Eingangsbereich des Gartenbau Kinos am Parkring in Wien
picturedesk.com/KURIER/Jeff Mangione
Erzwungene Privatheit

Die Abkehr vom öffentlichen Raum

Das Prinzip der Öffentlichkeit galt stets als Gradmesser für eine entwickelte demokratische Gesellschaft. Doch die Pandemie zeigt: Der öffentliche Raum, als Artikulations- und Bewegungsgebiet für die Öffentlichkeit, ist zum unsicheren Terrain geworden. Die Pandemie hat auch Wertigkeiten verschoben. Vieles, was öffentlich war, spielt sich nun erzwungenermaßen in privaten Räumen ab. Und auch wenn das nicht neu ist, so bleibt im anbrechenden dritten Jahr der Pandemie die Erkenntnis, dass sich die Verunsicherung, was das Öffentliche anlagt, noch eine Zeit lang halten wird.

Das dritte Jahr Pandemie, das die Welt 2022 wohl ansteuert, hat erhebliche Auswirkungen auf alle Staaten dieser Erde. Rechtsstaatlich haben die westlichen Demokratien ihre Belastungstests wohl bestanden, wenn es etwa darum ging, Eindämmungsmaßnahmen auf die Herausforderungen eines sich wandelnden Virus abzustellen. Für den gesellschaftlichen Zusammenhalt erwies sich Covid-19 dagegen als große Belastungsprobe. Hatte man am Anfang noch meinen können, nach der Pandemie würden rauschende Zeiten anbrechen, so stehen gegen diese Erwartungen Erfahrungen, die eher von einer kollektiven Verunsicherung künden. Auch diese Verunsicherung kann überwunden werden. Doch betroffen ist nicht zuletzt das Verhältnis von Öffentlichem und Privatem, das durch das Coronavirus auf eine harte Probe gestellt wurde.

Hält das hehre Konzept des Öffentlichen noch?

Erst im Licht öffentlichen Handelns gewinnen die Taten des Menschen an Klarheit, sodass eine Beurteilung derselben möglich würde, wusste schon im 14. Jahrhundert der mittelhochdeutsche Spruchdichter Heinrich der Teichner („Die ehre treit man öffentlichen, laster siht man in winkel slichen“). Mit dem Wort „öffentlich“, so der deutsche Historiker und Geschichtstheoretiker Lucian Hölscher, sei seit jeher der Gedanke verbunden, dass „erst in der öffentlichen Manifestation der Dinge ihre Evidenz begründet“ liege.

Heinrich der Treichter in einer Buchmalerei des 15. Jahrhunderts
Public Domain
Spruchdichter in Wien: Heinrich der Teichner. Er vertrat die Auffassung, dass wichtige Handlungen das Licht der Öffentlichkeit zwecks Beurteilung bräuchten

„Heute“, so Hölscher weiter, „erscheint Öffentlichkeit in den Demokratien des Westens eine Garantie für eine nicht mehr anders kontrollierbare Vernunft“ zu sein. Als Hölscher das im Rahmen von Reinhart Kosellecks „Geschichtlichen Grundbegriffen“ notierte, schrieb man das Jahr 1979. Die Erfahrungen eines Kapitol-Sturms wie die Eroberung des öffentlichen Raums gerade von „quer“ zum behaupteten Mainstream agierenden Gruppen sind in diesen idealstaatlichen Überlegungen noch nicht eingepreist.

Die Nutzung bzw. Nutzbarkeit des öffentlichen Raumes ist kein Selbstverständnis mehr. Im Gegenteil: Viele, die ihn zu nutzen gewohnt waren, scheuen ihn mittlerweile. Andere verwenden ihn in einer Ventilfunktion, die ihn für die Mehrheit der Gesellschaft in einen nicht sicheren Ort verwandelt: Wer nicht mehr gewiss ist, eine Klinik verlassen zu können, ohne in einen Disput mit Kritikern von Notfallmaßnahmen zu kommen, wird den öffentlichen Raum – abseits der Frage, ob er pandemiebedingt genutzt werden darf oder nicht – per se meiden.

Die Pandemie des Privaten

Ein anderer Effekt der Pandemie ist die erzwungene Form der Privatheit. Menschen werden geradezu in ihre eigenen vier Wände gezwungen. Mitunter als Familie und Gruppe. Aber auch alleine mit deutlich geringeren Optionen für persönlichen Austausch.

Im digitalen Zeitalter wiederum verwischt seit Langem die Grenze zwischen öffentlich und privat. Im Privaten ist heute zu haben, was früher teils nur öffentlich zu bekommen war. Mittlerweile ist das Heimkino nicht mehr Ausnahme, sondern Normalzustand. Produktionen im Bewegtbildbereich müssen auf Plattformen verfügbar sein, für Medienproduzenten wird das Plattformdenken als die neue Aufgabe der Gegenwart definiert. In jeder Situation soll alles verfügbar sein. Und damit ergibt sich die Frage: wozu noch öffentlich? Wozu noch öffentlich in Opernhäuser, Theater, Kinos, Konzerte gehen, wo im Rahmen des Eigenheimes alles aus der Welt verfügbar ist? Im Zweifel bieten Lieferdienste auch bei allen Bedürfnissen des Alltags eine Versorgungsoption, sodass das Betreten eines öffentlichen Raumes nicht mehr nötig ist. Vor Jahrzehnten scherzte man in Manhattan, es sei der ideale Ort für Pensionisten, weil man durch die ständige Lieferdienstverfügbarkeit nie wieder die Wohnung verlassen müsse.

