Bundeskanzleramt
ORF.at/Roland Winkler
Sechs in sechs Jahren

Kanzleramt als Wanderpokal

„Was ist denn jetzt schon wieder passiert?“, hat Bundespräsident Alexander Van der Bellen anlässlich der Regierungskrise von Anfang Oktober in seiner damaligen Rede stellvertretend für viele im Land gefragt – im Wissen, dass gerade viele die Übersicht über das politische Geschehen zu verlieren drohen. Tatsächlich hat sich das Politpersonalkarussell schon in den letzten Jahren so schnell gedreht wie nie zuvor in der Republik – Kanzlerwechsel inklusive.

Den designierten Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) eingerechnet, amtierten allein in den vergangenen Wochen drei verschiedene ÖVP-Regierungschefs: eine Prozedur, die Anfang Oktober mit Sebastian Kurz’ „Schritt zur Seite“ ihren Ausgang nahm – Grund waren schwere Korruptionsvorwürfe. Es begann die Suche nach einem neuen Kanzler – und die ÖVP fand ihn: Mit Alexander Schallenberg wurde ein Kurz-Vertrauter auf den Posten gerückt.

Vom Außenministerium stieg Schallenberg ins Bundeskanzleramt um, bereits zu seinem Amtsantritt machte er kein Geheimnis daraus, dass er den Posten aus eigenem Antrieb heraus nicht übernommen hätte. Doch sehr lange hatte er den Posten ohnehin nicht zu besetzen: Mit 56 Tagen amtierte der Diplomat so kurz wie sonst kein Kanzler. Eine neuerliche Entscheidung von Kurz – nämlich sich komplett aus der Politik zurückzuziehen – bewirkte, dass Schallenberg aufgrund der weggebrochenen Rückendeckung das Feld räumte.

Grafik zu den Bundeskanzlern seit 2016
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: APA

Neue Sprengkraft

Vom nun designierten Bundeskanzler Nehammer rückgerechnet führten seit dem Rücktritt des langjährigen SPÖ-Kanzlers Werner Faymann im Mai 2016 – jene, die vorübergehend die Amtsgeschäfte führten, eingerechnet – nicht weniger als acht Personen das Amt des Regierungschefs aus. Denn von Faymann übernahm interimistisch der damalige ÖVP-Obmann und Vizekanzler Reinhold Mitterlehner, der für acht Tage mit der Fortführung der Geschäfte betraut wurde.

SPÖ-Kanzler Christian Kern kam danach auf knapp zwanzig Monate Amtszeit, bevor schließlich 2017 Kurz einen ersten, triumphalen Wahlsieg einfuhr und seine erste Amtsperiode begann. Schon zuvor hatte der türkise Transformationsprozess in der ÖVP eingesetzt, Kurz konnte das Gefüge innerhalb der Partei zu seinen Gunsten verschieben und die mächtigen Länder scheinbar marginalisieren. Doch Kurz I hielt nur gut 17 Monate, das „Ibiza-Video“ sprengte Schwarz-Blau.

Drei Kanzler in einer Amtsperiode

Der infolgedessen umgebauten Regierung wurde dann seitens des Parlaments das Vertrauen versagt, im Frühsommer wurde schließlich eine Übergangsregierung unter der parteifreien Ex-Höchstrichterin Brigitte Bierlein eingesetzt. Etwa sieben Monate war diese im Amt, bevor die Ära Kurz II begann, diesmal mit den Grünen. Die Koalition hält bis heute diversen Turbulenzen und Differenzen stand, doch tritt nun mit Nehammer schon der dritte Bundeskanzler an. Und das inmitten einer Pandemie.

„Strukturelles Dilemma“

Doch wieso die viele Wechsel im Kanzleramt? Laurenz Ennser-Jedenastik vom Institut für Staatswissenschaft der Uni Wien ortet fernab der innerparteilichen Schwierigkeiten in der ÖVP ein „strukturelles Dilemma“. Es sei „schwierig, dauerhaft stabile Mehrheiten, die auch die Regierung durch eine volle Legislaturperiode durchtragen, zu bilden“. Man habe in Österreich nur zwei Möglichkeiten: Regierungen aus Parteien, die sehr weit voneinander entfernt sind – oder Regierung mit der FPÖ, die eine „hundertprozentige Ausfallsquote“ habe.

Kurz ist weg: Wie geht’s jetzt weiter mit der ÖVP und der Regierung?

Es ist der Rücktritt nach dem Seitenschritt: Sebastian Kurz zieht sich komplett aus der Politik zurück. So endet eine Politkarriere, die auf viele weitere Jahre ausgerichtet zu sein schien. Aber dann kamen „Ibiza“ und in weiterer Folge Chatprotokolle, die Kurz zum Verhängnis wurden. Die WKStA ermittelt, der Druck auf den einstigen Heilsbringer der Türkisen wurde zu groß.

„Parteipolitische Verschubmasse“

Von der Opposition kommt aktuell freilich schwere Kritik ob der vielen Rochaden am Ballhausplatz: SPÖ-Klubchef Jörg Leichtfried ortete die Türkisen inmitten einer Pandemie „mit internen Machtspielen und Postenbesetzungen“ beschäftigt. Die ÖVP mache alles, um an der Macht zu bleiben.

FPÖ-Chef Herbert Kickl zeigte sich „fassungslos“ und sagte, dass man wohl „nur mehr zwei oder drei Bundeskanzler brauche, bis man Weihnachten erreicht“ habe. Minister würden ihre Jobs „wie Wanderarbeiter“ wechseln. Und NEOS-Chefin Beate Meinl-Reisinger gab an, es tue ihr „im Herzen weh“, dass die ÖVP die höchsten Ämter als „parteipolitische Verschubmasse“ behandle. Alle drei Fraktionen sprachen sich für eine Neuwahl aus.

Ex-Ministerin Rauch-Kallat: „Neue Demokratie“

Eine Lanze für die oftmaligen Wechsel in der Regierung brach Ex-ÖVP-Gesundheitsministerin Maria Rauch-Kallat im ORF-III-Format „Politik live“: Im Eingeständnis des Umstands, dass es in den vergangenen zwei Jahren zu drei Regierungswechseln kam, sei Österreich früher stets „mit langen Regierungen ein wenig verwöhnt gewesen“. Man komme nun „in der neuen Demokratie an“, so Rauch-Kallat.

In der Öffentlichkeit wurde der neuerliche Wechsel im Bundeskanzleramt im Vorfeld der Einsetzung Nehammers neben Verwunderung und Ärger freilich auch mit Häme quittiert – so drehte via Social Media und in Messenger-Diensten neben zahlreichen Memes und Sprüchen auch ein abgewandelter Kurz-Sager von Beginn der Pandemie die Runde, der da lautet: „Bald kennt jeder von uns jemanden, der einmal Kanzler war.“