Menschen warten in einer Schlange vor einer Impfstraße
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Impfen

Das braucht es für den letzten Ruck

Ob neue Impfstoffe, mehr Beratungsgespräche oder Ausbau niederschwelliger Angebote – die Möglichkeiten, die Coronavirus-Impfquote anzuheben, sind noch nicht ausgeschöpft. Das meinen mehrere Fachleute im Gespräch mit ORF.at. Geimpfte und Ungeimpfte gegeneinander auszuspielen sei hingegen wenig hilfreich, hieß es in Richtung Regierung.

Trotz oder gerade auch wegen der bevorstehenden Impfpflicht müsse nun alles darangesetzt werden, noch möglichst viele Menschen zur Impfung zu motivieren, so die Expertinnen und Experten zu ORF.at. Während die Ankündigung der Impfpflicht bei einem Teil der noch nicht Geimpften Wirkung zeigen dürfte, befeuere sie zugleich Ängste wie auch Trotzverhalten unter vielen anderen, heißt es.

Die Gruppe der Ungeimpften ist immerhin äußerst heterogen. Grob teilt sie sich in hartgesottene Impfgegner und Zögerliche, die sich etwa aus Ängstlichen, der Medizin gegenüber Skeptischen und jenen mit geringem Risikobewusstsein zusammensetzen.

Ungeimpfte nicht „als unmoralisch brandmarken“

Gar nicht impfbereit dürften laut Daten des Austrian Corona Panel von Anfang November 14,5 Prozent der Wohnbevölkerung ab 14 Jahren sein. Die Politologin Barbara Prainsack, die auch Teil der Bioethikkommission ist und an mehreren Studien zum Thema forscht, geht hingegen davon aus, dass der Anteil der Impfverweigerer bei maximal zehn Prozent liegt. Für manche, die derzeit in diese Kategorie fallen, sei ihre Einstellung nämlich „Ausdruck einer politischen Frustration. Die könnten sich unter Umständen noch impfen lassen“, betont Prainsack gegenüber ORF.at.

Kritisch zeigten sich die Fachleute daher hinsichtlich spaltender Aussagen der Regierung wie auch der Rolle von impfskeptischen Parteien wie der FPÖ und MFG – das Vertrauen in die Politik habe in der Pandemie ohnehin stark gelitten, so der Tenor. „Was ich der Politik empfehlen würde sofort zu unterlassen ist, die Ungeimpften als unmoralisch zu brandmarken“, sagt der Sozialforscher Christoph Hofinger (SORA) dazu in Richtung Regierung.

Dadurch würde „noch mehr Entfremdung zwischen politischen Eliten und den Menschen, die noch nicht geimpft sind, erzeugt“, sagt er im ORF.at-Interview. Das erzeugt „noch mehr Reaktanz (Trotzverhalten)“, so der Experte weiter. Es sei eine „Bürde aus den letzten Jahren Politik, Menschen in moralisch gut Handelnde und moralisch schlecht Handelnde zu unterteilen“.

Impfung als „kleiner Schritt“

Vielmehr gehe es nun darum, ein „starkes Wir-Bewusstsein“ zu schaffen und „auf Basis der geteilten Werthaltungen auch geteilte Ziele ins Auge zu fassen“, so Hofinger. Es solle vermieden werden, dass noch nicht Geimpfte eine starke gemeinsame Identität bilden.

Auf individueller Ebene müsse es Ungeimpften daher möglichst leicht gemacht werden, sich „ohne Gesichtsverlust“ für die Impfung zu entscheiden, so Hofinger mit Verweis auf Erkenntnisse der Verhaltensforschung und Persuasionspsychologie. „Der Schritt von meiner Identität als Ungeimpfter zu meiner Identität als Geimpfter darf nicht als enorm groß empfunden werden, sondern als pragmatische Entscheidung.“

Briefe für Ungeimpfte

Expertinnen und Experten heben in dem Zusammenhang immer wieder die Bedeutung niederschwelliger Impfangebote hervor – also Impfen beim Hausarzt oder der Hausärztin, durch Impfbusse oder Impf-„Bims“ sowie generell Angebote, die keinen Termin erfordern.

