Flauberts „Madame Bovary“
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200 Jahre später

Flaubert und die Bobos

Würde man den Roman aller Romane bestimmen wollen, ähnlich einer „Rolling Stone“-Hot-100-Liste, Flauberts „Madame Bovary“ hätte gute Chancen, auf Platz eins zu landen. Vor 200 Jahren wurde Flaubert in Rouen geboren. Und schuf mit seinem ersten Roman um den Ehebruch einer unglücklichen Frau gleich den größten Skandal seiner Zeit. Dass wir heute den Bürger vom Bohemien unterscheiden, ja es Menschen gibt, die sich bewusst vom normalen gesellschaftlichen Aufstieg unterscheiden, aber ihr kritisches Bewusstsein zelebrieren wollen – voila: Flaubert hat dabei mitgeholfen.

In Zeiten von Netflix und einer ausgeprägten Serienkultur drängen sich die Stärken des Romans des 19. Jahrhunderts geradezu auf: Abhängigkeit, Identifikation und Staunen. Diese Faktoren machen spätestens im Frankreich des Zweiten Kaiserreichs, also der Zeit ab 1852, eine neue Gattung attraktiv. Und das war gegen alle Formen, die die Romantik davor zu etablieren suchte: der Roman.

Unter Napoleon III. war die Demokratie zurückgedreht worden – aber der Aufstieg des Geldes, der Industrie und der Kaufleute brachte eine neue soziale Dynamik ins Land, die viele Kulturanalysten von Walter Benjamin bis Pierre Bourdieu beschrieben haben. Die simple Formel zu diesen sozialen Umwälzungen lautete: Geld regierte die Welt. Und um das System der autoritären Macht dieser Zeit noch perfekter zu machen, sicherte sich der damalige Kaiser die Loyalität seiner Bürokratie und Staatsdiener mit opulenten Gehältern.

Briefseite Flauberts an Louise Colets
ORF.at/Diogenes
Die Gewissheit heißt Paris: Gustav Flaubert in einem Brief an seine Geliebte der frühen 1850er Jahren, die Dichterin Louise Coulet

Der Roman und die neuen Aufsteiger der Gesellschaft

„Der Geschmack der an die Macht gekommenen Aufsteiger favorisierte den Roman, und zwar in seinen schlichtesten Formen“, schreibt Bourdieu in seinem Buch „Die Regeln der Kunst“, das das Entstehen eines autonomen literarischen Feldes in Frankreich beschreibt. Fortsetzungsromane in Zeitungen habe man am Hof verschlungen. Und insgesamt seien neue lukrative Unternehmungen entstanden. Literarisches Feld und Machtfeld hätten sich deutlich überschnitten, erinnert Bourdieu und beschreibt die Szenerie so: „Prinzessin Mathilde macht ihre Originalität gegenüber dem Hof dadurch geltend, dass sie Schriftsteller wie Gautier, Sainte-Beuve, Flaubert, die Gebrüder Goncourt, Taine oder Renan empfängt.“

Gustave Flaubert, um 1860
Scherl / SZ-Photo / picturedesk.com
Gustave Flaubert, 1860, nach dem Erfolg seiner „Bovary“

Mit der Ausbreitung der Presse ergibt sich gerade ab den 1850er Jahren eine beispiellose Expansion des Marktes kultureller Güter (ein Umstand, den man in Österreich zeitversetzt Ende der 1860er Jahre erlebt). „Die Literatur in Frankreich ist auch eine Demokratie geworden“, schreibt der Schriftsteller Charles-Augustin Sainte-Beuve: „Die weitaus größte Mehrheit der Schriftsteller sind Arbeiter, Werktätige einer bestimmten Lage, die von ihrer Feder leben.“ Um sich in dem breiter werdenden Feld unterscheiden zu können, nutzt man die Struktur der Salons, um sich unterscheiden zu können.