Verfall des öffentlichen Lebens?

Ein Verfall des öffentlichen Lebens wird beklagt. Und selbst, wenn die Pandemieschranken zwischenzeitlich gelockert werden, füllen Opernhäuser oder Theater ihre Zuschauerräume nicht mehr so selbstverständlich wie früher. Seit der Frühphase der Pandemie erinnern Kommentatoren an Richard Sennetts Klassiker „Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität“ aus dem Jahr 1977. Bei Sennett brauchte es keine Pandemie, um einen Verfall der Öffentlichkeit zu beklagen. Bei ihm erlebte die Öffentlichkeit bis 1800 eine Blütezeit, weil man gerade im 18. Jahrhundert den öffentlichen Raum und die Begegnungen darin gesucht habe, ja, es ein Absehen von seinen eigenen Befindlichkeiten gegeben habe, um dem Fremden im öffentlichen Raum begegnen zu können.

Richard Sennett in einer Diskussion mit seiner Frau Saskia Sassen in Berlin
David Baltzer / laif / picturedesk.com
„Wollen nur noch uns selbst und nicht mehr den anderen kennenlernen“: Richard Sennett, hier im Dialog mit seiner Frau, der Soziologin Saskia Sassen

Als Folge des Industriekapitalismus habe laut Sennett der private Raum an Bedeutung gewonnen, mit ihm aber auch die Frage nach einer authentischeren Erfahrung seiner selbst (die Sennett natürlich gerne als Fiktion entlarven wollte). „Sich selbst kennenzulernen, ist zu einem Zweck geworden, ist nicht länger ein Mittel, die Welt kennenzulernen", lautet eine seiner bekannten Losungen. Durch das Verschwinden der Öffentlichkeit sei „die Welt verloren“ gegangen, weil es nur noch um die Persönlichkeit und die Entwicklung der Persönlichkeit gehe, ja das, was uns persönlich betreffe, zum „Gradmesser unserer Aufmerksamkeit“ geworden sei.

Hinweis:

Der Artikel versteht sich als Anstoß für eine Debatte über den Umgang mit dem öffentlichen Raum in und nach der Pandemie. Auch auf ORF.at soll diese Diskussion in den kommenden Wochen geführt werden.

Wo Sennett bestätigt und widerlegt wird

Man muss ein über 40 Jahre altes Buch nicht zur Erschöpfung zitieren, um doch festzustellen, dass die Pandemie Sennetts Vermutungen bestätigt wie auch möglicherweise widerlegt. Zwar mag die persönliche Betroffenheit zum Gradmesser unserer eigenen wie gesellschaftlichen Leidensfähigkeit geworden sein. Doch zwang uns die Pandemie nicht nur zur Privatheit – wir haben diese also nicht aus hedonistischen oder konsumkapitalistischen Gründen gesucht. Das teilweise komplette Abhandenkommen eines öffentlichen Vergleichsraumes verstärkte auch kollektive Verunsicherungen. Gerade im schulischen Bereich zeigen Studien, dass der Verlust des Austausches im öffentlichen Raum der schmerzhafteste Effekt der Pandemie für junge Menschen ist. Und nicht etwa ein Rückfall bei Bildungsleistungen (das belegte eine Studie des Instituts für Jugendkultur im Auftrag des ORF im September 2021).

Tatsächlich ist Öffentlichkeit noch immer der Gradmesser für gesellschaftlichen Zustand. Von den Demonstrationen auf dem Prager Wenzelsplatz 1989 bis zu breit angelegten Protesten in Minsk in der jüngeren Vergangenheit bleibt die Erwartung an den öffentlichen Raum, dass sich in ihm kollektive Willensbildung ermessen lassen könne.

Kerzenbild vom Lichtermeer für die Opfer der Pandemie
Georges Schneider / picturedesk.com
Wer artikuliert sich im öffentlichen Raum? Das jüngste Lichtermeer steht auch als Artikulation einer Verunsicherung.

Wer nutzt den öffentlichen Raum? Und muss es ein Realraum sein?

In Ländern wie Österreich oder Deutschland verunsichern die Demonstrationen gegen die Pandemie die Gesellschaft umso mehr, weil sich ein großer Teil der Gesellschaft, mit Ausnahme der jüngsten Lichtermeer-Aktion (die freilich weniger Menschen auf die Straße brachte als so manche Anti-Corona-Demonstration), zu den eigenen Haltungen öffentlich auf der Straße artikuliert. Öffentliches Agieren, das bezeichnet mittlerweile auch ein Ausweichen in soziale Netzwerke, wo der Öffentlichkeitseffekt ohnedies schwer zu bemessen ist.

Nun gehört der öffentliche Raum zweifelsfrei nicht einer bestimmten Gruppe. Die Pandemie zeigt aber, dass die Nutzung des öffentlichen Raumes alles andere als ein Selbstverständnis ist, ja die Koppelung von Öffentlichkeit und Aufgeklärtheit kein Selbstläufer ist. Im Gegenteil: Die Koordinaten könnten sich weiter verschieben. Für den Moment bleibt eine Verunsicherung im Umgang mit dem öffentlichen Raum spürbar. Und auch erkennbar, dass Algorithmen großer Plattformen im Mindset (das ja nie einheitlich, bestenfalls mehrheitlich sein kann) einer Gesellschaft mitspielen. Wie schnell diese ihre Sicherheiten finden wird, bleibt auch eine der zentralen Fragen für 2022.