Zeichnung von W. G. Sebald, projiziert auf Buchseiten
ORF.at
W. G. Sebald

Licht und Schatten des Nachruhms

Kaum ein deutschsprachiger Autor hat in den letzten 30 Jahren von sich reden gemacht wie W. G. Sebald: Galt der Wahlbrite in seiner Muttersprache als Geheimtipp, wurde er schon früh international als Weltliterat gefeiert, der mit seinem ganz eigenen Genre die Schoah erzählbar machte. Zwanzig Jahre nach seinem Unfalltod wirft die erste Biografie ein neues Licht auf sein Werk.

Als Sebald – er selbst bestand auf der Abkürzung der Vornamen Winfried Georg, den ersten bezeichnete er einmal als „richtigen Nazi-Namen“ – am 14. Dezember 2001 mit seinem Wagen von einer Straße in der ostenglischen Grafschaft Norfolk abkam und verunglückte, war er am Zenit seines literarischen Ruhms angekommen.

Für seinen letzten Roman „Austerlitz“ (2001) hatte er von seinem englischen Verleger angeblich einen sechsstelligen Betrag als Honorar erhalten, die Materialen zu dem Roman hatte er in säurefreie Archivkisten verpackt – es schien, als hätte er vorausgesehen, dass sein Nachlass im deutschen Literaturarchiv in Marbach für die Forschung aufbereitet würde.

Bücher von W. G. Sebald
FISCHER Taschenbuch
Nur fünf Bände umfasst das zu Lebzeiten veröffentlichte literarische Werk Sebalds – genug für internationalen Nachruhm

International hatte die Kariere des 57-Jährigen schon längst Fahrt aufgenommen: Bereits beim Erscheinen der vier Langerzählungen „Die Ausgewanderten“ in englischer Übersetzung 1996 lobte Susan Sontag ihn als „zeitgenössischen Meister“. Javier Marias und Michael Ondaatje stimmten in das Lob ein.

Späte Entdeckung eines Streitbaren

Im deutschsprachigem Raum war Sebald damals zuerst als streitbarer Germanist bekannt, der etwa mit Essays zur österreichischen Literatur in den Bänden „Unheimliche Heimat“ und „Beschreibung des Unglücks“ auffiel. Er konnte aber auch für veritable Debatten sorgen, etwa mit „Luftkrieg und Literatur“, in dem er der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur, allen voran der Gruppe 47 und insbesondere Alfred Andersch, vorwarf, vor dem Thema des Luftkriegs gegen Nazi-Deutschland und dem Horror, den die Bevölkerung dadurch erleiden musste, versagt zu haben.

Sebalds Bücher zeichnet eine literarische Sprache höchst komplexen Stils aus, mit mäandernden, verschachtelten Sätzen, denen er aber eine Leichtigkeit gab, die geschickt darüber hinwegtäuschte, welch unermesslicher Anspielungsreichtum in den Sätzen schlummerte. In seinem Deutsch schimmerte Adalbert Stifter genauso durch wie Franz Kafka bis hinauf zu an Thomas Bernhard erinnernder Erzählkonstruktion in „Austerlitz“.

Biografie, Geschichtsschreibung, Fiktion

Sebald selbst nahm ernst, was er bei anderen als Versäumnis sah, und versuchte die deutsche Geschichte konsequent „immer weiter in die Fiktion zu treiben“, wie er es selbst bei einer Podiumsdiskussion formulierte. Noch im Langgedicht „Nach der Natur“ (1988) und dem Prosaband „Schwindel. Gefühle.“ (1990) waren die Protagonisten verbürgt, mit „Die Ausgewanderten“ (1992) fand er zu seiner Form, die Biografie, Essay, Geschichtsschreibung und Fiktion verbindet.

Sebald, dessen Erzähler oft viele Merkmale mit ihm teilen, zeigt sich in seinen Büchern als Moralist, der etwa in „Die Ringe des Saturn“ (1995) unterschiedslos über die rücksichtslose Ausbeutung der Natur in der Seidenproduktion des 17. Jahrhunderts und der Heringfischerei in der Nordsee, die Wehrmacht-Aktivitäten Kurt Waldheims, das Engagement Roger Casements gegen die Kolonialverbrechen im Kongo, das Bombardement Stuttgarts und die Befreiung des KZ Bergen-Belsen erzählt.

Diese moralistische Perspektive, die überall Verknüpfungen und Bezüge sehen will und Geschichte als Zerstörungsgeschichte begreift, kreist stets um Traumata der Schoah: die Versehrtheit der Überlebenden, der jüdischen Emigranten wie etwa seiner Figur Jacques Austerlitz, der die eigene Geschichte als Kind Prager Juden und Teil eines Kindertransportes nach England entdeckt.

