Schongauers Heilige Familie
KHM
Versteckte Botschaften

Das Geheimnis des Weihnachtsbildes

Ein Bild sage mehr als tausend Worte, meint man gemeinhin. Diese Überzeugung nährt auch die digitalen Bildspeicher. Gerade zu Weihnachten werden millionenfach Bilder in sozialen Netzwerken geteilt. Viele, die auch mit traditionellen Motiven zu tun haben: der Heiligen Familie, der Krippe mit den Tieren. Die Bedeutung der Bilder, vor allem der Details, ist der Gesellschaft abhandengekommen. Dennoch bedienen diese Bilder Grundsehnsüchte, die vor Hunderten Jahren auch nicht anders waren als in der digitalen Gegenwart.

Wenn es nun stimmte, dass ein Bild mehr als tausend Worte sagte, dann liegt darin eigentlich auch ein gewisses Risiko. „Ein Bild hat immer nur mehr als eine Bedeutung“, erinnert der Kulturwissenschaftler Johannes Domsich, der mit ORF.at vor dem Weihnachtsfest das Kunsthistorische Museum (KHM) in Wien besucht hat, um bei einem der Schlüsselwerke dieses Hauses die Vielzahl von Bedeutungen herauszuarbeiten, die ein Meisterwerk wie Martin Schongauers „Heilige Familie“ (um 1480) haben kann. Auch die benachbarte große Tizian-Ausstellung des Hauses empfehle sich, um den Bedeutungen alter Bilder, gerade rund um das Weihnachtsfest, auf die Spur zu kommen, sagt KHM-Generaldirektoin Sabine Haag zu ORF.at. Alte Meister hätten uns für die Gegenwart viel zu sagen.

Die Suche nach der Bedeutung des Weihnachtsbildes

Eine Spurensuche im Kunsthistorischen Museum in Wien

Doch es gilt auch: Bilder muss man lesen können. Und das meint damit nicht so sehr eine kunsthistorische Expertise. „Mit der Aufklärung setzt ein Prozess ein, der das Lesen und die Kommunikation über diese Bilder in den Hintergrund drängt“, verweist Domsich auf Effekte der Säkularisierung. „Natürlich gibt es weiter tradierte Wissensbestände, aber die Bibelfestigkeit, die zum Lesen dieser Bilder nötig ist, lässt nach“, so der Experte. Damit ist letztlich gesagt, dass ein Bild selten für sich allein steht, sondern immer auf eine ihm zugrunde liegende Geschichte und einen Zusammenhang verweist.

Schongauer im Originalformat
KHM
Nicht mal eine A4-Seite ist Schongauers „Heilige Familie“ groß. Vom Format her würde sie als Andachtsbild dienen, das man auf Reisen hergezeigt hat

Die Intimität des Weihnachtsbildes

Dass man zu Weihnachten die Heilige Familie in einem neuen, intimeren Kontext darstellt, hat mit Entwicklungen zu tun, die bereits in der Malerei des 14. Jahrhunderts starten, die sich vollends aber in der Kunst des 15. Jahrhunderts entfalten – sowohl in Italien als auch im nördlicheren Raum. Die flämische Malerei im Norden ist dabei ein entscheidender Treiber für eine neue Auffassung und Darstellung auch der Heiligen Familie zu Weihnachten, auf die etwa einer der berühmtesten Kupferstecher dieser Zeit, Schongauer, gebürtig im elsässischen Colmar, zurückgreifen kann.

Wenn für die Malerei der Renaissance oft von der Erschließung des Raumes in technischer Hinsicht die Rede ist, nicht zuletzt durch die Entdeckung der Zentralperspektive, so ist für die Kunst dieser Zeit aber noch eine andere Raumauffassung entscheidend, die die Forschung seit Ernst Cassirer zunehmend in den Mittelpunkt gestellt hat: Der private bzw. intime Innenraum wird zu einem öffentlichen Raum. Und auch wenn es den Begriff des „Privaten“ in unserem heutigen Sinn im späten Mittelalter noch nicht gab, so schafft die Malerei dieser Zeit eine Koppelung zwischen einem sehr direkten Raum des Innerlichen und dem Raum des Betrachters, der außen steht.

