Schüler überqueren Barrikade von Protestern
AP/Rodrigo Abd
Katastrophen ohne Ende

Schweres Schicksal lastet auf Haiti

Das neue Jahr hat in Haiti begonnen, wie das vergangene geendet hat: mit Kriminalität, Korruption und politischem Chaos. Nachdem ein Killerkommando Staatspräsident Jovenel Moise Mitte des Vorjahres erschossen hat, sind die Hintergründe bis heute ungeklärt. Vergangenes Wochenende ist nun Regierungschef Ariel Henry eigenen Angaben zufolge einem Attentat entgangen. Die Krise in dem bitterarmen Karibik-Staat ist bodenlos.

Haiti ist das ärmste Land des amerikanischen Kontinents und leidet seit Jahren unter Korruption, Gewalt und Naturkatastrophen. Seit dem verheerenden Erdbeben 2010 mit geschätzt 316.000 Todesopfern und fast zwei Millionen Menschen, die ihre Unterkunft verloren, ist es stark von Entwicklungshilfe abhängig. Die Hilfe von außen aber war und ist oft schlecht koordiniert, versiegte in dubiosen Quellen. „So wurde der Staat geschwächt, den wir eigentlich unterstützen wollten“, schrieb der UNO-Wiederaufbaubeauftragte Bill Clinton einst in einem Bericht.

Im August des Vorjahres verstärkte ein erneutes Erdbeben die Not im Land. 2.200 Menschen starben, über 12.000 wurden verletzt, Zehntausende Behausungen verwüstet. Unmittelbar darauf peitschte der Tropensturm „Grace“ mit heftigen Regenfällen über das Land und machte die ohnehin nur schleppend anlaufende Verteilung von Hilfsgütern noch schwieriger.

Eingestürztes Haus nach Erdbeben in Haiti
AP/Odelyn Joseph
Im August 2021 verloren wieder Hunderttausende Bewohnerinnen und Bewohner Haitis ihre Bleibe

Politik am Ende

Auch politisch erweist sich Haiti anhaltend als Hort der Instabilität. Das Land ist ein gescheiterter Staat, im „Fragile States Index“ der NGO Fund for Peace liegt es seit 15 Jahren unter den ersten 15 von 178 Ländern, aktuell auf Platz 13. Und nichts spricht dafür, dass sich das bald ändern könnte.

Im Februar entging Präsident Moise nach eigenen Angaben noch einem Staatsstreich und Mordanschlag. In der Nacht auf den 7. Juli wurde er dann von einem Killerkommando in seinem eigenen Haus erschossen, seine Frau entkam verletzt und floh in die USA. Die Hintergründe sind bis heute nicht geklärt, Dutzende Männer aus Kolumbien, Haiti und den USA wurden festgenommen, drei Kolumbianer erschossen.

Ein halbes Jahr nach der Ermordung von Moise wurde diese Woche ein kolumbianischer Verdächtiger in den USA festgenommen. Dem 43-Jährigen wird vor einem Bundesgericht in Florida unter anderem Verschwörung zum Mord oder zur Entführung außerhalb der Vereinigten Staaten vorgeworfen, wie das US-Justizministerium am Dienstag mitteilte. Der frühere Soldat hatte sich nach Jamaika abgesetzt und sollte von dort in sein Heimatland abgeschoben werden. Während eines Zwischenstopps in Panama habe er sich jedoch bereiterklärt, in die USA zu reisen, hieß es.

Premier unter Mordverdacht

Später konzentrierte sich der Verdacht auf den noch von Moise selbst eingesetzten Premierminister Henry – die Staatsanwaltschaft wollte ihn im September „aufgrund der Schwere der aufgedeckten Tatsachen“ anklagen. Der Regierungschef entließ daraufhin den Chef der Staatsanwaltschaft: „Ich habe das Vergnügen, Sie über die Entscheidung zu informieren, Sie von Ihrem Amt zu entbinden“, hieß es in einem Schreiben Henrys. Die für 7. November geplanten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen sowie ein Verfassungsreferendum wurden auf sein Geheiß auf unbestimmte Zeit verschoben. Ein beschlussfähiges Parlament gibt es seit Anfang 2020 nicht mehr.

