Notenblatt einer Sonate
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Domenico Scarlatti

„Romantischer Chaot“ reloaded

In ihrem Umfang und ihrer eigenwilligen Schönheit stehen die Sonaten von Domenico Scarlatti ohne Vergleich in der Musikgeschichte da, ohne Vorläufer und auch ohne Nachahmer. Als „wilde Blumen am Zaun der Klassik“ wurden sie beschrieben und zur virtuosen Herausforderung für zahlreiche Pianisten. Zuletzt nahm Michael Korstick die Herausforderung an und schildert, was ihn an diesem, wie er Scarlatti nennt, „romantischen Chaoten“ reizte.

Er war der 1685 in Neapel geborene Sohn des Komponisten Alessandro Scarlatti und trat zunächst als Schöpfer von Opern und Sakralwerken hervor, bis er 1719 von Rom nach Lissabon und 1729 schließlich nach Madrid übersiedelte, wo er bis an sein Lebensende 1757 als Cembalo-Lehrer für die portugiesische Prinzessin und spätere Königin von Spanien, Maria Barbara de Braganca, arbeitete und fast ausschließlich nur noch Cembalo-Sonaten komponierte.

Immerhin galt er als der führende Cembalist seiner Zeit. Legendär ist sein Wettstreit mit dem gleichaltrigen Georg Friedrich Händel (1685–1759) auf Orgel und Cembalo, bei dem er auf dem Cembalo gewann und Händel auf der Orgel. „Ihm sei gewesen, als ob zehn Mal Hundert Teufel am Instrument gesessen wären“, zitiert der Musikhistoriker Charles Burney einen Zeugen von Scarlattis Auftritt.

Portrait von Domenico Scarlatti
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Das einzige von Domenico Scarlatti erhaltene Porträt aus dem Jahr 1738

Insgesamt 555 Scarlatti-Sonaten sind überliefert. Es würde annähernd 40 Stunden dauern, alle der meist drei- bis fünfminütigen Stücke hintereinander durchzuspielen. Ein großer Teil entstand wohl in den fast drei Jahrzehnten in Spanien. Sie waren sowohl als Übungsmaterial, wie ihr Titel „Essercizi“ verdeutlicht, als auch zur Unterhaltung für die Monarchin bestimmt. Was sie auszeichnet, ist ihr höchst unkonventioneller Charakter, der weit in die musikalische Zukunft weist.

Einladung an Interpreten

Vieles wirkt skizzenhaft, improvisatorisch, und der Fantasie wird freier Lauf gelassen. Die Themeneintritte und -bearbeitungen finden manchmal ohne erkennbare Logik statt, die Melodieverläufe sind oft unregelmäßig und die Verzierungen wahllos gesetzt. „Ich habe das Gefühl, dass Scarlatti ähnlich wie Franz Liszt Gedanken, ohne sie groß zu verarbeiten, einfach aufs Papier geworfen hat – nach dem Motto: heute habe ich die Idee und morgen wieder eine andere", beschreibt Korstick im ORF.at-Gespräch Scarlattis Arbeitsweise, „im Gegensatz zu jener eines Ludwig van Beethovens etwa, der Jahre über einem Stück saß, bis er alle Details ausgefeilt hatte“.

Hinzu kommt ein weiterer Punkt, der die beiden Komponisten unterscheidet. Während Entstehungsgeschichte und Chronologie der Werke Beethovens gut dokumentiert sind, gibt es zu Scarlattis Sonaten keinerlei verlässliche Informationen, denn kein einziges Manuskript hat überlebt, alle Sonaten liegen nur als Kopien mit teils erheblichen Textdifferenzen vor. „Interpreten bietet das aber enorme Freiräume“, so Korstick.

„Ich sehe das als Einladung, individuelle Entscheidungen zu treffen, denn Scarlatti erlaubt viel: Akkorde können beispielsweise mit bestimmten Noten aufgefüllt oder an einer Stelle der Rhythmus zur Parallelstelle angeglichen oder ein passendes Ornament gespielt werden. Bei Beethoven stellen sich diese Fragen alle nicht.“ Das Faszinosum sei, dass den Gestaltungsmöglichkeiten keinerlei Grenzen gesetzt sind – „und wenn sich der Interpret die Freiheit nimmt, einen romantischen Stil herausspielen zu wollen, steht dem auch nichts entgegen“.

„Raffinierter Spaß an der Kunst“

Seine eigene Herangehensweise sieht Korstick ähnlich wie bei Liszt, nämlich „zu verstehen versuchen, was der Charakter des Stücks ist, was den Komponisten bewogen haben mag, das Stück genau so zu schreiben und es dann genau so auszugestalten. Das nenne ich die romantische Herangehensweise im Gegensatz zu einer texttreuen Herangehensweise wie beispielsweise bei Beethoven.“ Das teils Unfertige der Stücke ist für Korstick „ein Auswuchs einer überbordenden Fantasie“. Und das mache die Sonaten „unvorhersehbar und so spannend“.

