Ein Teenager sitzt mit traurigem Blick an einem Fenster
Getty Images/ipolonina
Alarmierende Daten

Aufwachsen in einer instabilen Welt

Schlafstörungen, Angst- und Stresssymptome, depressive Symptomatiken, suizidale Gedanken, Suizidversuche: Die Daten zu den Auswirkungen der Pandemie auf Kinder und Jugendliche sind alarmierend. ORF.at hat mit zwei Expertinnen über Impfdebatten unter Sechsjährigen gesprochen, über das Scheitern der Erwachsenen, Kindern und Jugendlichen Sicherheit zu geben, und darüber, wie trotz allem Hoffnung vermittelt werden kann.

Für Kinder und Jugendliche vergeht die Zeit gefühlt langsamer. Die Pandemie dauert schon bald zwei Jahre an – und damit nicht nur gefühlt einen sehr großen Teil einer Kindheit und Jugend. In diesem Zeitraum saßen Teenager monatelang alleine zu Hause und waren nur über ihr Smartphone mit der Außenwelt verbunden. Volksschulkinder erlebten ihre ganze Schulzeit als unsichere Aneinanderreihung von Präsenz- und Lockdown-Phasen. Und Kleinkinder lernten eine Welt ohne Pandemie nie kennen.

„In Relation zur eigenen Lebenszeit ist es eine unglaublich lange Zeit für Kinder und Jugendliche. Für eine Achtjährige dauert die Pandemie nun schon ein Viertel ihres Lebens und wahrscheinlich ein Drittel der Phase, an die sie sich bewusst erinnern kann“, sagt Ulrike Zartler vom Institut für Soziologie der Universität Wien. Seit Beginn der Pandemie führt Zartler mit ihrem Team regelmäßig Gespräche mit Eltern für die österreichweite Längsschnittstudie „Corona und Familienleben“ durch. „Sehr beunruhigend“ sei alleine schon die Tatsache, dass die Eltern die Auswirkungen der Pandemie auf ihre Kinder in vielen unterschiedlichen Bereichen sehen.

Vater und Sohn spielen zusammen
Getty Images/Westend61
Eltern können gleichaltrige Freundinnen und Freunden nicht ersetzen, sagt Soziologin Zartler

Traurigkeit und Antriebslosigkeit

„Die Eltern nehmen Traurigkeit und Antriebslosigkeit bei ihren Kindern wahr“, erzählt Zartler im Gespräch mit ORF.at. Bei vielen Jugendlichen sei die Einsamkeit massiv. „Eltern können viel ersetzen und bemühen sich auch sehr, aber sie können keine Kinder, keine gleichaltrigen Freunde und Freundinnen ersetzen.“ Auch die Angst der Kinder vor Ansteckung und davor, dass Angehörige erkranken und sterben könnten, werde von den an Zartlers Studie teilnehmenden Eltern immer wieder erwähnt.

Ulrike Zartler
citronenrot
Die Soziologin Ulrike Zartler führt an der Uni Wien die Studie „Corona und Familienleben“ durch

„Wir müssen als Gesellschaft aufpassen, welche Botschaften wir an Kinder senden“, sagt Zartler. So sei in einem Werbespot für die Impfung eine Alleinerziehende dargestellt worden, die ihre Kinder nicht sehen kann, weil sie sich nicht rechtzeitig geimpft habe. „So etwas zu sehen, schürt unglaubliche Ängste bei Kindern: Wer kümmert sich um mich, wenn meine Eltern erkranken?“

Impfdebatten unter Sechsjährigen

Unsicherheit begleite den Alltag, sagt Zartler: „Auch die ganz jungen Kinder sagen schon: ,Ich feiere meinen Geburtstag – wenn es möglich ist‘. Sie denken bei allem, worauf sie sich freuen, die Möglichkeit des Scheiterns mit: Geburtstagsfeste, Schulveranstaltungen, Theateraufführungen.“ Und auch die Debatten der Erwachsenen tragen zur Verunsicherung bei. An der Studie teilnehmende Volksschullehrerinnen erzählen etwa davon, dass schon Sechsjährige innerhalb der Klasse heftig diskutieren, warum es dumm sei, sich impfen oder sich nicht impfen zu lassen. „Es gibt Streitigkeiten, es wird geweint, es gibt Enttäuschung.“

