Ampullen mit Moderna mRNA Covid-19 Impfstoff
picturedesk.com/EXPA/Florian Schroetter
Millionen Impfdosen vor Verfall

Hersteller sperren sich gegen Weitergabe

In Österreich sind Millionen Impfdosen vor dem Verfall. Ins Ausland weitergegeben werden dürfen sie aber offenbar nicht: Die Hersteller beharren auf einem Vetorecht für die Weitergabe. Ärzte ohne Grenzen (MSF) schlägt nun Alarm. Das Gesundheitsministerium widersprach, räumte aber Verfall ein.

Laut MSF droht in Österreich ein Impfdosenverfall in großem Ausmaß. Dies geht aus Berechnungen der humanitären Organisation hervor, die der APA exklusiv vorliegen. Selbst wenn im ersten Quartal alle Impfpflichtigen ihren Erst-, Zweit- oder Drittstich erhielten und es viele Kinderimpfungen gäbe, würden nach aktuellen Prognosen mit Ende März 10,2 Millionen Dosen auf Lager liegen, erläuterte MSF-Experte Marcus Bachmann. Aktuell sind sieben Millionen Dosen ungenutzt.

„Das ist so ein dramatischer Überschuss, dass ganz klar wird, dass dringender Handlungsbedarf besteht“, so der Pharmaexperte. Er wies darauf hin, dass die Impfstoffe eine für Arzneimittel vergleichsweise kurze Haltbarkeitsdauer von sechs bis neun Monaten haben. Selbst bei einer konsequenten Beachtung des „First in, first out“-Prinzips könnte es angesichts von Ablaufdaten schon sehr bald „eng“ werden, warnte Bachmann.

Ultrakühlschränke für den Corona-Impfstoff
APA/Helmut Fohringer
In derartigen Kühlschränken werden die Impfstoffe aufbewahrt

Moderna „sehr strikt“ bei Vetorecht

In der Prognose für das erste Quartal berücksichtigt sind auch 750.000 Dosen des neu zugelassenen fünften Covid-19-Impfstoffs von Novavax. Schwierig ist die Weitergabe von Impfdosen ans Ausland. Wie Bachmann erläuterte, haben sich die Hersteller nämlich ein Vetorecht gesichert, wobei vor allem Moderna sehr strikt sei.

Entsprechend könnten Hunderttausende Moderna-Dosen in Österreich ungenutzt bleiben. Bachmann schätzt, dass von den 3,3 Millionen gelieferten Dosen noch etwa die Hälfte in Lagern liegen. Laut den im elektronischen Impfpass eingetragenen Daten wurden bisher erst 1,4 Millionen Dosen verimpft.

Auch AstraZeneca bleibt liegen

Die größte Diskrepanz erwartet Bachmann allerdings bei AstraZeneca. Von dem Impfstoff, der schon seit dem Sommer kaum noch verimpft wird, hat Österreich 5,2 Millionen Dosen erhalten. 2,2 Millionen Dosen wurden gespendet. Von den restlichen drei Millionen sei aber „viel weniger verimpft“ worden. „Da dräut ganz sicher ein großes Volumen, das bald ablaufen wird“, so Bachmann.

Exakte Zahlen zum Lagerbestand gibt es zwar nicht. Aus den vom Gesundheitsministerium veröffentlichten Daten lässt sich aber ein Lagerstand von etwa 8,2 Millionen Impfdosen ableiten – davon knapp sieben Millionen zentral gelagert, der Rest ausgeliefert, aber noch nicht verimpft.

Im ersten Quartal 2022 sollen sieben Millionen Dosen dazukommen. Gebraucht würden aber trotz Impfpflicht und Boosterimpfungen bestenfalls 5,6 Millionen Dosen, errechnete der Experte. Dieser Bedarf sei ein „theoretisches Best-Case-Szenario“ und beruhe darauf, dass alle Impfpflichtigen geimpft bzw. geboostert werden und auch „ein guter Teil“ der fünf- bis elfjährigen Kinder. Bachmann wies jedoch darauf hin, dass genaue Aussagen zum Ablauf von Impfstoffdosen wegen der mangelnden Transparenz der Behörden schwierig seien.

