Bewaffnete Talibankämpfer in Afghanistan
AP/Shir Shah Hamdard
Afghanistan

Land am Abgrund

Die Lage in Afghanistan ist, seit die radikal-islamischen Taliban die Macht übernommen haben, äußerst trist und verschlechtert sich zunehmend. Das Land steht am Abgrund: Systematische Unterdrückung von Frauen, Hinrichtungen von ehemaligen Sicherheitskräften und Angehörigen von Minderheiten sowie eine sich rasant vergrößernde Hungersnot und eine schwere wirtschaftliche Krise prägen unter anderem die derzeitige Situation.

Und der von keinem Land der Welt anerkannten Taliban-Regierung fehlen Einnahmen bzw. Hilfsgelder aus dem Ausland. Mehr als neun Milliarden Dollar der Hartwährungsguthaben des Landes wurden ja eingefroren. So bleibt derzeit offenbar nur noch der Drogenhandel als große staatliche Einnahmequelle. Die weiten Mohnfelder Afghanistans seien die weltweit größte Quelle für Opium, aus dem dann Heroin hergestellt wird. Zusätzlich sei das Land auch noch einer der wichtigsten Produzenten von Crystal Meth, berichtete der TV-Sender al-Jazeera. Auch Cannabis wird in dem Land angebaut.

Die harten Drogen Opium bzw. Heroin und Crystal Meth sind auch für die hohe Zahl an Süchtigen in dem Land verantwortlich. Der Opiumhandel ist allerdings mit der afghanischen Wirtschaft äußerst eng verschränkt: Und auch politisch hängt der Drogenanbau mit dem Widerstand bzw. der Befürwortung der Taliban in der jeweiligen Anbauregion zusammen. Denn die Mohnbauern sind Teil eines wichtigen ländlichen Unterstützernetzwerks für die Taliban. Da ihr Einkommen vom Bestellen der Mohnfelder abhängig ist, hängt auch die Bereitschaft für die Unterstützung der Taliban davon ab. Die Abhängigkeit ist daher gegenseitig, so al-Jazeera.

Ein bewaffneter Taliban-Kämpfer in Kabul
Reuters/Ali Khara
Ein bewaffneter Taliban-Kämpfer bewacht eine Kreuzung in Kabul

Die Vorteile des Mohnanbaus

Für die afghanischen Bauern ist der Mohn die ertragreichste Anbaupflanze. Sie braucht wenig Wasser, was in Zeiten der Dürre ein gewichtiger Vorteil ist, und ihr Endprodukt kann auch bei geschlossenen Grenzen relativ leicht ins Ausland geschmuggelt werden, wie die Webseite TRTWorld in einem Artikel schreibt. Die Hauptproduktion erfolgt in den beiden Provinzen Helmand und Kandahar, dem „Geburtsort“ der Taliban. In der gleichnamigen Hauptstadt der Provinz traten sie Mitte der 1990er Jahre zum ersten Mal auf.

Entgegen ihrer ersten Ankündigung, Drogen ganz aus dem Land zu verbannen, versicherte bald darauf Taliban-Sprecher Zabihullah Mujahid, dass die Taliban keine Absicht hätten, den Mohnanbau zu vernichten. Teils sei der Mohnanbau das einzige Einkommen der Bauern, argumentierten die Taliban. Die Taliban würden absichtlich wegschauen, so das Wall Street Journal. Gegen die Drogensüchtigen im eigenen Land geht man allerdings teils mit größter Gewalt vor.

Mohnfeld in Afghanistan
APA/AFP/Noor Mohammad
Mohnbauer auf einem Mohnfeld in der Provinz Helmand

Opium sorgt für zehn Prozent der Wirtschaftsleistung

Die Opiumproduktion in Afghanistan und die Preise für den Heroinrohstoff stiegen laut UNO dieses Jahr. In der Erntesaison, die im Juli endete, wurden 6.800 Tonnen eingebracht – acht Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum, berichtete das UNO-Büro für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) Mitte November. Mit Opium wurden laut UNODC dieses Jahr zwischen 1,8 und 2,7 Milliarden US-Dollar (1,6 und 2,4 Mrd. Euro) in Afghanistan umgesetzt. Rund ein Zehntel der afghanischen Wirtschaftsleistung beruht auf Opium, so die Einschätzung.

Befürchtet wird auch, da die Zentralregierung in Kabul so gut wie kein Geld hat, dass in den Provinzen eine Klasse von neuen lokal begrenzten Warlords aufsteigt, die sich etwa aus Geldern aus dem Drogenhandel und anderen illegalen Aktivitäten finanziert.