Seit bald zwei Jahren erleben Kinder und Jugendliche instabile Situationen in unterschiedlichen Lebensbereichen: in der Schule und oft auch in der Familie, so Zartler. „Gerade jüngere Kinder gehen davon aus, dass Eltern allwissend sind und dass sie für jedes Problem eine Lösung haben.“ Zu merken, dass die Eltern selbst keine Erklärungen haben und nicht wissen, wie alles weitergeht, sei sehr schwierig für Kinder und Jugendliche.

Suizidversuche von Jugendlichen verdoppelt

Welche langfristigen Spuren die Pandemie bei Kinder und Jugendlichen hinterlassen wird, könne man noch nicht sagen, sagt Caroline Culen. Die klinische Psychologin und Geschäftsführerin der Liga für Kinder- und Jugendgesundheit vermutet aber, dass ein gewisser Prozentsatz chronische Belastungssymptome, Ängste, depressive Symptomatiken und andere Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung zeigen wird.

Laut einer aktuellen Studie des Departments für Psychotherapie und Biopsychosoziale Gesundheit der Donau-Universität Krems weisen etwa 62 Prozent der Mädchen und 38 Prozent der Burschen in Österreich eine mittelgradige depressive Symptomatik auf. Rund ein Fünftel der Mädchen und 14 Prozent der Burschen würden unter wiederkehrenden suizidalen Gedanken leiden. „Die bisherigen Maßnahmen reichen ganz offensichtlich nicht“, so Studienautor Christoph Pieh. Es bestehe dringender Handlungsbedarf, die Belastungsgrenze der Jugendlichen sei weit überschritten.

Die Suizidversuche von Jugendlichen verdoppelten sich laut dem AKH in Wien im Vergleich zum Vorjahr. Bei vielen hätten die depressiven Entwicklungen „sehr häufig ihren Ursprung in der Pandemie genommen, mit dem Wegfallen sozialer Kontakte, aber auch mit dem Wegfallen aktueller Tagesstruktur“, sagt Paul Plener, Leiter der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie im Wiener AKH – mehr dazu in wien.ORF.at.

„Hoffnung vermitteln und Freiräume bewahren“

Sollte sich die Gesellschaft angesichts dieser Zahlen nicht ernsthafte Sorgen um diese Generation machen, die neben der Pandemie auch durch die Klimakrise belastet ist? „Ich bin Psychologin und ich mache mir ernsthafte Sorgen“, sagt Culen. Wichtig sei, zu vermitteln, dass das Leben trotz allem weitergehen kann. „Und zwar ein Leben, das Zuversicht und Hoffnung vermittelt.“ Dazu gehöre, möglichst viele Freiräume zu bewahren und Erlebnisse zu ermöglichen, die Freude machen und guttun.

Jugendliche gehen plaudernd eine Straße entlang
Getty Images/Maskot
Eine eigene Peergroup zu haben sei wichtig für ein gesundes Aufwachsen, sagt Psychologin Culen

Dabei gehe es nicht um Konsumismus, sondern um Ausflüge in die Natur, Erlebnisse in der Gemeinschaft, Sport, Kreatives – angepasst an das Kind oder den Jugendlichen. „Auch wenn vieles trostlos aussieht, kann man Erlebnisse ermöglichen, bei denen gelacht und Lebensfreude vermittelt wird.“

Vielen Kindern und Jugendlichen sei es zudem sehr wichtig, mit ihren Freunden und Freundinnen zusammen zu sein. Nur weil ein heute Sechzehnjähriger vor der Pandemie noch nicht auf Partys war, heiße das nicht, dass er Partys nicht brauche, sagt Culen. Neue Menschen kennenlernen, sich in einem Umfeld ohne Eltern zu bewegen, Autonomie entwickeln, Grenzüberschreitungen: All das gehöre zu den Entwicklungsaufgaben, die notwendig für ein gesundes Aufwachsen sind.

