Klimaschutzministerin Leonore Gewessler (Grüne)
ORF
Aus für Lobautunnel

Gewessler sieht Kompetenz klar bei sich

Nach der Entscheidung, den Bau des Lobautunnels nicht zu erlauben, wartet nun eine schwierige Aufgabe auf Klimaschutz- und Verkehrsminsterin Leonore Gewessler (Grüne): Einerseits muss sie ihre Entscheidung auch juristisch wasserdicht machen – die Stadt Wien und das Land Niederösterreich prüfen rechtliche Schritte. Und es muss eine Alternative entwickelt werden. Gewessler sieht jedenfalls die Kompetenz für die Entscheidung klar bei sich.

Das betonte Gewessler Mittwochabend im ZIB2-Interview mehrmals auf den Hinweis, dass es Fachleute gibt, die genau das in Zweifel ziehen würden. Sie verweisen einerseits darauf, dass die Fertigstellung des Wiener Umfahrungsrings im Bundesstraßengesetz festgeschrieben ist und andererseits die für das hochrangige Straßennetz zuständige ASFINAG mit einem Aufsichtsrat ausgestattet ist, der dem Ministerium gegenüber nicht weisungsgebunden ist.

Der Innsbrucker Verwaltungsrechtsexperte Peter Bußjäger betonte daher gegenüber der „Presse“, die einzig saubere Lösung sei eine Änderung des Bundesstraßengesetzes. Gegenüber dem Ö1-Morgenjournal sagte er, dass nach derzeitigem Stand ein „gesetzlicher Auftrag“ bestehe, den Bau „einfach so absagen“ könne Gewessler nicht. Es handle sich um eine „verbindliche Festlegung im Gesetz“. Das Terrain sei „heikel, wenn sie den Bau gänzlich absagt, ohne Alternativen in den Raum zu stellen“, so Bußjäger.

Dass der Koalitionspartner ÖVP bei einer Gesetzesänderung mitziehen würde, ist freilich mehr als fraglich. Gewessler begründete ihr Vorgehen damit, dass sie aus dem Regierungsprogramm den Auftrag habe, Österreich bis 2040 klimaneutral zu machen. Die ASFINAG müsse aufgrund des entsprechenden Ermächtigungsgesetzes konkrete Bauprojekte planen und entwickeln. Was umgesetzt werde, werde aber jährlich mit dem Ministerium abgestimmt, pochte Gewessler auf die konkrete Kompetenz bei der Entscheidung, was gebaut wird.

Auch die Unabhängigkeit und Weisungsungebundenheit des ASFINAG-Aufsichtsrats ist in den Augen Gewesslers für ihre Entscheidung keine Hürde. Denn der Aufsichtsrat müsse das Einvernehmen mit der Ministerin als Eigentümervertreterin der Republik herstellen.

Ministerin Gewessler zum Lobautunnel-Baustopp

Der Baustopp des Lobautunnels sei angesichts der Klimakrise ein „wichtiger und notwendiger Schritt“, sagte Umweltministerin Leonore Gewessler (Grüne). Im Interview nimmt sie zu ihrer Entscheidung Stellung.

Suche nach „Variante C“

Gewessler räumte zugleich ein, dass die betroffene Region – das Stadtenwicklungsgebiet ist mit 200.000 Einwohnerinnen und Einwohnern etwa so groß wie ganz Linz und das am schnellsten wachsende – eine starke Verkehrsanbindung braucht. Neben dem Ausbau des öffentlichen Verkehrs werden auch Straßen gebaut werden. Die Stadt Wien kündigte ja bereits an, die Stadtstraße – den Zubringer zur Umfahrung S1 – trotzdem zu bauen. Und Gewessler betonte erneut, dass die ASFINAG dann „natürlich“ die Anbindung bauen werde. Auf den Einwand, dass diese dann de facto im Nichts ende, wollte Gewessler nicht eingehen.

Die Klima- und Verkehrsministerin betonte, ab morgen arbeite man gemeinsam mit den Bundesländern an einer „Variante C“. Es gehe ihr darum, Klimaschutz und günstigen Wohnbau unter einen Hut zu bringen.