In Wien und Tirol ist man jüngst dazu übergegangen, noch nicht Geimpften automatisch Impftermine zu buchen – Anfang Dezember dürften Ungeimpfte im ganzen Land Briefe mit Impfterminen erhalten. Das soll laut Ankündigung von Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein (Grüne) im Zuge einer Aktion des Dachverbands der Sozialversicherung geschehen. Jene Strategien wurden in anderen Staaten schon vor Monaten angewandt. Auch Impflotterien, wie jene im Burgenland, Oberösterreich und dem ORF, könnten effektiv sein.

Neue Impfstoffe als Chance

Nicht zu unterschätzen sei auch die Rolle, die noch nicht zugelassene Impfstoffe – wie der Totimpfstoff von Valneva und der proteinbasierte Impfstoff von Novavax – für einen großen Teil der bisher noch Zögerlichen spielt, hält der Kommunikationswissenschaftler Jakob-Moritz Eberl vom Austrian Corona Panel Project gegenüber ORF.at fest.

Im Zuge einer Befragung des ACPP gaben immerhin rund 34 Prozent der Ungeimpften an, dass sie noch auf andere Impfstoffe warten würden. Wenngleich von fachlicher Seite die Entscheidung allein für ein proteinbasiertes Vakzin oder einen Totimpfstoff wenig begründbar ist, warnt Eberl davor, sich über Leute, die jene Impfstoffpräparate bevorzugen, lustig zu machen.

Ähnlich sieht das Meinungsforscher Hofinger: Für Menschen, die sich in ihrem Umfeld kritisch zu den bisher zugelassenen Impfstoffen geäußert haben, seien neue Impfstoffe – die weder in die Kategorie mRNA- oder Vektor-Impfstoff fallen – eine gute Option. „Menschen haben ein ganz großes Bedürfnis, konsistent zu sein. Je mehr sie sich gezwungen sehen, das Nichtimpfen in ihrer sozialen Umgebung zu verteidigen, desto schwieriger ist es, aus einem Guss zu handeln, wenn man sich dann doch impfen lässt“, so der Experte. Die Konsistenz und Kohärenz im Handeln könne über solche Impfstoffe aufrechterhalten werden.

Impfpflicht-Effekt

Barbara Juen, Gesundheitspsychologin an der Universität Innsbruck, erwartet hingegen, dass allein die Tatsache, dass eine Impfpflicht vor der Tür steht, für einige ausreicht, um sie nun doch zur Impfung zu motivieren. Die Bedeutung von Beratung und Kommunikation dürfe dennoch nicht vergessen werden: „Für diejenigen, die Angst haben, die kein Vertrauen haben, für die, deren Risikobewusstsein gering ist – für die geht es darum, dass ihnen zugehört wird und dass ihre Bedenken ernst genommen werden“, so Juen.

Konkret brauche es jetzt wie auch nach Einführung der Impfpflicht zielgruppenorientierte Kommunikation unter Einbindung des Gesundheitspersonals. Das Gesundheitspersonal sei es schließlich, das tagtäglich über Falschmeldungen, Verschwörungsmythen und Nebenwirkungen aufklären müsse, so die Gesundheitspsychologin. Hilfreich könnten neben Ärztinnen und Ärzten laut Sozialforscher Hofinger zudem „Community Leader“ – also Personen, die in einer Gemeinschaft großes Ansehen und Vertrauen genießen – sein. Als Beispiele nennt er Promis, Pfarrer oder Imame, wie auch Influencer.

Eine besonders „starke Wirkung“ hätten auch Menschen, die sich in der Szene bisher gegen die Impfung aussprachen, inzwischen aber ihre Meinung geändert haben, sagt die Psychologin und Psychotherapeutin Ulrike Schiesser, die bei der Bundesstelle für Sektenfragen arbeitet.

Junge im Fokus

Die Daten machen jedenfalls deutlich, dass sich derzeit vor allem unter den jüngeren Bevölkerungsgruppen viele Ungeimpfte finden. Kommunikationswissenschaftler Eberl, der einmal mehr zielgruppenspezifische Aufklärungsvideos fordert, sieht das mitunter darin begründet, dass die Regierung den Sommer verschlafen und nicht ausreichend über die Sorgen (Stichwort Fruchtbarkeit) aufgeklärt sowie mit der Mär, dass Junge nicht so schwer erkranken können, aufgeräumt habe.