Ministerium dementiert

„Dass Millionen Impfstoffe verfallen könnten, entspricht nicht den Tatsachen“, dementierte das Gesundheitsministerium in einer der APA übermittelten Stellungnahme. Nicht einmal 3.000 Dosen seien bisher in den Impfstofflagern des Bundes abgelaufen. Dem Gesundheitsminister sei ein „großes Anliegen, dass keine Impfstoffe ablaufen“, und bisher sei das auch gelungen. „Wir haben in der Bundesregierung für das Jahr 2022 Vorsorge getroffen, dass 100 Prozent der Bevölkerung mit bis zu drei Stichen versorgt werden können. Dafür wurden am europäischen Markt vorausschauend entsprechende Mengen bestellt.“

Millionen Impfdosen vor Verfall

Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen warnt davor, dass in Österreich Millionen Impfdosen der Verfall droht.

Das Ministerium verwies zugleich auf Impfstoffspenden von über drei Millionen Dosen, räumte aber zugleich einen bevorstehenden Verfall von 280.000 Dosen AstraZeneca ein. Für diese habe nämlich „trotz intensiver Bemühungen der Bundesregierung“ bisher kein Abnehmerland gefunden werden können, und sie liefen „demnächst“ ab. Es handle sich aber „um einen verschwindend geringen Teil im Vergleich zu den über 16 Millionen Dosen, die in Österreich bislang verimpft wurden“.

Wie sieht es mit den Ablaufdaten aus?

Die APA hatte das Gesundheitsministerium bereits am Montagabend in einer detaillierten Anfrage um Stellungnahme zum Thema der verfallenden Impfdosen ersucht. Diese Anfrage blieb bis Mittwoch unbeantwortet. Auch die nun übermittelte Stellungnahme geht nicht auf wesentliche Fragen ein – wie etwa jene, wie viele der gelagerten Impfdosen ein über das erste beziehungsweise zweite Quartal hinausreichendes Ablaufdatum haben.

Zugleich bestätigen die nunmehrigen Ministeriumsangaben die Einschätzung des MSF-Experten, der bei AstraZeneca „ganz sicher ein großes Volumen, das bald ablaufen wird“, konstatiert hatte.

Geharnischter Brief an EU aus Deutschland

Das deutsche Gesundheitsministerium hatte bereits Mitte Oktober in einem Brief an die EU-Gesundheitsbehörde HERA Alarm geschlagen und einen Abbau von bürokratischen Hürden für Impfstoffexporte gefordert. Einige Länder drohten nämlich „große Mengen an wertvollen Impfstoffen wegwerfen zu müssen“. Aus dem österreichischen Gesundheitsministerium hieß es damals, größere Impfstoffspenden seien erst 2022 geplant.

Damals befanden sich 4,3 Millionen Impfdosen in Österreich auf Lager. Das Ministerium betonte, dass die AstraZeneca- und Johnson-&-Johnson-Dosen gespendet werden sollten. Gut 3,6 Millionen Dosen an mRNA-Impfstoffen würden für Drittstiche sowie Erst- und Zweitimpfungen gebraucht.

Aktuelles System „absurd“

Österreich hat laut Gesundheitsministerium bereits 2,2 Millionen Impfdosen international gespendet, fast die Hälfte davon an den Iran. Eine Ausweitung der Spenden ist nicht nur wegen bürokratischer Hürden, sondern auch wegen der kurzen Haltbarkeitsdaten schwierig.

