Demonstrantin im Rahmen des COP26 Klimagipfels
APA/AFP/Ben Stansall
Initiative zu Ökozid

Völkerstrafrecht für „Mord an Umwelt“

Können strengere Gesetze die Welt retten? Eine globale Bewegung von Klimaschützerinnen und Klimaschützern meint: ja. Sie fordert, die vom Menschen begangene Zerstörung an Umwelt und Natur in den Kanon des Völkerstrafrechts aufzunehmen – und damit auf eine Ebene mit Genozid und Kriegsverbrechen zu stellen. An vorderster Front im Kampf um die Einstufung des Ökozids als Verbrechen steht Belgien. Eine Reportage.

Jeroen Van Reeth wohnt seit zehn Jahren mit seiner Familie in Zwijndrecht, einer kleinen Gemeinde in der belgischen Provinz Antwerpen. Seine Frau ist Architektin, sie habe das Haus selbst entworfen, erzählt er stolz beim Betreten. Durch die großen Glasfronten fallen Sonnenstrahlen in die offene Wohnküche. Die vierjährige Tochter spielt auf dem Wohnzimmerboden mit rosaroten Polly-Pocket-Figuren, die neunjährige Tochter sitzt am Esstisch und malt. Es ist ruhig, fast idyllisch.

Die Familie fühle sich sehr wohl in ihrem Zuhause, erzählt die Mutter. Umso trauriger sei es, dass sie nicht wissen, ob sie hier bleiben können. Hinter dem Haus befindet sich ein kleiner Garten, davor ein weites grünes Feld. Und dahinter, 800 Meter entfernt, die Chemiefabrik.

Er sei naiv gewesen. Natürlich hatte er gewusst, dass in der Nähe des Grundstücks ein Industriegebiet sei, sagt Van Reeth. „Aber ich habe angenommen, dass es im 21. Jahrhundert strenge Umweltgesetze gibt. Und dass so etwas nicht möglich ist.“ Doch er habe sich getäuscht. Ob er noch einmal nach Zwijndrecht ziehen würde? Nein. Ob er mit seiner Tochter darüber spreche? Ja. „Manchmal sagt sie, sie hasst PFOS.“

Langfristige Schäden für Mensch und Natur

PFOS, Perfluoroctansulfonsäuren, zählen zur Gruppe der per- und polyfluorierten Alkylverbindungen (PFAS), auch bekannt als „Forever Chemicals“. Hochpersistente Chemikalien, die in der Natur nicht vorkommen, sondern durch den Menschen künstlich geschaffen werden. In der natürlichen Umwelt sind sie kaum bis gar nicht abbaubar und können daher zu langfristigen Umweltschäden führen.

Zum Einsatz kommen die Chemikalien etwa als Antihaftbeschichtungen bei Pfannen, bei Funktionskleidung und Papier. Die Wirkung auf den Menschen ist noch nicht abschließend geklärt, doch stehen die Chemikalien im Verdacht, gesundheitsschädlich und möglicherweise auch krebserregend zu sein.

Hohe Blutwerte: Kontamination schlimmer als gedacht

Mehr als die Hälfte der Einwohnerinnen und Einwohner von Zwijndrecht haben laut einer Untersuchung zu hohe PFOS-Werte im Blut – besonders hoch sind sie bei jenen, die in unmittelbarer Nähe des Chemiewerks von 3M wohnen. 3M ist ein US-amerikanischer Multi-Technologiekonzern und produziert rund 50.000 verschiedene Produkte. Am bekanntesten ist wohl die Marke Post-it.

„3M hat 2002 zwar aufgehört, PFOS zu produzieren, aber sie haben die Chemikalien einfach durch andere ersetzt, die ebenso Gesundheitsrisiken mit sich bringen“, erklärt der grüne Gemeinderat Steven Vervaet. „Wir wissen schon seit längerer Zeit, dass das Grundwasser in der Umgebung des Betriebsgeländes kontaminiert ist und deshalb nicht als Trinkwasser verwendet werden kann. Seit Juni vergangenen Jahres wissen wir aber, dass die Kontamination viel ernster und umfangreicher ist als gedacht.“ Die Stoffe seien nämlich nicht nur im Boden, sondern auch in der Luft. Und dadurch eben auch in den Menschen.

