Ein Mitglied der Menschenrechtsorganisation Memorial wird vor dem Obersten Gericht in Moskau verhaftet
APA/AFP/Natalia Kolesnikova
Auflösung angeordnet

Russland besiegelt Aus für NGO Memorial

Das oberste Gericht Russlands hat das Aus für die Menschenrechtsorganisation Memorial angeordnet. Die Vereinigung, die zu den ältesten und prominentesten zivilgesellschaftlichen Organisationen des Landes zählt, wird wegen Verstoßes gegen das Gesetz über ausländische Agenten aufgelöst. Die NGO will das Urteil vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte bekämpfen.

Die Ende der 1980er Jahre gegründete Gesellschaft sprach von einer „politischen Entscheidung“ ohne Rechtsgrundlage. Ziel sei die „Zerstörung einer Organisation, die sich mit der Geschichte politischer Repressionen und mit dem Schutz der Menschenrechte befasst“. Menschenrechtler beklagen zunehmende autoritäre Tendenzen und die Verfolgung Andersdenkender in Russland. Man werde sowohl in Russland als auch vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Rechtsmittel einlegen.

Der Vertreter der russischen Generalstaatsanwaltschaft, Alexej Dschafjarow, sagte vor Gericht, dass Memorial mit seiner Arbeit die vor 30 Jahren aufgelöste Sowjetunion als „Terrorstaat“ darstelle und Lügen über das Land verbreite. Die russische Justiz warf Memorial zudem wiederholte Verstöße gegen das Gesetz über ausländische Agenten vor.

Anwälte der Menschenrechtsorganisation Memorial vor dem Obersten Gericht in Moskau
APA/AFP/Natalia Kolesnikova
Anwälte der NGO wollen gegen das Urteil Rechtsmittel einlegen

Agentengesetz als Regelwerk gegen Andersdenkende

Die Organisation ist mehrfach zu Geldstrafen verurteilt worden, weil sie sich selbst nicht als ausländischer Agent bezeichnet. Das Gesetz sieht vor, dass Empfänger von Zahlungen aus dem Ausland als „Agenten“ bezeichnet werden können. Betroffen sind auch viele Journalisten.

Das Regelwerk steht international als politisches Instrument für willkürliche Entscheidungen gegen Andersdenkende in Russland in der Kritik. Beklagt wird auch, dass jene, die sich für die Rechte von Menschen einsetzen, als Spione stigmatisiert würden. Memorial fordert seit Langem die Aufhebung des Gesetzes. Die Organisation setzt sich zum Ärger der russischen Führung etwa auch für politische Gefangene ein – 349 gibt es demnach auf der Liste.

Viele Oppositionelle, darunter die Anhänger des inhaftierten Kreml-Gegners Alexej Nawalny, sind in Russland von der Justiz als Extremisten eingestuft. Memorial sieht sich durch das Führen einer Liste zu politischen Gefangenen dem Vorwurf ausgesetzt, „das Mitwirken in terroristischen und extremistischen Organisationen“ zu rechtfertigen. Das sei falsch – erfasst würden Menschen, die aus politischen Gründen verfolgt würden, sagte die Memorial-Juristin Tatjana Gluschkowa.

Ein Mitglied der Menschenrechtsorganisation Memorial wird vor dem Obersten Gericht in Moskau verhaftet
AP
Die russische Polizei räumt politisch Andersdenkende sukzessive aus dem Weg

Gegründet zur Aufarbeitung des stalinistischen Terrors

Memorial wurde in den letzten Jahren der Sowjetunion gegründet und konzentrierte sich zunächst auf die Dokumentation der Verbrechen der Stalin-Ära. Die Gruppe hat sich in jüngerer Zeit auch gegen die Unterdrückung von Dissidenten unter Präsident Wladimir Putin ausgesprochen. Im vergangenen Monat beschuldigte die Staatsanwaltschaft das in Moskau ansässige Menschenrechtszentrum Memorial und seine Mutterorganisation Memorial International, gegen das Gesetz über ausländische Agenten verstoßen zu haben, und forderte das Gericht auf, sie zu schließen.

Die Staatsanwälte erklärten insbesondere, dass Memorial International gegen die Vorschriften verstoßen habe, indem die Organisation nicht alle ihre Veröffentlichungen, einschließlich der Beiträge in den sozialen Netzwerken, mit der gesetzlich vorgeschriebenen Bezeichnung gekennzeichnet habe. Sie warfen dem in Moskau ansässigen Zentrum außerdem vor, Terrorismus und Extremismus zu unterstützen. Am Dienstag beschäftigt sich das Moskauer Stadtgericht mit dem Menschenrechtszentrum Memorial.