Überhaupt sei das aktuelle System, bei dem Impfdosen zunächst in einen Staat geliefert und von diesem dann an andere abgegeben werden, „absurd“, so Bachmann. „Wir würden umgekehrt nie so eine lange unlogische Lieferkette akzeptieren.“

„Strategiewechsel“ gefordert

Das Missverhältnis zwischen vollen Lagern in Österreich und Impfstoffmangel in weiten Teilen der Welt zeigt für den Experten, dass es einen „Strategiewechsel“ in der Impfstoffversorgung brauche, so Bachmann weiter. Das von Wirtschaftsministerin Margarete Schramböck (ÖVP) vorgeschlagene Konzept der Zwangslizenzen sei dabei zu langsam, zu teuer und unzureichend, um rasch genug wirksam zu sein.

Der einzige sinnvolle Weg sei eine Aussetzung des Patentschutzes und eine dezentrale Impfstoffproduktion, bekräftigte Bachmann die Forderung von MSF und zahlreichen weiteren NGOs, der sich auch schon Gesundheitsminister Mückstein und seine Vorgänger aus den Reihen von SPÖ und ÖVP angeschlossen haben.

Nigeria musste gespendeten Impfstoff vernichten

Bachmann wies darauf hin, dass die Omikron-Variante nur wegen des hohen Infektionsgeschehens und der niedrigen Impfraten entstehen konnte. Setze man die bisherige Politik fort, „dann befürchte ich, dass das die beste Basis für weitere Varianten ist, die noch mehr können“, weil sie infektiöser oder tödlicher seien als die bisherigen beziehungsweise die Schutzwirkung von Impfungen unterlaufen, so Bachmann.

Nigeria vernichtete nun mehr als eine Million von westlichen Ländern gespendeten AstraZeneca-Impfdosen. Der Mangel an Impfstoffen habe das Land dazu gezwungen, die gespendeten Vakzine trotz ihrer kurzen Haltbarkeit anzunehmen, sagte der Direktor der National Primary Health Care Development Agency, Faisal Shuaib, am Mittwoch. Die Vernichtung der abgelaufenen Vakzine solle das Vertrauen der Nigerianer in das Impfprogramm des Landes stärken, so Shuaib. Zukünftig wolle Nigeria keine bald ablaufenden Impfstoffspenden mehr annehmen, sagte Gesundheitsminister Osagie Ehanire.

WHO kritisiert reichere Länder

Die UNO warnt seit Langem davor, dass die ungleiche Verteilung von Impfstoffen dazu führt, dass viele Menschen in den ärmeren Ländern keine einzige Impfung erhalten, während die reicheren Länder Auffrischungsimpfungen vorantreiben. Reiche Länder sind mit ihren Auffrischimpfungen für alle nach Überzeugung der UNO-Weltgesundheitsorganisation (WHO) wahrscheinlich für eine Verlängerung der Pandemie verantwortlich, wie die Organisation am Mittwoch erklärte.

Wären die dafür verwendeten Impfdosen an Gesundheitspersonal und gefährdete Menschen in ärmeren Ländern gegangen, hätten schon im September 40 Prozent der Menschen in allen Ländern geimpft werden können.

UNO-Ziel verpasst

Die WHO geht davon aus, dass bei einer globalen Impfrate von 40 Prozent in jedem Land die akute Phase der Pandemie beendet wäre. Stattdessen verpassten mehr als die Hälfte der WHO-Mitglieder das 40-Prozent-Ziel auch bis Ende des Jahres, sagte WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus am Mittwoch in Genf.

„Flächendeckende Auffrischungsprogramme werden die Pandemie wahrscheinlich verlängern, anstatt sie zu beenden“, sagte Tedros. Das liege daran, dass Impfdosen in Länder geliefert würden, die bereits eine hohe Durchimpfungsrate haben. Diese Impfdosen fehlten in ärmeren Ländern. Das gebe dem Virus die Gelegenheit, sich in unterversorgten Gegenden auszubreiten und dort neue Varianten zu bilden.