Wenn Eier zu Giftmüll werden

Als Van Reeth die ersten Zeitungsberichte dazu las, konnte er es kaum glauben: „Es war ein Schock.“ Damals habe der IT-Techniker nicht einmal gewusst, was PFOS ist. Nun weiß er, „es ist überall. In unserem Hausstaub. In unserem Essen. In unserem Trinken. In unserer Kleidung.“

Das flämische Gesundheitsministerium verbot den Anrainerinnen und Anrainern des 3M-Werks den Verzehr von Gartengemüse, Grundwasser, Geflügel und Eiern. Ein schwerer Schlag für die Nachbarin der Familie, Els D’Hondt. Die Chemikerin wohnt erst seit zwei Jahren in Zwijndrecht und habe dennoch einen der zehn höchsten PFOS-Werte in ihrem Blut.

„Ich bin hierhergezogen, um eigene Hühner, einen eigenen Obst- und Gemüsegarten zu haben. Ich habe Beerensträucher angepflanzt, aber ich kann die Beeren nicht mehr essen. Auch das Gemüse nicht. Ich weiß nicht, wie giftig es ist. Das fühlt sich schlimm an“, erzählt D’Hondt. Vor allem um die Bioeier ihrer zwei Hühner tue es ihr leid. Nun müsse sie jeden Tag die Eier sammeln, um sie dann als Giftmüll bei hohen Temperaturen verbrennen zu lassen. Ansonsten würden die chemischen Stoffe in der Umwelt bleiben.

„3M hat im Zusammenhang mit PFAS verantwortungsbewusst gehandelt und wird sein Engagement für die Umwelt mit aller Kraft verteidigen“, heißt es in einer Stellungnahme des Unternehmens. Man weise alle Vorwürfe zurück.

Politik und Unternehmen „zur Verantwortung ziehen“

Die Gemeinde hat dem grünen Politiker Vervaet zufolge bereits eine Strafanzeige gegen 3M eingebracht, zudem würden derzeit weitere Untersuchungen laufen. Auch der IT-Techniker und Familienvater Van Reeth wurde aktiv und gründete mit seinen Nachbarn und Nachbarinnen die Bürgerbewegung „Zwijndrecht Gezond“ (zu Deutsch: Zwijndrecht Gesund).

„Wir sind keine schreienden Aktivisten, die Flaggen aufhängen und auf Türme klettern. Aber wir möchten uns informieren. Und den richtigen Personen die richtigen Fragen stellen.“ Die Menschen müssten handeln. Vor allem aber sei es die Politik, die handeln müsse.

Van Reeth wolle eine sichere Zukunft für seine Töchter, das sei alles. Eine Zukunft, „wo sie in die Natur gehen können, ohne Angst haben zu müssen, krank zu werden. Ich wünsche mir, dass meine Kinder gesund sind. Und in einer gesunden Umgebung aufwachsen können. Ich glaube, das ist ein Menschenrecht. Und ich glaube, dass die Regierungen und Unternehmen zur Verantwortung gezogen werden müssen.“

Eingangsbereich von Zwijndrecht Gezond
zwijndrecht gezond
Auf Schildern in den Häuserfenstern fordern die Bürger und Bürgerinnen ein „gesundes Zwijndrecht“

Zehntausende klagen belgische Regierungen

Die Regierung zur Verantwortung ziehen, das war es auch, was 58.000 Bürgerinnen und Bürger vor Kurzem in Belgien getan haben. Im größten Gerichtsverfahren der belgischen Geschichte wurden die Regierung des Landes sowie die Regionalregierungen von Flandern, Wallonien und Brüssel geklagt, weil sie ihre Klimaziele verfehlt hatten.

