Lyrikbuchseite mit Weihnachtskugeln gemalt
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Warum nicht Lyrik?

Sprengstoff für die stille Nacht

Manchmal durfte man schon Angst haben, dass nach dem berühmten „Ist, was es ist“ lyrisch fast alles gesagt und noch mehr angedeutet wurde. Lyrik kaufen und schenken immer weniger – dabei wäre Weihnachten doch gerade die Zeit, knapp und rhythmisch zu sagen, was man empfindet. Und sei es für einander. Für alle schnell Entschlossenen hier also noch vier Vorschläge für Lyrik unterm Weihnachtsbaum. Manches dabei ist eher wild als still.

Zugegeben, Gedichte zu schenken ist wie Offenbarungseide zu leisten. Je besser man sich kennt, desto eher traut man sich zu Lyrik zu greifen. Und auch da ist das Überraschungsmoment hoch. „Ach, Hesse, Schatz“ könnte es da heißen. Oder auch: „Was es ist, wissen wir doch.“ Damit es nicht zu kitschig wird unterm Weihnachtsbaum, sei hier dem Mut, aber auch der Qualität des verknappten Wortes die Lanze gebrochen. Nach dem Vanille-Kipferl-Rotwein-Overkill schafft man den neuen Jonathan Franzen ohnedies nicht mehr. Warum also nicht zum luftigeren Text greifen. Und sei es, um bis zu Silvester ein paar textliche Freuden vor dem Schlafengehen griffbereit zu haben.

Dreimal Liebe und ein Abgrund

Die Frage, warum Lyrik lesen, beantwortet sich im literarischen Erstlingswerk der Schauspielerin und Theatermacherin Susanna Bihari von selbst. Für Frauen: um selbstbewusst den Spieß umzudrehen. Für Männer: um gewarnt zu sein. Bihari spielt in dem eindrücklichen Band „3xLiebe“ mit allen Rollenklischees. Das heißt: Sie greift das Klischee auf – um es schließlich umzudrehen. Da dürfen sich die in den Texten auftauchenden Liebhaber als die Starken fühlen, ganz wie es der Mann mag – um am Ende selbst auf den Rücken gelegt zu werden.

„Ich saug deine zeichen auf, die keine sind“, heißt es da gleich im ersten Gedicht, in dem der „Experimentierprinz“ eingeladen wird. „Ärschen/du bist aber eine memme“, liest man wenig später, nachdem der Liebling aufgefordert wurde, sein Gegenüber festzuhalten. „Du machst dein ding/ und ich hab einen plan“ – vielleicht ist das ja die neue Ordnung der Geschlechter. Der Band ist jedenfalls eine große Empfehlung, weil nichts nach einer Schau ins Schlüsselloch des Autobiografischen riecht. Das Grundsätzliche wird hier für alle sehr schonungslos angegriffen. Und allen um die Ohren gefetzt. (Gerald Heidegger, ORF.at)

Susanna Bihari: 3xLiebe. Edition Keiper, 90 Seiten, 18 Euro.

Cover zum Text
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Das Gedicht als Sprengsatz

Als frühen Auftakt zum hundertsten Geburtstag Pier Paolo Pasolinis legt die Übersetzerin Theresia Prammer einen zweisprachigen Auswahlband der späten Gedichte des Regisseurs, Romanciers, Essayisten und Dichters vor. Schon weit weg von seinem jugendlichen Schaffen im friulanischem Dialekt und seiner Annäherung an die kommunistische Partei (PCI) des Nachkriegsitaliens, wird die Lyrik für Pasolini in seiner römischen Zeit immer mehr das Medium für sozialkritische und politische Entwürfe. Etwa wenn er in „Die Religion meiner Zeit“ (1961) über Konsumismus, Prostitution und Ausgrenzung dichtet: „Nella facilità dell’amore / il miserabile si sente uomo: / fonda la fiducia nella viata, fino / a disprezzare chi ha altra vita.“ („Wenn die Liebe wohlfeil ist, / fühlt der elende Kerl sich als Mann: / setzt sein Vertrauen in das Leben bis hin / zur Verachtung dessen, der anders lebt.“)