Gekoppelt werden diese Bereiche durch verschiedene Erzählungen, die im Bild angelegt sind, aber die letztlich vom Betrachter ausgeführt werden müssen. „Sobald wir anfangen, von Dingen auch nur zu sprechen, deren Erfahrungsort im Privaten und Intimen liegt, stellen wir sie heraus in einen Bereich, in dem sie Wirklichkeit erhalten“, schreibt die Philosophin Hannah Arendt in ihrer „Vita Activa“ und meint damit den Effekt einer gesteigerten Intensität.

Tizians Madonna mit dem Kind aus 1510
KHM
Intimität zwischen Mutter und Kind bei Tizian im KHM. Das Bild stammt aus dem Jahr 1510.

Neue Erzählräume

Die Malerei des 15. Jahrhunderts erschließt in diesem Sinn neue Erfahrungsräume für die Betrachter, die einiges an Vorkenntnis verlangen, die aber sehr stark auf eine Intimität und Direktheit im Verhältnis zwischen Bild und Betrachtung setzen – und die damit das Weihnachtsbild mit einer großen Stimmung, aber nicht zuletzt mit zahlreichen Botschaften auflädt.

Zum Thema:

  • Johannes Domsich: Ver Icon. Was Bilder erzählen. Dachbuch Verlag. 200 Seiten mit zahlr. Illustrationen, 36,00 Euro.
  • Zu Tizian läuft im KHM noch bis Ende Jänner 2022 die Ausstellung „Tizians Frauenbild“. Begleitend ist dazu auch ein Katalog erschienen.

„Natürlich“, sagt Domsich, „ist die Kenntnis theologischer Zusammenhänge wichtig, andererseits waren die Kenntnisse auch damals auf dem Niveau eines Kinderkatechismus“. Schongauer, der ja als Kupferstecher erfolgreich war und eine eigene Signatur entwickelte (ein Prinzip, das Albrecht Dürer danach erfolgreich übernahm), konnte durch die Reproduktion seine Blätter breiteren, auch städtisch-bürgerlichen Kreisen zukommen lassen und damit auch seine eigene gesellschaftliche Position festigen. Das Schauen von Bildern, etwa wenn man an die im KHM ausgestellten Andachtsbilder denkt, war sehr oft aber auch gesellschaftlichen Eliten, etwa Adelskreisen, vorbehalten. Ein Massenmedium war das Bild im 15. Jahrhundert noch nicht. Das beginnt sich erst mit der Erfindung des Buchdrucks zu ändern (und warf ja die Debatte zwischen Bildbefürwortern und Bildgegnern erneut auf).

„Themen, die man auch heute noch spürt“

Dennoch, so erinnert Domsich, hätten die Weihnachtsbilder ab dem 15. Jahrhundert auch noch heute eine große Kraft, gerade, weil es darin sehr stark um Nähe gehe: „Diese Themen kann heute jeder spüren, zumal wir in einer Zeit leben, wo die Nähe nicht mehr selbstverständlich ist – oder wir zu Weihnachten gerade in einer Pandemie in einer Situation sind, in der wir uns weniger frei entscheiden können, mit wem wir das Fest verbringen.“

Auch der in Weihnachtsbildern angelegte Widerspruch zwischen dem fröhlichen Kind und dem sorgenvollen Blick der Eltern müsse man nicht nur theologisch als Wissen der Eltern um das weitere Schicksal lesen. Vielmehr berühre das, so Domsich, eine allgemein menschliche Kategorie des naiven Kindes mit den erfahrenen Eltern, „die wissen, dass das Leben nicht nur ein Honiglecken“ sein werde.

Detail zu Martin Schongauer
KHM/Google ArtsandCulture
Details bei Schongauer. Freigelegt von Google ArtsandCulture. Rot und Blau beim Mantel der Gottesmutter verweisen auf die Aspekte von Macht und zugleich den Himmel. Blau ist eine seltene Farbe in dieser Zeit.

