Arbeiter beim Bau der Gaspipeline Nord Stream 2 nahe der russischen Stadt Kingisepp
Reuters/Anton Vaganov
Ukraine – Russland

Gaspipeline liefert Zündstoff im Konflikt

Die Ostsee-Gaspipeline „Nord Stream 2“ ist seit September technisch fertiggestellt. Gas strömt aber noch nicht durch das politisch umstrittenste Infrastrukturprojekt Europas, das zu 100 Prozent der russischen Gasprom gehört. Eine befürchtete, wenngleich von Moskau dementierte russische Invasion in der Ukraine bringt das Projekt erneut ins Wanken – und setzt Deutschlands neue Regierung unter Druck.

Kaum ein anderes Projekt verdeutlicht die komplexen Beziehungen zwischen Europa und Russland – und die Abhängigkeit von Russland im Energiebereich – besser als „Nord Stream 2“. Wenn die Pipeline vollständig in Betrieb ist, würden jedes Jahr 55 Milliarden Kubikmeter Gas nach Deutschland transportiert, was etwa 15 Prozent der jährlichen Gasimporte der EU entspricht.

Moskau und Berlin behaupten, es handle sich um ein rein kommerzielles Unternehmen, das die europäische Gasversorgung sicherstellen soll. Kiew, Washington und viele EU-Länder sind dagegen der Ansicht, dass es Russland ermöglichen wird, Gaslieferungen durch die Ukraine zu umgehen und Energie als Waffe gegen die EU einzusetzen.

Grafik zeigt den Verlauf der Ostsee-Gas-Pipelines Nord Stream I und II
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: APA/dpa

USA erhöhen Druck

Rund um eine befürchtete russische Invasion in der Ukraine gerät auch die deutsche Regierung zunehmend unter Druck aus den USA. „Wir haben sowohl mit der früheren, als auch mit der neuen deutschen Regierung intensive Gespräche über das Thema ‚Nord Stream 2‘ im Zusammenhang mit einer möglichen Invasion geführt“, sagte diese Woche der Nationale Sicherheitsberater von US-Präsident Joe Biden, Jake Sullivan.

Biden hatte den russischen Präsidenten Wladimir Putin zuvor bei einem Videogipfel vor schwerwiegenden Konsequenzen gewarnt, sollte Russland weiter in die Ukraine eindringen. Die USA sind strikt gegen „Nord Stream 2“. Biden hatte im Frühjahr aber auf weitreichende Sanktionen verzichtet, mit denen die Fertigstellung der Pipeline hätte verhindert werden sollen. Der Demokrat hatte das auch mit Rücksicht auf Deutschland begründet.

Videokonferenz zwischen Russlands Präsident Wladimir Putin und US-Präsident Joe Biden
AP/Sputnik/Kremlin Pool Photo/Mikhail Metzel
Eine merkliche Annäherung brachte der Videogipfel zwischen Putin und Biden diese Woche nicht

„Unerschütterliche“ Bekenntnis zu Souveränität Kiews

Deutschland hatte im Gegenzug stärkere Unterstützung der Ukraine zugesagt. In einer gemeinsamen Erklärung mit den USA hieß es, Deutschland werde handeln, „sollte Russland versuchen, Energie als Waffe einzusetzen, oder weitere aggressive Handlungen gegen die Ukraine begehen“. Die Sprecherin des Weißen Hauses, Jen Psaki, sagte dazu: „Ein Einmarsch in die Ukraine wäre natürlich ein aggressiver Akt.“

Am Donnerstag verstärkten die USA den Druck noch: Zwei Tage nach seinem Videogipfel mit Putin telefonierte Biden mit dem ukrainischen Staatsoberhaupt Wolodymyr Selenski und sicherte ihm seine Unterstützung zu. Biden habe das „unerschütterliche“ Bekenntnis der USA zu Souveränität und territorialer Integrität der Ukraine bekräftigt, teilte das Weiße Haus mit. Die USA würden im Fall einer militärischen Aggression gegen die Ukraine „beispiellose Sanktionen“ gegen Russland verhängen.

Deutschland in der Schwebe

Die neue deutsche Regierung ringt indessen noch um eine Linie zu „Nord Stream 2“ und den Umgang mit Moskau. Die Grünen hatten im Wahlkampf das Projekt heftig kritisiert und auch einen Baustopp gefordert. Sie stehen ihm deutlich skeptischer gegenüber als die Regierungspartner SPD und FDP. Im Koalitionsvertrag wurde die Pipeline sicherheitshalber gar nicht erwähnt.

