Sebastian Kurz
APA/Hans Klaus Techt
Kurz-Rückzug

ÖVP-Neustart mit vielen Fragezeichen

Nicht einmal zwei Monate nach seinem „Schritt zur Seite“ hat Ex-Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) überraschend seinen Komplettrückzug aus der Politik verkündet. Mit seinem Abtreten endet eine kurze, aber turbulente wie prägnante Ära. Auch wenn mit Karl Nehammer der nächste ÖVP-Chef wohl feststeht, ist völlig offen, wie es mit der ÖVP – und damit mit der ganzen Regierung – weitergeht. Fest steht eines: Kaum ein Stein bleibt auf dem anderen.

Spätestens mit seiner Kür zum Parteichef 2017 hatte Kurz die gesamte ÖVP auf seine Person zugeschnitten: Mit Türkis wurde ihr ein neuer Anstrich verpasst, ein kleiner um ihn gescharter Zirkel sollte nicht nur die Geschicke der Partei, sondern später auch der zwei Regierungen, denen er vorstand, lenken. Bünde und Länder, die sonst in der ÖVP immer wieder für Flügelkämpfe sorgten, ließen ihn gewähren, weil er die Volkspartei in Umfragen – und vor allem auch Wahlen – in lange nicht mehr gekannte Höhen führte.

Doch vom versprochenen „neuen Stil“ blieb, wie sich später herausstellen sollte, am Schluss wenig über. Geleakte Chats legten Postenschacher, einen fragwürdigen Umgangston und möglicherweise strafrechtlich relevante Vorgänge offen – siehe mutmaßlich gefälschte Umfragen. Vor allem aber zeichneten die Chats ein politisches Sittenbild. Ausschlaggebend für den Schritt zur Seite im Oktober waren jedenfalls die Ermittlungen gegen Kurz und enge Weggefährten – inklusive Hausdurchsuchungen auch in der ÖVP-Zentrale.

Für Comeback „vorgefühlt“

Bezeichnenderweise wurde das Wort „Schattenkanzler“ just am Donnerstag, dem Tag des Rücktritts, als Wort des Jahres 2021 bekanntgegeben. Vermutet wurde bis zuletzt, dass Kurz so schnell wie möglich wieder in die Regierung zurückkehren wollte. Laut Medienberichten gab es in den vergangenen Wochen auch Gespräche und Vorstöße aus seinem Lager in diese Richtung. Vor allem in den ÖVP-Landesorganisationen dürfte er dabei aber eher auf taube Ohren gestoßen sein.

Analyse zum Rücktritt von Kurz

Claudia Dannhauser aus der ORF-Innenpolitikredaktion spricht über den Rückzug von Sebastian Kurz und mögliche Folgen für die Partei. Auch Politologe Peter Filzmaier geht auf den Rücktritt ein.

In letzter Zeit sei seine Begeisterung für die Politik etwas weniger geworden, sagte der Ex-Kanzler in seiner Rückzugsrede. Auch den neugeborenen Sohn führt Kurz als Grund für den Abschied ins Treffen. In Kommentaren werden freilich auch andere Beweggründe genannt.

Viele Gründe für den Rückzug

Eine schnelle Rückkehr ist nicht mehr infrage gekommen, gleich zwei Damoklesschwerter würden laut Kommentatoren über seiner Politkarriere hängen: Schon lange heißt es, dass weitere Vorwürfe ans Tageslicht kommen könnten. Nur rund ein Drittel der Hunderttausenden Textnachrichten vom beschlagnahmten Handy des Ex-ÖBAG-Chefs Thomas Schmid sind bereits ausgewertet. Und die juristische Aufarbeitung der bereits laufenden Verfahren könnte lange dauern. Dass Kurz seine Rolle nicht unbedingt als Klubchef im Parlament sieht, war bekannt. Spekulationen gab es zudem über einen Job in der Privatwirtschaft, möglicherweise im Ausland.

Politologe Filzmaier zu Vorwürfen gegen Kurz

Politikwissenschaftler Peter Filzmaier erläutert die Ermittlungen gegen Ex-Kanzler Sebastian Kurz.

Vom plötzlichen Rückzug dürften auch viele Parteikolleginnen und -kollegen überrascht worden sein. Beobachter sehen darin die Fortsetzung seiner Vorgangsweise in der Partei bis zum Schluss. Er hatte sich sämtliche Entscheidungsbefugnisse in die Hände legen lassen – und nützte diese auch bei seinem Rückzug.

Zurück zur „schwarzen“ ÖVP – aber wie schnell?