Überhaupt sind Pasolinis Texte das laute Hintergrundrauschen der Nachkriegsjahre bis hinein in die Anni di Piombo, in denen Gewalt von links bis rechts das Land beherrschen. In seinem Gedicht „An die Redakteure von ‚Officina‘“ geht er auf Distanz zu einer Gruppe, mit der er die literarische Ästhetik entscheidend beeinflusste, indem er sich mit ihnen vom Neorealismus abwandte. In seinem späten Gedichtband „Trasumanar e organizzar“ heißt es an einer Stelle „Poesia su ordinazione è ordigno“ („Auftragsgedichte sind Sprengsätze“). Pasolinis Denken und Wirken war selbst ein Sprengsatz, der sich gegen alles und jeden richtete, egal ob er für die Zeitschrift „Tempo“ ein Gedicht über Rudi Dutschke verfasste oder Gedichte wie „Patmos“ und „La raccolta die cadaveri“ über den Bombenanschlag auf der Mailänder Piazza Fontana im Dezember 1969. (Florian Baranyi, ORF.at)

Pier Paolo Pasolini: Nach meinem Tod zu veröffentlichen. Aus dem Italienischen übersetzt und herausgegeben von Theresia Prammer, Suhrkamp Verlag, 640 Seiten, 43,20 Euro.

Cover der Bücher
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Manchmal rettet ein gelber Faden den Ort des Lesens in der Lyrik. Bildhintergrund: Franziskus Wendels, „Echo 2“

Ein Gedichtband wie ein Roadmovie

Ein Gedichtband wie ein Roadmovie: Jana Volkmanns lyrisches Ich führt eine Reise von Feldkirch über Wien nach Bratislava und ans Schwarze Meer. Dazwischen spannen sich konsequente Spracharbeit und Bilder, die Stimmungen unverbraucht wiederzugeben in der Lage sind. Fragen, ob etwa die Fensterdichtung, an der man mit dem Finger im Nachtbus entlangfährt („Nachtbus I“), die Grenze der Welt sein könnte, vermitteln Fragilität und ein feines Sensorium für Zustände, die aus den Fugen geraten.

Insgesamt sind Volkmanns Gedichte aufgeladen von einem wortgewandten Bedauern, das die Schönheit zerbrechender Ordnungen besingt. So heißt es etwa in „Investitionsruine“: „wir sind eine Investitionsruine / statussymbol eines instabilen herrschers / vision eines architekten im wahn / man wird uns kontrolliert sprengen / und wir werden in würde / in uns zusammenfallen“. Liebesgedichte („das einzige gedicht“) treffen Ortsbeschreibungen im Gefolge der Konkreten Poesie („wien der länge nach“) und die originellen Zeichnungen Jörn P. Budesheims – ein Gedichtband, um sich zu verlieren und wiederzufinden. (Florian Baranyi, ORF.at)

Jana Volkmann: Investitionsruinen. Mit Zeichnungen von Jörg P. Budesheim. Limbus Verlag, 96 Seiten, 15 Euro.

Über Körper und Wörter

In Ladinisch und Italienisch dichtet die 1970 geborene Südtirolerin Roberta Dapunt. Mit jeder Publikation schreibt sie sich näher an den menschlichen Körper und seine Vergänglichkeit heran. War Demenz in „le beatitudini della malattia“ (auf Deutsch 2020 als „der krankheit wunder“ erschienen) das Thema, kreist ihr neuer Band um „Synkopen“. Synkope bezeichnet in der Medizin einen Augenblick der Bewusstlosigkeit, in der Literaturwissenschaft ist eine Synkope die Auslassung eines Vokals.

Schon im ersten Gedicht „über das fleisch und über die sprache“ bringt sie den Körper und das Nachdenken über Wörter zusammen: „Jedem Knochen in meinem Gerüst teilte ich einen Buchstaben zu, /dann die Wörter, einzeln zog ich sie auf und begriff, / ich wachse und das Fleisch wird Wort.“ Am Schluss geht sie in Epitaphen den umgekehrten Weg, wenn gleichsam aus ihren poetischen Worten längst Verstorbene wieder zu Körpern werden, die freilich nur in Klag und Reim auf dem Papier existieren. Dass die Originale teilweise in zwei verschiedenen Übertragungen wiedergegeben werden, die den ganzen Bedeutungsreichtum Dapunts dunkler und aufrührender Sprache markieren, ist ein Vorzug dieser zweisprachigen Ausgabe. (Florian Baranyi, ORF.at)

Roberta Dapunt: Synkope / Sincope. Übersetzt von Alma Vallazza und Werner Menapace, Folio, 156 Seiten, 20 Euro.