Anklage gegen ein Buch

Auf der Anklagebank im Jänner 1857 saßen drei Männer: der Herausgeber von „Revue de Paris“, der Drucker der Wochenzeitschrift und ein junger, noch unbekannter Autor: Gustave Flaubert. Sein Roman „Madame Bovary“ war nur als Fortsetzungen im Feuilleton der „Revue de Paris“ erschienen. Die Geschichte über Ehebruch und Untreue galt als unmoralisch und zu realistisch. Die Geschichte handelt von der jungen Emma Bovary, die unter der Monotonie des Provinzlebens leidet. Sie träumt von einem Leben in Leidenschaft und Luxus. Um aus der Langeweile ihrer Ehe auszubrechen, sucht sie sich Liebhaber und macht Schulden.

Viele Schriftsteller suchten das Feld der Macht, um sich in den „elitären Refugien“, wie Bourdieu beschreibt, der Illusion hinzugeben, noch in einem Salon im Stil Diderots hingeben zu können. Tatsächlich erfolgte hier aber eine Abgrenzung gegen den Einbruch der industriellen Literatur und ihrer Presseliteraten. „Diese erzwungene Bärenklausur ist seltsam“, halten Edmond und Jules Goncourt fest, „wenn man sich mit dem mondänen Leben der Literaten von Diderot bis Marmontel vergleicht; das gegenwärtige Bürgertum sucht einen Schriftsteller nur, wenn er bereit ist, die Rolle eines wundersamen Tiers zu akzeptieren“.

Von Rouen nach Paris

In diesen wundersamen Zoo scherte einer radikal aus – er erfand in, mit und gegen die Zeit das Netflix-Format mit dem gedruckten Wort: Gustave Flaubert, aus der Provinz der Normandie gekommen, las die Codes seiner Zeit, setzte sie in Literatur um, tat so, als sei er ein objektiver Beobachter – dabei führte er der Zeit ihr Funktionieren so vor, dass es seine Leserinnen und Leser nicht merkten. Mehr noch: Bis hinauf in die Justiz elektrisierte schon die zensierte Fassung der „Madame Bovary“ die Zeitgenossenschaft so sehr, dass ein Prozess gegen ein Buch eingeleitet werden musste. Ein Autor, so der Vorwurf, verherrliche Ehebruch. Gewaltiger hat die Verwechslung von Fiktion und Wirklichkeit noch nicht funktioniert. Der Roman war das Medium dieser Verwechslungskultur. Und Flaubert, noch viel mehr als ein Balzac vor ihm, der Großmeister darin. Er etablierte sich als Bourgeois. Und wurde zum Bohemien. Und in diesem Sinn auch früh ein bourgeoiser Bohemien, kurz „Bobo“.

In seinen Briefen an die Dichterin und Geliebte Louise Colet stilisiert sich Flaubert beinahe als Soziologe der Gesellschaft, der für seine Bücher im Feld der Wirklichkeit forschen müsse. „Heute morgen war ich auf einer Landwirtschaftsausstellung; von der ich hundemüde und zu Tode gelangweilt zurückgekommen bin“, schreibt er im Sommer 1852: „Ich musste für den zweiten Teil meiner Bovary eine solche alberne Zeremonie ansehen.“ Und an anderer Stelle: „Wie sehr hasse ich die Bovary!“

200. Geburtstag von Gustave Flaubert

Warum Flaubert seine Zeit schockierte

Wolle man den Realismus der Romane Flauberts erklären, sagt die Übersetzerin Elisabeth Edel, die bei Hanser eine Neuübersetzung des Frühwerkes „Erziehung des Herzens“ („L’education sentimentale“) vorgelegt hat, dann müsse man sich in die Position damaliger Leser versetzen: Für diese Leser „war weder Erotik als solche schockierend noch die Schlüpfrigkeit einer Ehebruchsgeschichten; dies war aus dem trivialen Dienstmädchenromanen bekannt. Verstörend aber war die Verbindung dieser Motive mit der bürgerlichen Welt und einer Alltagsgeschichte von nebenan. Verstörend war, dass eine Landarztgattin wie du und ich zur Heldin eines großen Romans werden sollte.“ Auf der Bühne des Musiktheaters vollzog sich zur selben Zeit in Paris eine ähnliche Revolution. Bei Jacques Offenbach wurde das Dienstmädchen von nebenan ebenso liebes- und leidensfähig wie einst die große ständische Person.

