Nutri-Score Kennzeichnung auf einem Produkt
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Parmesan, Olivenöl

Italien sieht kulinarisches Erbe bedroht

Der Nutri-Score, eine in Frankreich erfundene Lebensmittelkennzeichnung, könnte bald zum EU-weiten Standard werden. Sinn ist, Lebensmittel auf der Verpackung möglichst einfach von A bis E nach ihrer Nährwertqualität einzuteilen. Vehement dagegen stemmt sich jedoch Italien, das meint, Spezialitäten – von Olivenöl bis Parmesankäse – würden so ungerechtfertigt benachteiligt.

Der Nutri-Score verwendet eine rote bis grüne Ampel, um vor fett- und salzhaltigen Lebensmitteln zu warnen – zum Entsetzen der italienischen Gastronominnen und Gastronomen, denn der Stolz von Italiens Küche – Parmesan und Olivenöl – würde so schlechte Bewertungen erhalten. Italiens Ziel ist es daher, die Glaubwürdigkeit des Nutri-Score zu zerstören.

Italien argumentiert, dass traditionelle Lebensmittel, wie etwa Olivenöl, überhaupt nicht gesundheitsschädigend seien, sondern vielmehr die Langlebigkeit fördern. In der Tat gibt es unzählige Studien, aber auch Mythen dazu, wie gesund die mediterrane Ernährung ist. Theatralisch formulierte es der italienische Minister für Ernährung und Landwirtschaft, Stefano Patuanelli, im Dezember im italienischen Parlament: „Ich dachte, die Schlacht sei verloren“, sagte er.

„Frankreich hat große interne Probleme“

Doch ließ der Minister sogleich mit einem prominenten angeblichen Unterstützer der italienischen Abwehrhaltung aufhorchen. „Jetzt hat Spanien mitgeteilt, dass es seine Position völlig geändert hat und deshalb gegen den Nutri-Score ist.“ Patuanelli fügte noch einen Seitenhieb auf das Erfinderland der Ampelkennzeichnung hinzu: „Frankreich hat große interne Probleme.“

Olivenöl auf einer Messe in Mailand
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Olivenöl sei nicht ungesund, verteidigt sich Italien gegen die Nutri-Score-Einteilung

Italien stand jahrelang mit seiner Widerstandshaltung alleine da. Entweder übernahmen EU-Länder, beispielsweise Belgien, und Konzerne, wie etwa Danone in Deutschland, die Kennzeichnung oder sie wurde einfach unkommentiert ignoriert. In Österreich ist der Nutri-Score zum Beispiel wenig bekannt.

Und auch das nun von Italien hervorgehobene Spanien äußerte sich bisher nicht offiziell. Es ist bloß bekannt, dass Spaniens Landwirtschaftsminister Luis Planas als Nutri-Score-Skeptiker gilt. Dennoch warnte Patuanelli, dass, wenn Spanien seine Ablehnung offiziell mache, „es eine Sperrminorität gibt, die es nicht zulässt, dass ein möglicher EU-Kommissionsvorschlag zum Nutri-Score im EU-Rat verabschiedet wird“.

Ermittlungen der italienischen Wettbewerbsbehörde

Die italienische Wettbewerbsbehörde leitete unterdessen eine Untersuchung gegen den französischen Supermarktriesen Carrefour und andere Lebensmittelunternehmen in ganz Europa ein, die bereits damit begonnen hatten, jene Produkte, die sie in Italien verkaufen, mit dem Nutri-Score-Label zu versehen. Italien erfand außerdem ein alternatives Etikett namens Nutrinform.

Sollte die Untersuchung der Wettbewerbsbehörde dazu führen, dass gegen Supermarktketten und multinationale Unternehmen, die den Nutri-Score in Italien verwenden, Geldstrafen verhängt werden, könnte das ein großes Hindernis für die Aussicht auf eine verpflichtende Einführung des Nährwertkennzeichnungssystems in der gesamten EU darstellen, schreibt das Onlineportal „Politico“.

Der  italienische Landwirtschaftsminister Stefano Patuanelli
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Patuanelli hofft auf Spanien und die italienische Wettbewerbsbehörde

Die Europäische Kommission muss bis Ende des Jahres im Rahmen ihrer Green-Deal-Agenda ein Kennzeichnungssystem auswählen, um Konsumentinnen und Konsumenten zu einer gesünderen Lebensmittelauswahl zu bewegen. Italien ist davon überzeugt, dass sich sein Einsatz dank der unermüdlichen Anti-Nutri-Score-Lobbykampagne im eigenen Land und in Brüssel verschieben lässt. Zumindest in Italien sind alle großen politischen Parteien, Bauernverbände sowie einige Lebensmittelriesen wie Ferrero mit an Bord der Gegnerinnen und Gegner.