Hilfe im Krisenfall

Die Psychiatrische Soforthilfe bietet unter 01/313 30 rund um die Uhr Rat und Unterstützung im Krisenfall.

Die österreichweite Telefonseelsorge ist ebenfalls jederzeit unter 142 gratis zu erreichen. Hilfe bietet auch Rat auf Draht unter der Nummer 147.

Niederschwellige Unterstützung

„Der Schlüssel ist Kommunikation“, sagt Soziologin Zartler. Viele Eltern wollen ihre Kinder vor einem Zuviel an Informationen und auch vor „Fake News“ schützen. Doch die Informationen über konfliktbehaftete Themen seien überall: im Kindergarten, in der Schule, im Freundeskreis. „Eltern bleibt nur die Kommunikation.“ Und dabei gelte: „Ganz genau hinhören, nachfragen, und immer wieder anbieten: Ich bin da, wenn du reden möchtest.“ Das ermöglicht es, das Befinden der Kinder einschätzen und rechtzeitig Unterstützung anbieten zu können. Gerade bei Jugendlichen sei zudem ein gemeinsamer Konsum von Nachrichten und der Austausch darüber sinnvoll.

Auch Zartler rät zu einem Ausgleich zur Pandemie mit allem, was es an Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung mit Gleichaltrigen gibt: von Sport über Musik bis zu Vereinen wie den Pfadfindern. Darüber hinaus fordert Zartler ausreichend niederschwellige psychosoziale Unterstützungsangebote. Vor allem müsse schnell etwas passieren, denn „die steigenden Zahlen zu Depressionen lassen einen erschauern“. Gerade bei psychischen Erkrankungen von Kindern und Jugendlichen gebe es zudem enorme Folgekosten, wenn nicht rechtzeitig gegengesteuert wird.

Caroline Culen
Jana Madzigon
Die Psychologin Caroline Culen ist Geschäftsführerin der Liga für Kinder- und Jugendgesundheit

„Kinder sind keine Anhängsel“

Es sei absurd, dass psychosoziale Versorgung in Österreich für Kinder und Jugendliche nach wie vor nicht über die E-Card möglich sei, sagt Culen. Für ein Kind, das in eine Depression schlittert, müsse schnelle Hilfe und Unterstützung ohne lange Wartezeiten möglich sein. „Privat können sich das viele Familien nicht leisten.“ Psychosoziale Unterstützung müsse zudem „zu den Lebensorten der Kinder und Jugendlichen kommen, zu den pädagogischen Einrichtungen, zu den Freizeiteinrichtungen und in die Familien“.

Mit der Liga für Kinder- und Jugendgesundheit fordert Culen darüber hinaus ein Kinderministerium, das ressortübergreifend für die Interessen von Kindern und Jugendlichen eintritt. Dabei gehe es auch um die tagtägliche Erfahrung des Ernstgenommenwerdens und des Mitgestaltens, so Culen.

„Kinder und Jugendliche sind keine Anhängsel von Erwachsenen, sondern eine große Bevölkerungsgruppe, die sehr informiert und sehr engagiert ist.“ Die Auseinandersetzung mit der Pandemie und der Klimakrise verursache bei vielen ein Gefühl der Bedrohung und der Zukunftsangst. „Sie sehen, dass die Erwachsenen die Pandemie nicht im Griff haben und die Klimakrise schon gar nicht. Es ist unsere Aufgabe als Erwachsene, alles dafür zu tun, um Kindern und Jugendlichen ein Gefühl von Sicherheit zu geben. Und im Moment schaffen wir das nicht.“