Offensichtlich ließ sich Scarlatti auch von seiner Umwelt inspirieren und verarbeitete in seinen Sonaten die spanischen Volkslieder und -tänze. An zahlreichen Stellen werden Mandolinen, Trommeln und Kastagnetten, Flöten, Trompeten und Dudelsackinstrumente sowie außermusikalische Geräuschquellen nachgeahmt. Scarlattis Werk weist Merkmale auf, die sich postmodern ausgedrückt durchaus als „Crossover“ bezeichnen ließen, meint der Philosoph Daniele Dell’Agli. Laut der Musikologin Barbara Zuber, von der das eingangs angeführte „Blumen“-Zitat stammt, ging erst Bela Bartok im 20. Jahrhundert ähnlich mit der Überwindung der Kluft von Volksmusik und Kunstmusik vor.

„Bitte erwarte – ganz egal, ob du Amateur oder Profi bist – in diesen Kompositionen keine Tiefgründigkeit, sondern ganz einfach raffinierten Spaß an der Kunst“, schrieb Scarlatti im Vorwort zu seinen Sonaten. „Zeig dich also lieber menschlich als kritisch; so wirst du dein eigenes Vergnügen sogar noch steigern (…). Lebe glücklich!“

Erfinder des modernen Klavierspiels

Die Sonaten sind aber nicht nur dank des „Crossovers“ seiner Zeit weit voraus, sondern auch dank der spieltechnischen Innovationen, die zum Teil erst auf dem modernen Konzertflügel ihren ganzen Klangreichtum entfalten. Als einer der Ersten brach Scarlatti mit der Tradition, die Daumen nicht zu benutzen, und verlangte das Spiel mit allen zehn Fingern. In manchen Sonaten verwendete er für seine Zeit geradezu akrobatische Techniken wie Sprünge, Lagenwechsel, Handüberschläge, Arpeggi, rasche Terzenläufe oder Tonrepetitionen – Elemente, die später erst wieder Liszt und Frederic Chopin in ihren Etüden aufgriffen.

Buchhinweis

Musik-Konzepte 47: Domenico Scarlatti. Hrsg. von Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn, München 1986

„Das ist ganz schön gepfeffert“, sagt Korstick. „Dabei geht es immer um die Frage: Wie schnell soll es sein?“ Die langsamen Stücke, die vielleicht technisch weniger schwer seien, seien gestalterisch schwer, so Korstick, dessen Definition von Technik lautet: „Technik bedeutet die Beherrschung des Instruments, und da sind auch die langsamen Stücke teilweise eine sehr große Herausforderung im technischen Sinne.“

In ihrer unmittelbaren Emotionalität und Crossover-Subjektivität erscheint Scarlattis Musik Hörerinnen und Hörern vergleichsweise nahe. Und doch ist diese Vertrautheit erst relativ neuen Datums. Nachhaltig wiederentdeckt als vollwertige Kompositionen und nicht nur als sporadische Showstücke von Pianisten wurden die Sonaten von Vladimir Horowitz, der als letzter Romantiker gilt, 1964 mit einer Einspielung einer kleinen Auswahl. Auch Korstick gilt Horowitz als Vorbild. „Dank der Bandbreite an Interpretationsmöglichkeiten ist das Ende der Fahnenstange aber nie erreicht.“

Scarlatti up to date

Das Scarlatti-Feeling neu aufleben lässt Korstick mit seiner neuen CD mit 37 Sonaten, die dem Ohr postulierten „raffinierten Spaß an der Kunst“ wunderbar bereitet. Sein Anschlag, seine Akzente, seine Abstufungen – kraftvoll und gleichzeitig sehr nuanciert kommt Scarlatti hier unter Ausnutzung des gesamten Klangspektrums des Klaviers aus dem Lautsprecher und erweckt den Eindruck, das „Essential“ dieser Musik, wie der CD-Titel verspricht, zu erfassen.

Cover der CD „Domenico Scarlatti: Klaviersonaten“ gespielt von Michael Korstick
CPO

Auch die Werkauswahl unterstützt diesen Eindruck: Korstick entschied sich für die „Best of Scarlatti“-Edition des Notenverlags Henle, der aus den 555 Sonaten die 32 populärsten zusammengestellt hat. Hinzu kommt eine Alternativversion der g-Moll-Sonate K8 sowie vier der beliebtesten Sonaten, die bei Henle als Einzelausgaben erschienen sind – darunter gleich zu CD-Beginn die E-Dur-Sonate K380, die Korstick in allen seinen Konzerten als Zugabe vorträgt und als eine Art Unterschrift versteht.

„Wohl kaum ein anderer Pianist hat Scarlattis Poesie, seine Melancholie, seinen Drang und seine Heiterkeit so gut aus einem vernünftigen Interpretationsmodell in einen absolut außergewöhnlichen künstlerischen Elan überführt (…). Und damit ist Korstick das ultimative Scarlatti-Album gelungen“, schreibt das Musikmagazin „Pizzicato“, das die CD mit dem Supersonic Award auszeichnete. Alles in allem: ein Scarlatti up to date.