lebensstandard in der Mittelschicht bemerkbar

„Selbst wenn man ein starkes türkisches Unternehmen ist, war diese Woche nicht gerade ideal“, sagte Edward Glossop, Wirtschaftsexperte für Schwellenländer bei der Investmentgesellschaft Abrdn zum „WSJ“. Die Unternehmen würden wahrscheinlich eher auf ihre Reserven zurückgreifen, als dass sie sich neue Mittel auf den Kapitalmärkten beschaffen würden, sagte er.

Opposition fordert Neuwahlen

Führende Vertreterinnen und Vertreter der türkischen Opposition forderten diese Woche erneut vorgezogene Neuwahlen und warfen Erdogan wegen seiner Wirtschaftspolitik Verrat vor. „Es gibt eine große Glaubwürdigkeitslücke. Diese Glaubwürdigkeitslücke wird immer größer“, so Omer Gencal, ehemaliger leitender Angestellter der türkischen Niederlassung der HSBC-Bank. „Die Menschen fühlen sich nicht wohl.“

Die Unzufriedenheit über den Zustand der Wirtschaft bedroht Erdogans Machterhalt, da selbst seine wichtigsten Anhängerinnen und Anhänger mit dem sinkenden Lebensstandard zu kämpfen haben. Jüngste Meinungsumfragen zeigen, dass Erdogans Regierungskoalition gegen ein Oppositionsbündnis bei Wahlen verlieren könnte.