Völlig offen scheint, wie es mit der ÖVP jetzt weitergeht – und wer in der Partei das Sagen hat. Schon in den vergangenen Wochen deutete viel darauf hin, dass die mächtigen Landesorganisationen wieder das Ruder in die Hand nehmen. Ob es unter denen unterschiedliche Interessen und Strategien gibt, ist noch unklar.

Analyse zur Zukunft der ÖVP

Claudia Dannhauser aus der ORF-Innenpolitikredaktion und Politologe Peter Filzmaier sprechen über die Zukunft der Volkspartei ohne Sebastian Kurz. Es werde voraussichtlich zu großen Umstrukturierungen kommen.

Entscheidend ist wohl die Frage, wie vollständig und wie schnell die türkise ÖVP wieder in Richtung schwarze ÖVP umgewandelt werden soll. Dass es in diese Richtung geht, scheint klar: Denn wenn der Parteichef geht, müsste man eigentlich nicht automatisch auch im Regierungsteam rochieren – doch genau das zeichnete sich gleichzeitig mit dem Abschied von Kurz bereits ab.

Rücktritte am laufenden Band

Dass Nehammer Kurz als Parteiobmann und Alexander Schallenberg, der schon am Donnerstagabend sein Amt zur Verfügung stellte, als Kanzler beerbt, war laut Onlineberichten einiger Medien – „Kronen Zeitung“, „Österreich“, „Kleine Zeitung“ und „Heute“ – Donnerstagabend bereits so gut wie fix. Ein wichtiges Indiz dafür ist, dass Johanna Mikl-Leitner, die Chefin der mächtigsten Landespartei, hinter dem Niederösterreicher steht – der zudem aus dem ÖAAB kommt und somit stark in der Partei verankert ist – mehr dazu in noe.ORF.at.

Politikberater Hofer über die mögliche Nachfolge

In der vergangenen Woche war Nehammer eher selten als Kurz-Nachfolger gehandelt worden. Wenn Namen fielen, war es vielmehr Verfassungsministerin Karoline Edtstadler, der Aufstiegswillen und -chancen zugeschrieben wurden. Nun wird sie als potenzielle Innenministerin gehandelt, wenn Nehammer Kanzler werden sollte.

Die Frage ist zudem, wie fest der engste türkise Kreis von Kurz im Sattel sitzt. Finanzminister Gernot Blümel kündigte am Abend den Rückzug aus der Politik an. Ob weitere folgen, wie Landwirtschaftsministerin Elisabeth Köstinger und Witschaftsministerin Margarete Schramböck, bleibt abzuwarten.

Politikberater Hofer über den angekündigten Rücktritt von Finanzminister Blümel

Politikberater Thomas Hofer analysiert den angekündigten Rücktritt von Finanzminister Gernot Blümel (ÖVP), der während der laufenden Sendung vermeldet wurde, sowie die Chancen auf baldige Neuwahlen.

Wenig Interesse an Neuwahlen?

Auf welche Reaktion eine große Umbildung des ÖVP-Regierungsteams beim Koalitionspartner stößt, bleibt abzuwarten. Vor allem die grüne Basis wird es wohl skeptisch sehen, dass mit Nehammer ein Hardliner in Sachen Asyl Kanzler werden könnte. Zerbrechen wird die Regierung daran aber wohl nicht: Weder ÖVP noch Grüne können angesichts aktueller Umfragen ein gesteigertes Interesse an einer Neuwahl haben.

Wie das bei der Opposition aussieht, ist eine andere Frage. Die FPÖ scheint sich für Neuwahlen gerüstet zu sehen. Ähnliches gilt für NEOS. Bei der SPÖ ist man wohl vorsichtiger, da sofort das Aufflammen der Debatte über die Parteispitze zu erwarten ist. Zumindest der burgenländische Landeshauptmann Hans Peter Doskozil (SPÖ) sprach sich aber für eine Neuwahl aus.

ZIB-Chefredakteur Matthias Schrom zu möglichen Neuwahlen

Bis zuletzt wurden Neuwahlen immer wieder von Kommentatoren ins Spiel gebracht. Sind Neuwahlen jetzt durch diese Rochaden unwahrscheinlicher geworden?

Schon gemunkelt wird jetzt, ob Sebastian Kurz nach einer Auszeit wieder zum politischen Comeback ansetzen könnte. Doch auch hier gilt: Bis die aktuellen Affären vollständig offengelegt und geklärt sind, kann es lange dauern. Und es wird auch darauf ankommen, wie sich die ÖVP ohne Kurz schlägt.