Ringen mit der Tätergesellschaft

Just bei den Traumata setzt die Literaturkritikerin Carole Angier an, die Sebald auf minutiöser Kleinarbeit beruhend nun eine umfassende Biografie widmet. Schon der Titel spielt auf ihre Herangehensweise an: Angelehnt an Vladimir Nabokovs Autobiografie „Speak, Memory“ lautet er „Speak, Silence“.

Buchcover von W. G. Sebalds Biografie
Bloomsbury Publishing
Carole Angier: Speak Silence. Bloomsbury, 617 Seiten, 29,99 Euro.

Die Stille im Titel meint die Stille der Tätergeneration, den schweigenden Vater, den der dreijährige Winfried Georg erst nach der Kriegsgefangenschaft kennenlernte und ablehnte, der sich Fragen nach der eigenen Schuld ein Leben lang verweigerte. Ebenso wie die gesamte Tätergesellschaft, aus der Sebald schon bald als junger Mann auswanderte. Angier, die, wie sie im Vorwort schreibt, Tochter jüdischer Schoah-Überlebender aus Wien ist, ist der Komplex um Täterschaft und Schoah in Sebalds Werk zentral. Dass sie dafür andere Aspekte in dessen Schreiben ausklammert, merkt sie gleich zu Beginn an.

In ihrer gekonnt montierten und auf unzähligen Interviews basierenden psychologischen Lesart attestiert sie Sebald ein „Überlebensschuld-Syndrom“ gegenüber den Opfern der Schoah genauso wie den Opfern des Luftkrieges, der Sebald, so Angier, schon vor der Geburt zur Urszene wurde.

Sebald, der „Schwindler“

„Fiktion aus Fakten“ laute die Formel von Sebalds Schreiben. „Speak, Silence“ zeigt aber auch auf, wie sehr sich Sebald an den Lebensdetails der Menschen aus seinem Umfeld bediente. Gerade hier wird es spannend: Durch seine fiktiven Verbindungen von Fakten und Opfererzählungen mit häufig eingesetzten Bildern, die sich teils als dokumentarisch geben, komme Sebald der Funktionsweise von Relativismus der Schoah manchmal bedenklich nahe, obwohl er das Gegenteil bezwecke, schreibt Angier an einer Stelle.

Der „New Yorker“ hat Angier in einer Rezension jüngst beim Wort genommen und Sebald als „trickster“ (etwa: „Schwindler“) bezeichnet. Und tatsächlich weist Angier Sebald einen teilweise unkorrekten Umgang mit Fakten nach, gerade in Bezug auf seine frühen wissenschaftlichen Arbeiten.

Buch von W. G. Sebald
Eichborn Verlag/ORF.at
Sebald betreibt ein gekonntes Spiel mit Bildern, Gemälden und Grafiken, hier aus „Die Ringe des Saturn“

Arbeit an der Erinnerung

Wenn man nun diskutieren will, ob Sebald in seiner literarischen Arbeit problematisch war, geht die Frage vollkommen ins Leere. Sebalds Texte weisen auf jeder Seite aus, dass sie mit Referenzen etwa auf Nabokov, Joseph Conrad, Kafka, Jorge Luis Borges und viele weitere literarische Seelenverwandte gespickt sind. Sebalds Bücher stoßen auf ihr Verfahren – aus Fakten durch Kurzschlüsse Erzählungen zu produzieren – deutlich hin und haben doch den Anspruch, Traumata zu umkreisen und damit literarisch vermittelbar zu machen.

Ohnehin konnte und kann man Sebald als Umsetzung kulturwissenschaftlicher Erinnerungstheorien lesen. Erinnerung ist demnach prozessual, nicht gleichbleibend. Und so verknüpft Sebald die Fakten neu, um zu einer Erzählung zu gelangen, die – und das ist für die Bewertung wesentlich – gegen das Vergessen ankämpft und versucht, das Trauma einer als Zerstörungsgeschichte begriffenen Zeitgeschichte zu bearbeiten.

Kratzen am Bild des Übervaters

Reflexe, die versuchen, dieses Verfahren in Zweifel zu ziehen, sind vor allem eines: ein Beleg für Sebalds Ansehen im literarischen Kanon. Sebald ist besonders für eine ganze Generation englischsprachiger Autorinnen und Autoren vom amerikanisch-nigerianischen Teju Cole über den britischen Nature-Writing-Star Robert Macfarlane bis zur schottischen Journalistin und Autorin Ali Smith zu einem literaturgeschichtlichen Bezugspunkt, gar ästhetischen Übervater geworden.

Das vergisst man aus deutschsprachiger Perspektive gelegentlich bis heute. Einen derart gewachsenen Nachruhm zu relativieren, den Schatten zu suchen, der das Licht verdunkelt, erscheint da notwendig und heilsam.