BEUC: „Nutri-Score hilft Verbrauchern“

Die italienische Feindseligkeit gegenüber dem Nutri-Score und Frankreich sitzt tief. Obwohl die Kartellbehörde politisch unabhängig von der Regierung ist, sieht die Untersuchung des Nutri-Score laut „Politico“ bereits wie eine Anklage aus. Sie deute stark darauf hin, dass es (der Nutri-Score, Anm.) Konsumentinnen und Konsumenten in die Irre führt, indem es den Nährwert eines Lebensmittels durch die Zuweisung einer Farbe und eines Buchstabens vorverurteile.

Entschieden gegen diese Behauptung stellt sich der Europäische Verbraucherverband (BEUC). „Alle Beweise, die wir gesammelt haben, zeigen, dass es den Verbrauchern wirklich hilft und sie nicht in die Irre führt“, so Monique Goyens, Generaldirektorin von BEUC. Nutri-Score-Befürworterinnen und -Befürworter sagen, Italiens Kampagne gegen das Label würde durch Fake News und unwissenschaftliche Panikmache angeheizt. Der Chef der italienischen Lega-Partei, Matteo Salvini, bezeichnete den Nutri-Score etwa als antiitalienischen „Geheimplan“.

Erfinder: „Verleugnung der Interessen von Verbrauchern“

„All dieses Gerede hat rein politische Gründe und ist eine totale Verleugnung der Interessen von Verbrauchern, der öffentlichen Gesundheit und der wissenschaftlichen Arbeit, die die Vorteile des Nutri-Score aufzeigt“, sagte Serge Hercberg, Professor für Ernährungswissenschaften an der Universität Sorbonne Paris Nord, der jenes Team leitete, das den Nutri-Score erfand.

Archivbild zeigt Serge Hercberg 2009
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Nutri-Score-Erfinder Hercberg stemmt sich gegen italienische Anfeindungen

Kürzlich wurde er von Gian Marco Centinaio, einem Staatssekretär und früheren Minister für Landwirtschaft von der Lega-Partei, angegriffen. Centinaio stellte die fadenscheinige Behauptung auf, Hercberg selbst habe zugegeben, dass der Nutri-Score extrem verarbeitete Lebensmittel begünstige. „Es ist völlig unfassbar, dass sich einer auf dieser Ebene erlaubt, solche Fake News zu verbreiten. Das ist ein Niveau, das ich als Wissenschaftler und Bürger noch nie gesehen habe“, sagte Hercberg.

Brüssel könnte bestimmte Produkte berücksichtigen

„Politico“ zufolge scheint es am wahrscheinlichsten, dass die Kommission die Nutri-Score-Methode ändern wird, um die Wogen zu glätten. Claire Bury, eine hochrangige EU-Beamtin, erklärte im September gegenüber dem Medium, dass die Kommission die „besonderen Merkmale“ bestimmter Lebensmittel wie Olivenöl und Honig berücksichtigen werde, wenn sie ein EU-weit abgestimmtes System der Lebensmittelkennzeichnung einführe.

Auch die französische Europaabgeordnete Irene Tolleret von der liberalen Fraktion Renew Europe ist der Meinung, dass der Nutri-Score nur überarbeitet, nicht aber aufgegeben werden sollte. „Wir befinden uns in einer Situation, in der Parmesan mit D, Olivenöl mit C und Nudeln mit A bewertet werden. Aber stark verarbeitete Nudelgerichte (Fertiggerichte, Anm.) mit vielen Zusatzstoffen, Parmesan und Öl erhalten die Bewertung A. Damit bin ich nicht einverstanden“, sagte sie. Doch von allen möglichen Kennzeichnungssystemen sei der Nutri-Score immer noch „am leichtesten zu verstehen“, so Tolleret.

Der Grund, warum der Nutri-Score keine Zusatzstoffe oder den Verarbeitungsgrad eines Lebensmittels berücksichtigt, ist laut Hercberg, weil es technisch unmöglich ist, das in einem einzigen Kennzeichnungssystem zu tun. Er wolle trotzdem nicht von seiner Ampelkennzeichnung abrücken: „Der Kampf ist noch nicht vorbei“, so der Nutri-Score-Erfinder in Richtung Italien.