Folgenreiche Entscheidung und heftige Reaktionen

Das zuvor von Gewessler in einer Pressekonferenz verkündete Aus für den Lobautunnel rief emotionale Reaktionen hervor. Während Projektgegner jubelten, zeigte sich in der Politik ein differenziertes Meinungsbild. Eine erwartbar klares Kontra kam von der Wiener SPÖ: Bürgermeister Michael Ludwig ortete eine „Pflanzerei“ und kündigte die Prüfung „juristischer Maßnahmen“ an.

Die Projektevaluierung habe sich gegen einen Bau in dem Naturschutzgebiet ausgesprochen. Alle Planungs- und Baumaßnahmen würden eingestellt. „Mehr Straßen bedeutet mehr Autos. Mehr Straßen führt zu mehr Verkehr“, fasste Gewessler die Meinung der Expertinnen und Experten von Klimaschutzministerium, Umweltbundesamt und ASFINAG zusammen.

Mittwochabend kündigte Verkehrsstadträtin Ulli Sima (SPÖ) an, dass die Stadtstraße auf jeden Fall gebaut werden soll – mehr dazu in wien.ORF.at.

„Letztes Wort nicht gesprochen“

Zuvor hatte bereits Wiens Bürgermeister Ludwig seinerseits eine Pressekonferenz abgehalten und Gewesslers Entscheidung scharf kritisiert: Er sprach von einem „Schlag gegen die Lebensqualität der Menschen in Wien und in der Ostregion“ und kündigte das Prüfen „juristischer Maßnahmen“ an. Denn mit dem Aus würden sich Stau und schlechtere Lebensqualität ergeben. Auch kritisierte Ludwig den über viele Jahre geführten Evaluierungsprozess, der „nicht transparent“ gewesen sei – mehr dazu in wien.ORF.at.

Auch schoss er sich auf den Umstand ein, dass in dem Prozess zur Evaluierung keine Alternativen zu der nun abgesagten Variante genannt worden seien. „Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen“, so Ludwig, er sei „gespannt, wie die gesamte Bundesregierung reagieren wird.“

Ludwig sah in den von Gewessler vorgestellten Plänen, vor allem zur Umgestaltung der Wiener Stadtstraße, „eine gewisse Pflanzerei“. Denn nach diesen Plänen würde die Stadtstraße „irgendwo im Nirvana enden“. Ludwig sagte, dass das Lobautunnel-Projekt mehrfach von Expertinnen und Experten geprüft, nach Umweltkriterien angepasst und erst so beschlossen worden sei.

Wiens Bürgermeister Ludwig zum Aus für Lobautunnel

Für Wiens Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) ist mit der Absage des Lobautunnels durch Verkehrsministerin Leonore Gewessler (Grüne) „das letzte Wort noch nicht gesprochen“.

Ausdrücklich eine Klage wollte Ludwig bei der Pressekonferenz nicht ankündigen, er sprach von einer Prüfung dieser Option. Allerdings werde er „alle Möglichkeiten einsetzen, entsprechende Schritte zu setzen“, und erwarte noch eine lange Diskussion. Zu retten sei nicht die Lobau, sondern die Lebensqualität in der Stadt. Aus Niederösterreich hieß es während Ludwigs Pressekonferenz, man wolle rechtliche Schritte unterstützen – mehr dazu in noe.ORF.at.

„Erwartungen aus letztem Jahrtausend überholt“

Gewessler hatte bei ihrer Pressekonferenz davor auf die detaillierte Bewertung der Straßenbauprojekte und die Erstellung eines 150-seitigen Berichts verwiesen. „Die Erwartungen aus dem letzten Jahrtausend haben sich überholt und treffen heute nicht mehr zu“, so Gewessler. Entsprechend hab es Absagen auch für weitere Projekte: So wird etwa die S34 im niederösterreichischen Traisental nicht in der geplanten Form umgesetzt – mehr dazu in noe.ORF.at. Auch weitere Projekte standen auf dem Prüfstand – mehr dazu in vorarlberg.ORF.at.

