Toni Servillo und Filippo Scotti
Netflix
„Die Hand Gottes“

Wie man ein Regiestar wird

Die heimischen Kinos haben wieder geöffnet, und die Woche bringt eine Reihe von Neustarts. Den Anfang machte am Montag der internationale Cineastenliebling Paolo Sorrentino („La Grande Belezza“): In „Die Hand Gottes“ schildert er seine eigene Jugend als neapolitanische Familiengeschichte zwischen Klamauk, Tragödie und Selbstermächtigung.

Sie räkelt sich im knappen Bikini am Bootsdeck, wirft schließlich noch das letzte Stück Stoff von sich, sie ist ein Traum aus sonnengebräunter Haut und feurigen Blicken: Tante Patrizia (Luisa Ranieri) ist die eine begehrenswerte Lichtgestalt im Zentrum der Teenagerjahre von Fabietto Schisa (Filippo Scotti), 17-jähriger Sohn einer chaotischen neapolitanischen Familie. Die andere Lichtgestalt ist Diego Maradona, der Fußballgott, der möglicherweise in diesem Sommer für den SSC Napoli zu spielen beginnt.

Nicht von ungefähr hat Maradona den Spitznamen „la mano di dio“, auf ihn projiziert die ganze Stadt ihre Hoffnung, und so heißt auch der Film, der von Fabiettos abruptem Erwachsenwerden erzählt: „Die Hand Gottes“ ist der autobiografische jüngste Film von Sorrentino, in dem er den entscheidenden Sommer seiner Jugend nacherzählt. Der Film schildert wilde Familienzusammenkünfte, die an italienische Komödien aus den fünfziger und sechziger Jahren erinnern, und einen sehr rustikalen Umgang mit häuslicher Gewalt und psychischer Krankheit.

Fabietto bekommt von seinem Vater handfeste Ratschläge im Umgang mit Sexualität: „Das erste Mal ist immer schrecklich, also bring es hinter dich, mit wem auch immer es sich anbietet!“, erfährt von seiner verschmitzten Mutter, was es heißt, für einen guten Schmäh jede Freundschaft aufs Spiel zu setzen. Er merkt, wie relativ die Bedeutung ehelicher Treue ist, und lernt zufällig einen Ganoven kennen, der ihm das gute Leben näherbringt.

Gerettet vom Fußballgott

Dann kommt Maradona tatsächlich nach Neapel, und auf einmal beginnt der Sommer zu schweben, eine Erfahrung, die nah an der Wirklichkeit ist, wie Sorrentino im Gespräch mit ORF.at schildert: „Maradona ist in Neapel eine quasireligiöse Ikone, ein Halbgott. Er ist nicht in die Stadt angereist, um hier zu spielen, er ist erschienen.“ Doch wenige Monate später geschieht etwas, das Fabiettos Leben komplett auf den Kopf stellt und den Film in zwei Teile trennt: Beide Eltern sterben bei einem Unglück.

Schauspielerin Luisa Ranieri
Netflix
Tante Patrizia (Luisa Ranieri) ist der fleischgewordene Traum des jungen Fabietto, doch sie hat ihre eigenen Kämpfe auszufechten

Durch einen Zufall ist es Maradona, der Fabietto vor demselben Tod bewahrt, und genau so ist es Sorrentino wirklich passiert: „Er hat tatsächlich mein Leben gerettet.“ Mit 18 Jahren fand sich der junge Sorrentino praktisch allein auf der Welt wieder. „Bei allem Schmerz war das auch der Beginn eines enormen Persönlichkeitswachstums, ich habe unglaublich schnell lernen müssen, autonom zu funktionieren und erwachsen zu werden.“

Bei aller unvermittelter Tragik und Brutalität ist „Die Hand Gottes“ ein lichter, freudvoller Film: „Ich wollte von meiner persönlichen Erfahrung erzählen in der Hoffnung, dass diese spezifische Geschichte eine universelle Dimension hat.“

Für immer Teenager

Dieses Spezifische ist zum einen das Porträt von Neapel als selbstgenügsamer Stadt, in der eigene Regeln gelten und die durch ihren unverwechselbar derben Humor, den Dialekt, die spezifische Lage und die wechselvolle Geschichte im italienischen Kino wie in der Literatur eine einzigartige Rolle hat. „Nichts, was außerhalb der Stadt geschieht, ist relevant für die Neapolitaner, und damit ist die Stadt auch sehr beschränkt. Wenn dort jemand von außen mit einer neuen Idee ankommt, wird die sofort transformiert und in die neapolitanische Kultur assimiliert.“

Die Schauspieler von „Die Hand Gottes“
Netflix
Widerstand zwecklos: Wer einer neapolitanischen Großfamilie gegenübertritt, gibt sich am besten sofort geschlagen

Zum anderen schildert die zweite Hälfte des Films, wie aus dem plötzlich verwaisten Fabietto durch einige zufällige Begegnungen ein Geschichtenerzähler und angehender Regisseur wird. Es ist ein Aufbruch in ein neues Lebenswagnis, das ihm womöglich in Anwesenheit seiner Eltern gar nicht auf diese Weise möglich gewesen wäre: „Der frühe Tod meiner Eltern ist vielleicht auch der Grund, weshalb ich auf ewig versuche, ein Teenager zu bleiben.“

Seit Sorrentino vor acht Jahren mit seinem schwelgerischen Rom-Panorama „La Grande Bellezza – Die große Schönheit“ einen Oscar für den besten fremdsprachigen Film gewonnen hat, wird er auch außerhalb von Italien als Cineastenliebling gehandelt. Für „Die Hand Gottes“ bekam Sorrentino in Venedig den Silbernen Löwen für den Großen Preis der Jury, und der junge Hauptdarsteller Scotti wurde mit dem Marcello-Mastroianni-Preis für die beste Nachwuchsdarstellerleistung geehrt.

Freiheit in kleinen Dosen

Stilistisch ist dieser Film ganz anders als Sorrentinos große Erfolge wie „La Grande Bellezza“ und auch die mit Michael Caine, Harvey Keitel und Rachel Weisz international besetzte Satire „Ewige Jugend“ (2016), lässt aber Rückschlüsse auf die Wurzeln dieses opulenten Filmschaffens zu. Es ist ein schwermütiger Film mit leichten Momenten, der weniger aus einem Guss wirkt, dafür aber im Kern von einer großen Aufrichtigkeit getragen wird.

Filippo Scotti, Teresa Saponangelo und Toni Servillo
Netflix
Bessere Zeiten: Fabietto (Filippo Scotti) mit seiner Mutter (Teresa Saponangelo) und seinem Vater (Toni Servillo)

„Der Tod der eigenen Eltern bedeutet bei aller Trauer auch eine große Freiheit“, so Sorrentino. „Doch zugleich ist da eine enorme Angst. Wenn du dich sehr fürchtest, kannst du diese Freiheit nicht nutzen, erst wenn du die Angst überwindest. Unglücklicherweise ist Angst ein enormer Faktor in meinem Leben, also habe ich diese Freiheit nur in sehr kleinen Dosen verwendet.“

„Die Hand Gottes“ ist einer von mehreren Netflix-Filmen des Herbstes und Winters, die auch im Kino laufen, unter anderem sind das auch Jane Campions „Power of the Dog“, das Kriminaldrama „The Unforgiveable“ mit Sandra Bullock unter der Regie von Nora Fingscheidt und Adam McKays Weltuntergangssatire „Don’t Look Up“ mit Leonardo DiCaprio, Meryl Streep und Scarlett Johansson.