Russland löst große Menschenrechtsorganisation auf

Russland hat eine der wichtigsten Menschenrechtsorganisationen im Land verboten. Das oberste Gericht hat heute die Auflösung von Memorial verfügt. Die Organisation setzt sich für die Aufarbeitung stalinistischen Terrors in der Sowjetunion und die Wahrung der Bürgerrechte im heutigen Russland ein.

„Schwerer Schlag für russische Gesellschaft“

Im Ausland stieß die von Russlands oberstem Gericht angeordnete Auflösung von Memorial auf breites Entsetzen. Das sei „ein schwerer Schlag für die russische Gesellschaft“ und für ganz Europa, hieß es etwa in einer gemeinsamen Erklärung mehrerer deutscher Organisationen. „Memorial steht wie keine andere Organisation für ein offenes, menschenfreundliches, demokratisches Russland, das die Versöhnung innerhalb der eigenen Gesellschaft und mit seinen Nachbarn sucht.“

In der Erklärung, die etwa von der Heinrich-Böll-Stiftung, Amnesty International, dem Deutsche PEN-Zentrum, der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora und der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur der DDR unterzeichnet wurde, wird Memorial als „moralisches Rückgrat der russischen Zivilgesellschaft“ gewürdigt. Der russische Staat gebe mit der Auflösung „ein erschütterndes Selbstzeugnis ab: Er bekämpft die Auseinandersetzung mit der eigenen Unrechtsgeschichte und möchte individuelle und kollektive Erinnerung monopolisieren.“ Zudem habe das Gerichtsverfahren die „ganze Absurdität des Gesetzes über ‚ausländische Agenten‘ offengelegt“.

„Das Urteil des Obersten Gerichtshofs zur Auflösung der hochgeachteten Organisation Memorial International ist ein schwerer Schlag für alle unabhängigen Stimmen in Russland“, kommentierte am Nachmittag das österreichische Außenministerium auf Twitter. Man bedauere die Entscheidung als einen weiteren Schritt, der es für die Zivilgesellschaft noch enger werden lasse. Es handelt sich dabei um die erste bekannte öffentliche Erklärung des offiziellen Wien zur Causa Memorial. Zu den Gründen des bisherigen Schweigens wollte man im Außenministerium nichts sagen.

Tschechien und Polen verurteilen Entscheidung

Polen und Tschechien zeigten sich entsetzt. Die Entscheidung sei „ein Symbol der Repression gegen die Zivilgesellschaft und der fehlenden unabhängigen Gerichtsbarkeit“ in Russland, teilte das Außenministerium in Prag mit. Russland schade mit dem Schritt in erster Linie seinen eigenen Bürgern. „Keine Gesellschaft kann lange ein Leben in Lüge über die eigene Geschichte führen“, hieß es weiter. Auch die polnische Regierung verurteilte das Verbot. Polen werde die wunderbaren Menschen von Memorial niemals im Stich lassen, sagte ein Sprecher des Außenministeriums in Warschau der Agentur PAP zufolge.

Bittere Botschaft an den Westen

Memorial-Mitbegründerin Irina Scherbakowa bezeichnete die Vorwürfe gegen die Organisation als „absurd und lächerlich“. In einem Podcast von Memorial Deutschland verglich sie den Umgang der russischen Behörden mit der Organisation kürzlich mit einer „Geiselnahme“: Memorial „zu vernichten“, sei ein Signal an Regierungskritiker: „Ihr müsst alle Angst haben.“ Scherbakowa sagte der Nachrichtenagentur AFP, das Verfahren gegen Memorial sei aber auch eine Botschaft an den Westen, die laute: „Wir machen mit der Zivilgesellschaft im Land, was wir wollen. Wir stecken ins Gefängnis, wen wir wollen, wir lösen auf, wen wir wollen.“

Weniger systematisch als in Russland erfolgt diese Einschüchterung aber auch anderswo: Weltweit gehen immer mehr – meist rechtspopulistische oder nationalistische – Regierungen gegen NGOs vor, die direkt oder indirekt Kritik an der Politik üben. Dabei ist die Einschränkung der Finanzierung oft ein erster Schritt, um NGOs das Leben schwerzumachen. Am Montag verkündete etwa die indische Regierung, dass die von der Ordensschwester Mutter Teresa gegründete Hilfsorganisation kein Geld von ausländischen Spenderinnen und Spendern mehr erhalten dürfe. Der Schritt wurde als Schikane gegen die christliche Gemeinschaft verurteilt.