Playboy 2010 verweist auf eine englische Übersetzung von Madame Bovary
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Der „Playboy“ bewarb 2010 seinen Lesern Flaubert noch als „the most scandalous novel of all time“

Aber, so könnte man einen zentralen Unterschied zwischen entstehender Operette und realistischem Roman festhalten, Flaubert legt seinen Roman als, wie es Bourdieu formuliert, „soziologisches Experiment“ an, denn seine literarische Welt funktioniert mit allen sozialen Kapitalien wie die reale Welt. Der Realismus ist demzufolge nicht eine Widerspiegelung der Welt, sondern das Vorführen ihres letztlich sozialen Getriebes und der in diesem wirksamen Kräfte, bis hinein in psychische Zustände, die aber, anders als dann zur Jahrhundertwende, nicht die Triebfeder der Geschichtsentwicklung sind. Hier arbeitet ein Autor mit einer Pose des Naturwissenschaftlers.

Isabelle Huppert als Madame Bovary
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Bereits Jean Renoir verfilmte Ende der 1930er Jahre Flauberts Klassiker. Bekannteste Bovary im Film ist wahrscheinlich Isabelle Huppert als Emma Bovary. Regie 1991: Claude Chabrol.

Flaubert und das Handwerk des Romans

Er tritt wie eine objektive Kraft in den Hintergrund, manipuliert als solcher aber noch mehr die Umstände. Selten davor würde in einem Roman so schnell nach vorne gespult, hineingezoomt, dynamisiert und wieder verlangsamt. Jeder moderne Drehbuchautor hat mit Werken wie der „Bovary“ seine große Freude. Und auch wenn man James Joyce oder William Faulkner als die großen Motoren der Moderne sieht. Radikaler war eigentlich Flaubert, weil er den Gestus seines Tuns nicht ausstellt, sondern sich geschickt hinter seine literarische Welt zurückzieht, die aber der realen Welt wie ein Spiegel gleicht. Hier liegt das Überzeugende wie Perfide seiner Arbeit.

Drei Übersetzungen Flauberts als Cover
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Die letzten drei Flaubert-Übersetzungen von Elisabeth Edl bei Hanser

Umgedrehte Werte: Das Entstehen der Boheme

Innerhalb des literarischen und kulturellen Feldes sollte sich der Mann aus Rouen in Paris bald als Schlüsselspieler etablieren. In seinem Roman „Erziehung des Herzens“ instrumentalisiert und spiegelt er die Rolle, die er in der Welt der Kunstschaffenden eingenommen hat. Flauberts Welt gleicht der realen Welt, doch im Feld der Kunst sind die Kapitalien der realen Welt genau gegenläufig eingesetzt. „Wer verliert, der gewinnt“, heißt es in der Welt des Künstler-Helden Gustave Moreau, an dessen fiktiver Biografie die Unvereinbarkeit von Kunst und Geld abgehandelt werden. Doch auch in der künstlerischen Welt würden, so sieht es Bourdieu, alle Kapitalien wie in der realen eingesetzt, wobei unter Kapital hier auch soziales oder kulturelles Kapital zu verstehen ist.

Die in den Romanen Flauberts vorgestellte Realität sei „Gegenstand einer kollektiv verbürgten Illusion“. Allerdings: Damit diese funktioniert, muss diese Illusion schon in der Gesellschaft in Umlauf sein, etwa im dauernden Spiel um Ansehen und Differenzierung.

