Seit er ein Kind gewesen sei, habe ihn die „West Side Story“ begleitet, das Musical sei eine der ersten Schallplatten gewesen, die er von seinem Vater bekommen habe. Als dann der „freche kleine Steven“ an einem Abend am Esstisch aus der rasanten Nummer „Gee Officer Krupke“ zitiert habe („my father is a bastard“), seien nur die Liedtexte von Stephen Sondheim schuld gewesen: Launig erzählt Spielberg, der am Samstag 75 Jahre alt wird, im „Guardian“-Interview von seinen Kindheitserinnerungen an das große Leonard-Bernstein-Musical.
Nun hat sich Spielberg den Traum erfüllt, ein Remake des Musicals zu inszenieren. Dabei hat er die Rivalität zwischen den beiden Jugendgangs, auf der einen Seite die weißen Jets, auf der anderen die puerto-ricanischen Sharks, nicht mit der Brechstange in die Gegenwart versetzt, sondern belässt sie auf den Straßen der New Yorker West Side Ende der 50er Jahre.
Es ist Spielbergs erster Ausflug in das Genre – und ein fulminantes Breitleinwand-Fest, das den Stoff vordergründig sanft modernisiert und an entscheidenden Stellen Akzente setzt, die Konflikte verdeutlichen. Die Sharks etwa bekommen zu Leonard Bernsteins Kompositionen anfangs eine zusätzliche Nummer, als sie nach einem von der Polizei verhinderten Straßenkampf die puerto-ricanische Hymne als selbstbewussten Schlachtruf anstimmen.
Dosenschlichten statt Faustkampf
Der Rassismus der Jets und die Revierkämpfe zwischen den Gangs sind in Wahrheit nur Symptome eines wachsenden ökonomischen Drucks, weil ein Wohnblock nach dem anderen den Baumaschinen zum Opfer fällt und demnächst an der West Side das schicke Lincoln Center entstehen soll. Was in Tony Kushners neuem Drehbuch genauer herausgearbeitet ist, war schon im Originalbuch von Arthur Laurents angelegt, als Umdeutung von Shakespeares „Romeo und Julia“, wo die verfeindeten Familien Montague und Capulet einander bekriegen.
Romeo und Julia hingegen heißen hier Tony und Maria: Er (gespielt von Ansel Elgort), Sohn polnischer Einwanderer, wurde erst kürzlich aus dem Gefängnis entlassen, nachdem er in einer Schlägerei einen anderen fast totgeprügelt hatte, und will sein Leben nun fern jeder Gewalt neu sortieren. Anstatt weiter mit den Jets um die Häuser zu ziehen, schlichtet Tony in einer Greißlerei Dosen in die Regale und versucht, sich von seinem besten Freund Riff (Mike Faist) fernzuhalten.

Maria (Rachel Zegler) ist schon vor Jahren aus Puerto Rico nach New York gekommen, um für ihren Großvater zu sorgen. Seit ihr älterer Bruder Bernardo (David Alvarez) als Anführer der Sharks das Viertel aufmischt, ist ihr Leben kompliziert geworden. Bernardos Freundin Anita (Ariana DeBose) plädiert aber dafür, Maria wenigstens zum „Dance at the Gym“ mitzunehmen, wo sich die Jugend des Viertels unter polizeilicher Aufsicht versöhnen soll. Dort begegnet sie Tony, und für beide ist es Liebe auf den ersten Blick – doch für die verfeindeten Gangs der Anlass für den Bandenkrieg.
„Somewhere“ als Hoffnung auf Frieden
Stilistisch bleibt Spielberg eng an der legendären Inszenierung von Robert Wise und Jerome Robbins aus dem Jahr 1961, die damals mit zehn Oscars ausgezeichnet worden war, an entscheidenden Stellen modernisiert er aber und rückt zurecht, was damals schiefging. Die Rollen der puerto-ricanischen Figuren etwa werden allesamt von Darstellerinnen und Darstellern mit lateinamerikanischen Wurzeln gespielt, damals wurden Maria und ihr Bruder Bernardo noch von Natalie Wood und George Chakiris mit dunklem Make-up dargestellt.

Diese Besetzung ist ein Aspekt, auf den vor allem Rita Moreno stolz ist, die die verwitwete Greißlerei-Besitzerin Valentina spielt. Sie sang und tanzte 1961 die Rolle der Anita und bekam dafür einen Oscar. Hier ist sie als Ausführende Produzentin nicht nur Partnerin und Beraterin von Spielberg, ihr gehört in der Neuverfilmung auch die herzzerreißende Ballade „Somewhere“, die sonst von Tony und Maria gesungen wird und von der Hoffnung auf ein friedliches Miteinander handelt.
Auch sonst ist Spielbergs „West Side Story“ trotz des altmodischen Settings ein heutiger Film, der die Konflikte und Figuren allesamt zuspitzt. Die in dramatischen Szenen sehr bewegliche Handkamera von Kameralegende Janusz Kaminski ist näher an einem Kinofilm-Look als die theatrale Version von 1961. Gespielte Szenen und Tanz fügen sich zu einem organischen Ganzen, ein Höhepunkt ist die akrobatische Nummer „Gee, Officer Krupke“, in der der vierschrötige Polizist des Viertels veralbert wird.

Kein Happy End an der West Side
Maria ist keine naive Teenagerin, sondern eine souveräne New Yorkerin, die sich wegen der Aggressionen ihres Bruders in einer unmöglichen Lage wiederfindet. Und Tony hat sich nicht aus freien Stücken zum Bravsein entschieden, sondern wurde durch die Gefängnisstrafe drastisch daran erinnert, wie sein Hang zu unkontrollierter Gewalt sein Leben und das von anderen zerstören kann.
Spielbergs „West Side Story“ ist ein vibrierender, großer Kinofilm, der die Erstverfilmung aus 1961 nicht zu überstrahlen versucht, sondern das Erbe respektiert und dort aktualisiert, wo es sinnvoll und notwendig ist. Dass der Film bei den Golden Globes als bestes Musical nominiert wurde und damit auch Spielbergs Jagd auf einen Oscar eröffnet ist, ist Ehrensache. Wie schon weiland bei Romeo und Julia in Verona gibt es allerdings auch an der West Side kein Happy End für die Liebenden.