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) reiste am Freitag zu seinem Antrittsbesuch nach Paris, später stellte er sich bei der NATO und der Europäischen Union in Brüssel vor. Scholz, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen drängen im Konflikt zwischen Russland und der Ukraine auf eine Deeskalation. „Für uns alle ganz klar ist, dass es keine Alternative gibt zu der Bemühung und der Mühe, die mit Entspannung verbunden ist“, sagte Scholz. Zugleich mahnte er wie Macron aber auch die Unverletzbarkeit der Grenzen in Europa an.

Der neue deutsche Kanzler Olaf Scholz und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen
Reuters/Johanna Geron
Es dürfe „keine Bedrohungsszenarien“ geben, sagten Scholz und von der Leyen. Mögliche Sanktionen benannten sie nicht.

„Aggression muss ein Preisschild haben“

Von der Leyen warnte Moskau mit neuen weitgehenden Sanktionen, wenn es eine Aggression gegen die Ukraine geben sollte. „Aggression muss ein Preisschild haben“, sagte sie. „Deshalb werden wir diese Punkte vorweg in angemessener Form (…) nach Russland kommunizieren.“ Öffentlich darüber sprechen werde man allerdings nicht.

Ob auch ein Betriebsverbot für „Nord Stream 2“ zum Sanktionspaket gehören könnte, ließ von der Leyen offen. „Allgemein gilt, dass es wichtig ist, dass Energie niemals als Druckmittel genutzt werden darf und dass die Energiesicherheit Europas und seiner Nachbarn gewährleistet sein muss“, sagte sie. Auch Scholz lehnte es ab, Verbindlicheres zu sagen.

Hintergrund der Äußerungen sind Erkenntnisse der NATO, wonach Russland an der Grenze zur Ukraine derzeit zwischen 75.000 und 100.000 Soldaten zusammengezogen hat. Moskau weist den Vorwurf der Aggression zurück und beschuldigt wiederum die Ukraine, mehr als 120.000 Soldaten an die Linie zu den prorussischen Separatistenregionen Donezk und Luhansk verlegt zu haben.

Patroulierende ukrainisches Soldaten am 7. Dezember in der Region Donezk
AP/Andriy Dubchak
Truppen ziehen sich aktuell auf beiden Seiten der Grenze zwischen der Ukraine und Russland zusammen

Die Entwicklungen wecken Erinnerungen an 2014. Damals hatte sich Russland nach dem Umsturz in der Ukraine die Halbinsel Krim einverleibt und mit der noch immer andauernden Unterstützung von Separatisten in der Ostukraine begonnen.

Moskaus Machtkampf mit der NATO

Nach Einschätzung westlicher Geheimdienste will Russland mit den Truppenbewegungen in Richtung der Ukraine vor allem Zugeständnisse der NATO in umstrittenen politischen und militärischen Fragen erzwingen. Es sehe so aus, als ob Russland rechtlich verbindliche Zusicherungen wolle, dass die Ukraine niemals NATO-Mitglied werde, sagte ein ranghoher Nachrichtendienstvertreter. Zudem wolle Russland, dass die Allianz von einer dauerhaften Stationierung von Truppen und Ausrüstung in der Ukraine absehe und jede militärische Unterstützung des Landes einstelle.

Als möglichen Grund für den aktuellen Kurs der Regierung in Moskau nannte der Geheimdienstvertreter die Angst davor, dass die Entwicklungen in der Ukraine unerwünschte Begehrlichkeiten in der russischen Bevölkerung wecken könnten. Die Bedrohung sei, dass die Ukraine ein Vorbild sei und sich zu einem noch demokratischeren Staat mit freien Wahlen, einer diversifizierten Wirtschaft und der Einhaltung westlicher Prinzipien und Werte entwickeln könnte. Das könne gefährlicher sein als die Macht von Militärapparaten.

Pragmatische Perspektiven

Kommentare deutschsprachiger Zeitungen zur Perspektive für „Nord Stream 2“ lasen sich in den vergangenen Tagen jedenfalls ernüchternd. Die „Neue Zürcher Zeitung“ („NZZ") schrieb: Die neue deutsche Regierung müsse „mit der Lebenslüge der Merkel-Ära aufräumen, bei der Ostseepipeline handele es sich ausschließlich um ein energiewirtschaftliches Projekt. Vielmehr muss sie deren offensichtliche geopolitische Dimension endlich beim Namen nennen.“

Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ („FAZ“) kommentierte: „Für das vermeintlich billige russische Gas zahlen Deutschland und die anderen Europäer in Wirklichkeit einen hohen Preis: Sie müssen Sanktionen verhängen und aufrüsten, um den Lieferanten von neuen Eroberungszügen Richtung Westen abzuhalten.“