Kommerz, Kunst, Kritik

Flaubert, vor allem aber Charles Baudelaire, werden zu Schlüsselvertretern einer neuen künstlerischen Lebensweise, die sich dezidiert gegen das vom Geld getriebene Bürgertum positioniert. Und pikanterweise sind es die Mechanismen des literarischen Marktes, die erst diesen Bruch und diese Vertragsaufkündigung innerhalb des bürgerlichen Raums möglich machen. Die Boheme setzt sich mit ihrem Wertesystem gegen jede Vereinnahmung durch die bürgerliche Welt zur Wehr, während das Bürgertum laut Bourdieu versuche, „vermittels der Presse und deren Schreiberlingen eine würdelose und entwürdigende Definition der kulturellen Produktion zu oktroyieren“.

Lesetipps

  • Die Romane Flauberts liegen mittlerweile in Neuübersetzungen von Elisabeth Edl bei Hanser bzw. Dtv vor, darunter auch die Schlüsselwerke „Madame Bovary“ und die vielleicht noch wichtigere „Erziehung des Herzens“, die bei Edl „Lehrjahre der Männlichkeit“ heißen.
  • Michel Winocks Flaubert-Biografie ist nun bei Hanser auch auf Deutsch erschienen.
  • Flauberts „Bouvard und Pecuchet“ liegt in der Übersetzung von Hans-Horst Henschen bei Wallstein vor.
  • Flauberts sehr lesenswerte Briefe liegen als Diogenes-Taschenbuch vor.
  • Pierre Bourdieus „Die Regeln der Kunst“ ist bei Suhrkamp erschienen.

Flauberts und Baudelaires Klagen über die bedrohliche Verfälschung des Kunstbetriebes durch entwürdigende Marktmechanismen markiert den historischen Beginn der Debatte über das Verhältnis von Kunst und Kommerz. Eine Debatte, die bis heute andauernd, und den Künstler eigentlich in eine stetige Gegenposition zum Funktionieren einer ökonomischen Verwertungsgesellschaft setzt. Die Anti-Ökonomie der Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft unterliegt freilich ähnlichen Spielregeln und Mechanismen der bürgerlichen Welt, nur mit einem anderen Wertesystem. Das den Bobos heute oft unterstellte Pharisäertum mag genau an die Nähe erinnern, die die Kritik letztlich zum Gegenstand ihrer Ablehnung hat. Etwa, wenn sie ihren Habitus des Kritischseins mit der Erwartung eines Wohlfühlbetriebs zu verbinden sucht.

Der Bobo, er betritt freilich schon im ersten Roman Flauberts die Bühne der Weltliteratur, im kleinen fiktiven Ort, Yonville in der Normandie. Leon Dupuis, der zweite Liebhaber der Emma Bovary, hat wie sein Autor als antriebsloser Kanzlist einen Traum, ein Ziel: „Er träumte sich sein Pariser Zimmer aus. Dort wollte er das Leben eines Bohemien führen. Gitarre wollte er spielen lernen, einen Schlafrock tragen, dazu ein Samtbarett und Hausschuhe aus blauem Plüsch. Und über dem Kamin sollten zwei gekreuzte Floretts hängen, ein Totenschädel darüber und die Gitarre darunter. Wundervoll!"

Von Paris retour aufs Land

Auch Flauberts letzter Roman „Bouvard und Pecuchet“, den der Autor für sein größtes Werk hielt, endet boboesk und unvollendet. Die beiden Kopisten Bouvard und Pecuchet finden darin nach achtzehnmonatiger Suche das ideale Refugium am Land, kehren der Stadt Paris den Rücken, um sich nur noch intellektuellen Experimenten hinzugeben. „Vor sich hatte man die Felder, rechts eine Scheune und den Kirchturm, links eine Pappelwand“, heißt es beim Anblick der Ideallandschaft einer verklärten Provinz. Die durch Erbschaft wohlhabend gewordenen Privatiers werden keines ihrer weltverändernden Experimente abschließen können, verärgern mit ihrer Attitüde die gesamte Bevölkerung am Dorf – doch von ihrem Utopismus wollen und können sie nicht ablassen. Als Flaubert stirbt, hat er seinen beiden Bohemiens am Land einen gemeisamen Schreibtisch gezimmert, von dem sie aus weit in die Zukunft der sozialen Welt blicken sollten.