Ein Bauer auf einer Cannabis-Plantage in Afghanistan
APA/AFP/Javed Tanveer
Auch Cannabis wird in Afghanistan angebaut

Schwerste Dürre seit Jahren verschlechtert Lage zusätzlich

Sanktionen gegen die Taliban-Regierung und eingefrorene Guthaben der Zentralbank in Milliardenhöhe machen den neuen Machthabern, aber auch Hilfsorganisationen und einfachen Afghanen sehr zu schaffen. Von den früheren Hilfen für die Regierung in Kabul – rund 8,5 Milliarden US-Dollar pro Jahr, womit rund 75 Prozent der Staatsausgaben finanziert wurden – wurde der absolute Großteil eingestellt, auch aus Sorge, damit das Taliban-Regime zu stützen.

Fast wöchentlich warnen UNO-Agenturen oder Hilfsorganisationen vor einer humanitären Krise, auch angetrieben von einer der schwersten Dürren seit Jahren. Die Zahl hungerleidender Menschen ist äußerst stark angestiegen. Lokale Medien berichten, immer mehr Kinder würden wegen Unterernährung in Krankenhäuser eingeliefert. Die Gesundheitsversorgung steht vor allem in ländlichen Gebieten wegen fehlender Mittel kurz vor dem Zusammenbruch bzw. ist es teils bereits. Zusätzlich ist auch die CoV-Lage in dem Land völlig unklar.

Stadtbild von Kabul, Afghanistan
APA/AFP/Wakil Kohsar
Ein Blick auf ein Wohnviertel in Kabul – die afghanische Hauptstadt hat rund 4,4 Mio. Einwohner und Einwohnerinnen

Fast 23 Millionen leiden Hunger

Um die Spitzen der Hungersnot abzuschwächen, einigten sich 31 Geldgeber des derzeit eingefrorenen Treuhandfonds Afghanistan Reconstruction Trust Fund (ARTF) Anfang Dezember auf den Transfer von 280 Millionen Dollar (248,38 Mio. Euro) für zwei Hilfsorganisationen in dem Land. Wie die Weltbank als Verwalterin des ARTF mitteilte, soll das Geld wie erwartet an das Welternährungsprogramm (WFP) sowie UNICEF gehen.

Die Vereinten Nationen warnen davor, dass fast 23 Millionen Menschen – etwa 55 Prozent der Bevölkerung – nun mit extremer Hungersnot konfrontiert sind, auch weil jetzt der Winter in dem verarmten Binnenland Einzug hält. Mehr Menschen könnten an Hunger sterben als bei den bisherigen Kampfhandlungen insgesamt, warnte etwa al-Jazeera in einem Bericht.

Massenhinrichtung von ehemaligen Sicherheitsleuten

Das Land wird unter den Taliban auch von Gewalt erschüttert. So gibt es auch Berichte von Hinrichtungen von Angehörigen ethnischer Minderheiten wie etwa der Hazara. Mehr als hundert ehemalige afghanische Sicherheitskräfte wurden nach Angaben der UNO seit der Machtübernahme der Taliban getötet. In den meisten Fällen seien die Taten von der radikalislamischen Gruppe verübt worden, sagte die Vizehochkommissarin für Menschenrechte, Nada al-Nashif, am Dienstag in Genf.

Auch seien mindestens acht afghanische Aktivisten und zwei Journalisten sowie mindestens 50 mutmaßliche Mitglieder eines Ablegers der mit den Taliban rivalisierenden Miliz Islamischer Staat (IS) umgebracht worden. Darüber hinaus rekrutierten die Taliban Kindersoldaten und unterdrückten Frauen. Die Sicherheitslage von Richtern, Staatsanwälten und Anwälten, insbesondere von Frauen im Justizwesen, sei alarmierend, so die UNO.

Die Organisation Human Rights Watch veröffentliche vor Kurzem einen Bericht zur Verfolgung von früheren Mitgliedern der Sicherheitskräfte. Darin sind 47 Fälle mutmaßlicher Hinrichtungen oder des gewaltsamen Verschwindenlassens dokumentiert, obwohl die Taliban zu Beginn ihrer Herrschaft eine Amnestie für die Angehörigen der diversen Sicherheitskräfte von Militär bis Polizei ausgesprochen hatten.

Straßenszene in Kabul, Afghanistan
APA/AFP/Hoshang Hashimi
Eine Straße in der Hauptstadt Kabul

Botschafter: Errungenschaften vollkommen umgekehrt

Die später Getöteten hatten sich demnach den Taliban ergeben oder waren von ihnen aufgegriffen worden. Die dokumentierten Fälle von Gewalt gegen frühere Soldaten, Polizisten, Geheimdienstler und Milizionäre ereigneten sich dem Bericht zufolge zwischen der Machtübernahme der Taliban Mitte August und dem 31. Oktober. Die Taliban wiegelten indes ab. Es geben keine Massenhinrichtungen. Oft handle es sich um Privatstreitigkeiten, hieß es.