Die ursprünglich geplante Wiener Nordostumfahrung sollte Teil der S1 und damit des „Regionenrings“ um die Bundeshauptstadt werden. Das Konzept sah sie als vierspurige Strecke mit 19 Kilometer Länge vor, die Schwechat und Süßenbrunn verbinden soll – und das auch mittels des Tunnels unter der Donau und der Lobau. Der südöstliche Teil der S1 (vom Knoten Vösendorf nach Schwechat) ist bereits seit 2006 in Betrieb.

Die Fortsetzung Richtung Nordosten entwickelte sich hingegen zum Marathon. Die Verfahren dauerten Jahre, immer wieder kam es zu Einsprüchen. Gegner des Projekts versuchten zudem bereits 2006, Probebohrungen mittels Besetzung zu stoppen.

Ursprünglich geplanter Verlauf der S1 Schwechat – Süßenbrunn und der Lobautunnel mit Anschlussstellen und Stadtstraße Seestadt

Wiener NEOS würdigt „richtige Entscheidung“

Während die Wiener SPÖ die Nordostumfahrung und den Lobautunnel stets als wichtige Verkehrsmaßnahme sah, zeigte sich NEOS, der aktuelle Regierungspartner der Stadt-SPÖ, erfreut über das Aus für das Projekt. Klubobfrau Bettina Emmerling sprach in einer Aussendung von einer „erwartbaren und richtigen Entscheidung“. NEOS verwies darauf, dass man das Projekt immer kritisch gesehen habe.

„Das Wichtigste ist: Jetzt herrscht Klarheit. Wir NEOS begrüßen die Entscheidung und fordern alle Beteiligten auf, jetzt rasch zu handeln, statt nachhaltige Lösungen durch Rechtsstreitigkeiten über Jahre zu verzögern“, zeigte sich Emmerling auch skeptisch gegenüber den in den Raum gestellten Klagen.

Blümel erwartet rasch Gespräche

Der Koalitionspartner der Bundesgrünen, die ÖVP, forderte Gespräche über das weitere Vorgehen. Finanzminister Gernot Blümel – der das Projekt stets befürwortet hat – hielt in einer Stellungnahme fest, dass sich seine Haltung grundsätzlich nicht geändert habe: „Es handelt sich um ein wichtiges und wesentliches Infrastrukturprojekt, das sowohl Anrainer entlastet als auch den Standort stärkt.“ Blümel weiter: „Wie auch bei der Steuerreform gehe ich davon aus, dass man auch bei diesem Thema einen gemeinsamen Weg als Bundesregierung findet.“

Wiener ÖVP sieht „Schlag ins Gesicht“

Weniger zurückhaltend äußerte sich die Wiener ÖVP, deren Obmann Blümel ist. „Die heutige Entscheidung von Verkehrsministerin Gewessler ist völlig unverständlich, zeugt von kompletter Verantwortungslosigkeit und ist geradezu ein Schlag ins Gesicht der Wienerinnen und Wiener. Dieser Entscheidung muss entschieden entgegengetreten werden“, so Klubobmann Markus Wölbitsch und Verkehrssprecher Wolfgang Kieslich in einer Aussendung.

Auch von der oppositionellen Wiener FPÖ kam rasch herbe Kritik. Verkehrssprecher Toni Mahdalik sprach in einer Aussendung von „dumpfgrüner Weltfremdheit, ideologischer Verblendung und purem Autofahrerhass“. Die „katastrophale Fehlentscheidung auf dem Rücken der Bevölkerung muss umgehend rückgängig gemacht werden“, so Mahdalik. Der FPÖ-Parlamentsklub schrieb in einer Aussendung von einem „ökomarxistischen Amoklauf“.

Freude äußerten auch die Wiener Grünen. Das Führungsduo Judith Pühringer und Peter Kraus hielt in einer gemeinsamen Aussendung fest: „Heute ist ein Jubeltag für den Klimaschutz und die gesamte Klimabewegung. Die Entscheidung gegen den Lobautunnel ist richtig und vernünftig.“

Mikl-Leitner ortet „grüne Parteitaktik“

Unterstützung erhielt Ludwig jedenfalls von seiner Kollegin, der niederösterreichischen Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner (ÖVP). Sie ortet „grüne Parteitaktik“, was die Absage des Lobautunnels und des S1-Teilstücks mit dem Anschluss zur S8 betrifft – mehr dazu in noe.ORF.at.