Foto vom ehemaligen Ministerpräsidenten von Haiti Jovenel Moise bei seinem Begräbnis
AP/Odelyn Joseph
Anfang Juli wurde Staatspräsident Moise in seiner Residenz erschossen

Neues Attentat geplant

Am Montag ließ Henry wissen, dass es gegen seine Person einen Attentatsversuch gegeben habe, er befinde sich „in der Schusslinie“. Vom Büro des Regierungschefs an die Nachrichtenagentur AFP geschickte Fotos zeigten dessen gepanzerten Dienstwagen mit den Spuren eines Kugeleinschlags in der Windschutzscheibe. Der Anschlagsversuch soll laut Henry während seiner Teilnahme an Feierlichkeiten zum haitianischen Unabhängigkeitstag am Samstag in der Stadt Gonaives verübt worden sein.

Mitglieder krimineller Banden in Gonaives sowie Bürgergruppen hatten im Vorfeld der Feierlichkeiten gegen den geplanten Besuch des Regierungschefs Front gemacht. „Ich wusste, dass ich ein Risiko eingehe“, sagte Henry zu seiner Visite in Gonaives, wo am Neujahrstag 1804 die haitianische Unabhängigkeitserklärung unterzeichnet worden war. Es könne jedoch nicht zugelassen werden, dass „Banditen“ den Staat „erpressen“.

Premierminister von Haiti, Ariel Henry
APA/AFP/Richard Pierrin
Premier Henry ist derzeit an der Macht und befindet sich an mehreren Fronten „in der Schusslinie“

Kriminelle Banden im Vormarsch

Genau in die Richtung geht es aber: Die ohnehin prekäre Sicherheitslage verschlechtert sich seit Monaten. „Die gewalttätigen und mächtigen Banden in Haiti, die oft mit politischen und wirtschaftlichen Kräften verbunden sind, scheinen an Stärke und Einfluss zu gewinnen“, hieß es Ende des Vorjahres in einer Analyse des Forschungsinstituts International Crisis Group. Allein in der Hauptstadt Port-au-Prince gibt es laut einem Bericht des UNO-Kinderhilfswerk UNICEF 95 Banden, die rund ein Drittel des Stadtgebiets kontrollieren.

Vor allem Lösegelderpressungen nehmen stark zu. Nach Angaben der UNO stieg die Zahl der Entführungen 2020 gegenüber dem Vorjahr um 200 Prozent, 2021 dürfte sich die Entwicklung beschleunigt haben. Laut „Washington Post“ ist die Anzahl der Entführungen in Haiti umgerechnet auf die Einwohnerzahl die höchste der Welt. „Entführungen, gefolgt von Folter und Vergewaltigung, nehmen ein ungeahntes Ausmaß an, verletzen die Würde der Bürger und stürzen sie in bittere Armut, wobei Hunderttausende US-Dollar als Lösegeld verlangt werden“, hieß es in einem Bericht der Menschenrechtsorganisation Center for Analysis and Research in Human Rights (CARDH).

Motorradfahrer vor brennenden Reifen, Haiti
APA/AFP/Richard Pierrin
Proteste gegen die Treibstoffknappheit arten immer wieder aus

Klimakrise schlägt zu

Auch an anderer Front gibt es keine Entwarnung für das Land: Haiti ist einer der weltweit am meisten von extremen Wetterereignissen betroffenen Staaten. Zwischen 2000 und 2019 bekamen dem „Klima-Risko-Index“ der NGO Germanwatch zufolge nur zwei Länder (Philippinen und Bahamas) die Klimakrise stärker zu spüren. Vor Beben jeglicher Art wird Haiti damit wohl auch künftig nicht gefeit sein.