Haag: Tizian schafft das Sinnbild zum Weihnachtsfest

Intimität und Wissen um das Kommende, das macht auch für KHM-Chefin Haag die Wirkung der Weihnachtsbilder ihres Hauses aus. Haag hat sich gegenüber ORF.at Tizians „Madonna mit Kind und buntem Ehrentuch“ (1510) aus dem Besitz des KHM ausgesucht. Das Bild ist im Rahmen der großen Tizian-Schau des KHM zu sehen und steht für Haag als „herausragendes Meisterwerk“ da, gerade weil es eine Verbindung zwischen der göttlichen Natur des Christuskindes und der menschlichen Natur seiner Mutter schaffe. Für sie, Haag, sei die Intimität der Situation zwischen dem Kind und der Mutter, die natürlich schon um das Kommende wisse, ein Sinnbild fürs Leben. Ein Sinnbild für Weihnachten sei dieses Bild aber gerade deshalb, weil es noch für die Friedlichkeit und Ruhe der Situation stehe – in dieses Bild, so Haag, könne man sich auch nach den Feiertagen in ihrem Haus, das sie als einen Speicher unseres kulturellen Gedächtnisses sieht, vertiefen.

Sehr oft genügt auf den Bildern, die das frühe Leben Jesus darstellen, die Kombination aus Mutter und Kind. Beide erscheinen von göttlicher wie menschlicher Natur. Auch Schongauer hat den Josef, so zeigen es Untersuchungen, erst später mit in das Bild hereingenommen. Auffällig am Bild Josefs ist sein Alter.

Sabine Haar im KHM
Karl Schöndorfer / picturedesk.com
KHM-Chefin Haag empfiehlt ihr Haus für eine Entdeckungsreise zur Wurzel unserer Bildauffassungen

Der erste „Patchworkdaddy“

„Dass Josef ab der Renaissance vor allem als alter Mann dargestellt wird, hängt nicht zuletzt an der Funktion, die er im Bild hat“, erläutert Domsich: Gestützt wird dadurch das Verhältnis der jungen Mutter Gottes und dem Christuskind, das Maria ja „empfangen“ hat – und das eben nicht von Josef nach christlicher Vorstellung gezeugt wurde. Um dieses Verhältnis klarzumachen, stehe Josef gerade ab dem 15. Jahrhundert als alter Mann im Bild, während man sich ihn im Mittelalter durchaus noch als jungen Bräutigam vorgestellt hätte, erinnert Domsich: „Wenn man so will, war er der erste Stiefvater der Geschichte. Oder auch, überspitzt, einer der ersten Patchworkdaddys.“

Ochs und Esel im Bildhintergrund stehen für das Judentum (Ochs) und die Ungläubigen (Esel). Die Trauben auf dem Bild stehen in Zusammenhang mit dem Wissen der Eltern um das weitere Schicksal des kleinen Kindes: In den Trauben steckt das Blut Christi, das hingegeben werde.

Johannes Domsich zur Botschaft der Bilder für die Gegenwart

Überhaupt, so empfiehlt Domsich, könnte man über den Aspekt der Gabe, die in diesem Bild stecke, reflektieren. Josef halte ja nicht Heu in der Hand, „sondern das Korn, das auch für die Unschuld steht“. Überhaupt hätte Josef in diesen Bildern, aus heutiger Sicht betrachtet, eine sehr moderne Rolle, „denn er ist der fürsorgende Hausvater. Die Gaben, die er bringt, sind wärmend, nährend, schützend.“ Wenn man so wolle, brächte Josef die wichtigen Gaben. Und wenn man gerade auf den Konsumismus der Gegenwart blicke, dann bliebe die Reflexion auf den Sinn des Geschenks, der in diesen Bildern stecke: „Hier geht es darum, dass geschenkt wird, was gebraucht wird.“

Heilige Josef bei Schongauer
KHM/Google ArtsandCulture
Alter Josef: Er muss sich vom Paar mit himmlischem Sendungsauftrag Jesus und Maria unterscheiden

Auch wenn man sich heute mit der Bedeutungsvielfalt, die in den alten Weihnachtsbildern stecke, schwertäte, so liegt für den Kunst- und Kulturwissenschaftler nach wie vor eine zentrale Funktion in den alten Bildern: „Sie funktionieren schließlich als Übersetzungen zwischen dem biblischen Geschehen und der Geschichte des eigenen Lebens.“ Und viel von dieser Funktion würden diese Bilder jenseits der Verstehensschwelle mit auf den Weg geben.