Am Donnerstag ist eine gemeinsame Pressekonferenz der Wiener Verkehrsstadträtin Ulli Sima (SPÖ) und ihres niederösterreichischen Kollegen Ludwig Schleritzko (ÖVP) geplant.

NGOs: „Bahnbrechende Entscheidung“

Auch Umweltschutz-NGOs kommentierten den Beschluss umgehend. Greenpeace sprach von einer „bahnbrechende Entscheidung“ für den Schutz von Natur und Klima. Der WWF ortete einen „Meilenstein für Klima- und Bodenschutz“, der Naturschutzbund sieht in der Entscheidung „ein wertvolles Signal, dass nicht alles so weitergehen kann wie gehabt“. Global 2000 sprach von einem „guten Tag für den Klimaschutz“.

Jene Aktivistinnen und Aktivisten, die derzeit an zwei Orten in Wien-Donaustadt ausharren, an denen im Zusammenhang mit dem Großprojekt Bauarbeiten anstehen, sprachen von einem klimapolitischen Durchbruch. Die „LobauBleibt“-Bewegung – bestehend aus Gruppierungen wie Jugendrat, „Fridays for Future“, „System Change not Climate Change“ und „Extinction Rebellion“ – sahen diesen auch als Ergebnis ihrer Protestaktionen. Wien wurde aufgefordert, auch die Stadtstraße nicht zu bauen.

Der Verkehrsclub Österreich (VCÖ) lobte die „kluge Entscheidung“. Straßenausbau führe zu mehr Verkehr und damit „a la longue wieder zu mehr Staus“, hielt der VCÖ fest. Die Umweltorganisation Virus lobte Gewessler als „mutigste Verkehrsministerin der Republiksgeschichte“, „Alliance for Nature“ hielt es für möglich, dass auch eine eventuelle Aberkennung des Nationalpark-Status des Nationalparks Donau-Auen mit ein Grund für die Entscheidung gewesen sei.

Wiens WKÖ-Präsident: „Leben nicht im antiken Rom“

Kritik übte hingegen Wiens Wirtschaftskammer-Präsident Walter Ruck. „Der Lobautunnel ist für den Wirtschaftsstandort Wien und die Ostregion von essenzieller Bedeutung. Kein Infrastrukturprojekt in Österreich wurde bisher so intensiv geprüft wie dieser Tunnel“, zeigte er sich in einer Pressemitteilung überzeugt.

„Für die Entwicklung jener Gebiete Wiens, die auf die Versorgung mit der S1 abgestimmt und auf sie angewiesen sind, ist ein intakter Regionenring inklusive Tunnel unter der Lobau die Lebensader“, so Ruck. „Dass nun der Rechtsstaat durch eine einsame – um nicht zu sagen willkürliche – Entscheidung ausgehebelt wird, ist mehr als bedenklich. Wir leben in Wien im 21. Jahrhundert und nicht im antiken Rom, wo über Existenzen per Daumenstellung entschieden wurde“, hielt Ruck fest.

Autofahrerclubs mit Kritik

Der ÖVP-Wirtschaftsbund und der Sozialdemokratische Wirtschaftsverband (SWV) ärgerten sich ebenfalls über den Schritt Gewesslers. Der SWV verwies darauf, dass das Projekt bereits mehrere Prüfverfahren durchlaufen habe und auch von den Wiener Grünen mit auf den Weg geschickt wurde. Im Wirtschaftsbund konstatierte man „grünen Populismus“. Statt auf Zukunftstechnologie den Fokus zu legen, würden Infrastrukturprojekte „am laufenden Band für Schlagzeilen geopfert“.

Der ÖAMTC verwies unterdessen auf die Stausituation: „Der (…) Stopp für den S1-Lückenschluss bedeutet, dass die dringende Entlastung der Südosttangente (A23) ausbleibt. Es wird dort auch weiterhin an rund 180 Tagen im Jahr in beiden Richtungen Überlastungsstaus geben.“ Der ARBÖ bezeichnete das Aus für den Lobautunnel als „verantwortungslos“ – die Entscheidung sei „rechtlich zu hinterfragen“. Generell sprach der ARBÖ von einer „inakzeptablen Entscheidung“.