Tatsächlich ergab eine parlamentarische Anfragenbeantwortung, dass die Ausgaben für „Österreich impft“-Inserate im Sommer im Vergleich zu den Vormonaten stark zurückgefahren wurden. Die Regierung argumentiert, dass mit dem Sommer gerade auf die Jüngeren ein stärkeres Augenmerk gelegt worden sei.

Plädoyer für Beratungsgespräche

Politologin Prainsack und auch Sektenexpertin Schiesser verweisen ebenso auf die Bedeutung guter Beratung. Schiesser drängt darauf, dass vor allem noch vor Einführung der Impfpflicht verstärkt auf Beratungsgespräche gesetzt werde, „damit sich die Menschen von der Impfpflicht nicht völlig an die Wand gedrückt fühlen“. Für viele sei nämlich nach wie vor nicht klar, warum sie sich impfen lassen sollen.

„Die meisten Menschen können mit Wahrscheinlichkeiten schlecht umgehen“, erklärt Schiesser. „Sie unterschätzen die Krankheit, überschätzen die Gefahr der Impfung und können zugleich über den Akt der Impfung entscheiden. Da hat es eine gewisse Logik, dass sie sich eher fürs Abwarten entscheiden“, so die Expertin.

Impfpflicht „keine Wunderwaffe“

Prainsack hätte anstatt der Einführung der Impfpflicht überhaupt auf eine Beratungspflicht gesetzt. „Ich denke, dass die Effektivität eines solchen Instruments nicht weit unter einer generellen Impfpflicht liegen würde“, so die Expertin. Die Impfpflicht hält sie hingegen für ein „sehr invasives Politikinstrument“, das zugleich keine „Wunderwaffe“ sei.

Auch in einer Auswertung zu den Vor- und Nachteilen der Impfpflicht von Studienautoren rund um die renommierte deutsche Gesundheitspsychologin Cornelia Betsch werden die positiven Effekte einer Beratungspflicht, die sich etwa mit einer Terminpflicht umsetzen ließe, betont.

Kritisch zur Impfpflicht äußerte sich auch Hofinger. Er hält Vergünstigungen für Geimpfte im Stile des Mutter-Kind-Passes, an den die Höhe des Kinderbetreuungsgeldes gekoppelt ist, für sinnvoller als Strafen für Ungeimpfte. Wer als Ungeimpfter nämlich eine Strafe auf sich nehme, der hat damit ein „Commitment“ (Bekenntnis) zu einem Verhalten, das zuvor vielleicht gar keine emotionale Bedeutung hatte.

Impfgegner: „Der stete Tropfen höhlt den Stein“

Letztlich bleibt aber noch eine kleine Gruppe an radikalen Impfgegnern – darunter viele mit Hang zu Verschwörungsfantasien –, die durch Kommunikation und über traditionelle Medien gar nicht mehr erreichbar ist. „Jene Menschen erreicht am ehesten noch das direkte Umfeld“, berichtet Schiesser von ihren Erfahrungen bei der Sektenberatung.

„Darum versuchen wir die Angehörigen auch immer noch zu ermutigen, noch in Kontakt zu bleiben. Der stete Tropfen höhlt den Stein“, so die Expertin. Es gehe einerseits darum, die Bindung aufrechtzuerhalten und Brücken zu bauen sowie andererseits darum, auch immer wieder auf Konfrontationen zu setzen und Grenzen zu ziehen. „Man muss sich immer zwischen den beiden Polen bewegen.“ Langfristig könne auch das noch ein Umdenken bewirken.

„Die Pandemie wird irgendwann vorbei sein. Das Problem der Impfung wird irgendwann hinter uns liegen – aber diese Gruppe, dieser extreme Vertrauensverlust dieser kleinen Gruppe der Bevölkerung wird bestehen bleiben“, fasst Eberl zusammen. „Ich sehe derzeit keinen Versuch, allgemein als Gesellschaft Resilienz aufzubauen, sodass wir die wieder zurückholen können.“