Auch der Gesandte der ehemaligen afghanischen Regierung, der von den Vereinten Nationen immer noch als UNO-Botschafter seines Landes anerkannt wird, zeichnete am Dienstag vor dem Menschenrechtsrat ein drastisches Bild der Lage. Nasir Ahmad Andisha warf den Taliban zahlreiche Menschenrechtsverstöße, gezielte Tötungen und Verschleppungen vor.

Die Islamisten begingen völlig ungestraft eine ganze Reihe von Misshandlungen, die in vielen Fällen nicht gemeldet und nicht dokumentiert würden. Seit der militärischen Übernahme Kabuls im August würden die Errungenschaften der vergangenen zwei Jahrzehnte vollkommen umgekehrt.

Kampf gegen den IS

Doch auch die Taliban werden Opfer von Gewalt. So gab es erst unlängst einen Bombenanschlag auf einen Provinzgouverneur. Hinter den meisten Anschlägen, die auch gegen Zivilisten und zivile Ziele geführt werden, steckt der IS. Der mit äußerster Brutalität ausgetragene Konflikt zwischen den Taliban und dem IS ruft auch den großen Nachbarn Russland auf den Plan. Die Furcht vor einer Destabilisierung der gesamten Region ist groß.

Der russische Präsident Wladimir Putin warnte bereits Mitte Oktober vor Plänen für einen Vormarsch von Terroristen in Afghanistan. Allein im Norden des Landes hielten sich etwa 2.000 IS-Anhänger auf, so Putin damals. „Ihre Anführer schmieden Pläne, um ihren Einfluss auf die zentralasiatischen Staaten und russische Regionen auszudehnen.“ Sie versuchten als Flüchtlinge getarnt in das Gebiet der Ex-Sowjetrepubliken in Zentralasien zu gelangen, so Putin. Auch Russland befürchtet ein rasantes Anwachsen des Drogenschmuggels – mit allen negativen Konsequenzen.

Verschleierte Frauen in Afghanistan
AP/Petros Giannakouris
Verschleierte Frauen stellen sich in Kabul vor einer Ausgabestelle des World Food Programme an

Frauen in aussichtsloser Lage

Besonders aussichtslos und verheerend ist in Afghanistan die Lage der Frauen. Die Islamisten schränkten ihre Rechte schmerzhaft ein. Sie werden systematisch unterdrückt. Teils dürfen Frauen nicht mehr alleine auf die Straße, um etwa einkaufen oder zur Bank zu gehen. Frauen konnten nach dem Sieg der Taliban in vielen Fällen auch nicht mehr zurück an ihre Arbeitsplätze. Straßenproteste von Aktivistinnen wurden gewaltsam unterdrückt.

Frauen wurden auch von der Bildung ausgeschlossen. Die meisten weiterführenden Schulen für Mädchen wurden geschlossen, Frauen dürfen auch nicht an Universitäten. Die Taliban erlauben überwiegend nur Buben und männlichen Teenagern den Besuch weiterführender Schulen. Diese dürfen auch nur von Männern unterrichtet werden. Lokale Medien berichten über steigende Zahlen an Depressionen bei Mädchen und Frauen, die nicht mehr arbeiten oder die Schule besuchen können.

Gewalt als alltägliches Erlebnis

Auch die alltäglich erlebte Gewalt für Frauen ist erdrückend. Laut UNO erleben neun von zehn Afghaninnen in ihrem Leben mindestens eine Form von Gewalt in der Partnerschaft. Vor der Machtübernahme der Taliban wandten sich jährlich Tausende Frauen an ein landesweites Netz von Frauenhäusern und Dienstleistern, die sie mit Rechtsberatung, Anwälten, medizinischen und psychosozialer Hilfe unterstützten.

Einem Bericht von Amnesty International (AI) zufolge schlossen sie Frauenhäuser und entließen Häftlinge aus den Gefängnissen, von denen viele wegen geschlechtsspezifischer Gewaltdelikte verurteilt waren. Für weibliche Gewaltopfer ist es seit der Machtübernahme laut AI fast unmöglich geworden, Hilfe zu bekommen. Ehemalige Bewohnerinnen von Frauenhäusern, Mitarbeiter von Schutzeinrichtungen sowie an den Schutzdiensten beteiligte Anwälte, Richter oder Regierungsbeamte, seien nun in Gefahr.

Die Frauenhäuser hätten Frauen und Mädchen zu ihren Familien zurückschicken müssen, andere Opfer seien von ihren Familienmitgliedern gewaltsam weggebracht worden, heißt es in dem Bericht weiter. Wieder andere seien seither auf der Straße gelandet. AI habe zudem glaubwürdige Berichte erhalten, Taliban hätten betroffene Frauen in Gefängnisse gebracht.