Das Gericht gab den Klägerinnen und Klägern recht: Die Regierungen hätten mit ihrer fahrlässigen Klimapolitik unter anderem gegen das in der Menschenrechtskonvention festgeschriebene „Recht auf Leben“ verstoßen. Konkrete Folgen wie eine Verschärfung der Klimaziele blieben jedoch aus.

Zuständig für den „Klimaatzaak“, die belgische Klimaklage, war die Kanzlei Equal Partners, gelegen im hippen Brüsseler Stadtviertel von Flagey. Die Anwältin für Umweltrecht Linli Pan–Van de Meulebroeke spricht bei dem Gerichtsurteil zwar von einem „großen Schritt“, allerdings seien die Gesetze noch zu sehr auf den Menschen zugeschnitten. Für den Richter sei es folglich schwer, „den wahren Wert der Natur zu erkennen“.

Chloé Mikolajczak
Privat
„Ein Drittel aller CO2-Emissionen kommt von 20 Unternehmen. Wir wissen, wer die Übeltäter sind. Es ist Zeit zu handeln“, meint die Klimaaktivistin Chloe Mikolajczak. Sie kämpft dafür, dass Ökozid zum Straftatbestand wird.

„Es wäre eine Revolution“

Die Klimaaktivistin Chloe Mikolajczak von der NGO End Ecocide Belgium (zu Deutsch: Stoppt den Ökozid Belgien) sieht jedoch einen Wandel, wie die Zerstörung an der Natur wahrgenommen wird: „Die Menschen realisieren, dass das nicht die Norm ist, dass es moralisch nicht korrekt ist. Sondern im Gegenteil bestraft gehört.“ Genau das soll mit der Verankerung von Ökozid im Strafrecht erreicht werden.

„Es wäre eine Revolution, wenn wir das Verbrechen Ökozid hätten. Denn das würde bedeuten, dass jene, die am stärksten für die Umweltzerstörung verantwortlich sind, auch zur Rechenschaft gezogen werden können. Und das nicht nur mit Geldstrafen“, so Mikolajczak.

Schließlich hätten die großen Unternehmen, die für die Klimakrise verantwortlich seien, ausreichend finanzielle Mittel, um für die Zerstörung zu bezahlen. Ökozid würde die kriminelle Perspektive miteinbeziehen, was nicht zuletzt auch Gefängnisstrafen bedeuten könnten, so Mikolajczak. „Wir hoffen, dass dadurch die Menschen davon abgehalten werden, unser Ökosystem und unsere Natur zu zerstören.“

Das fünfte Verbrechen?

Neu ist die Idee nicht. So schreibt etwa das „Time“-Magazine, dass sich seit den 1970er Jahren Umweltschützerinnen und Umweltschützer für die Schaffung eines Straftatbestandes an dem „Mord an der Natur“ einsetzen. Doch erst im vergangenen Jahr hätten die Bemühungen deutlich an Zugkraft gewonnen.

Mittlerweile ist „Stoppt den Ökozid“ eine globale Bewegung. Das zeigt Mikolajczak zufolge, dass die Gesellschaft nun dafür bereit sei. „Und Belgien steht hier ganz vorne.“ Laut der NGO End Ecocide Belgium hat Belgien die Aufnahme von Ökozid ins Strafgesetzbuch bereits vorgesehen.

Zudem gibt es eine Resolution, die die belgische Regierung dazu auffordert, die notwendigen Schritte zu setzen, damit Ökozid auch in die römischen Statuten des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag aufgenommen wird: als fünftes Verbrechen. Neben Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen sowie das Verbrechen der Aggression.

„Schwere, weitreichende oder langfristige Schäden“

Im Juni vergangenen Jahres legte ein Expertengremium von zwölf Völkerrechtsjuristinnen und -juristen aus aller Welt daher eine neue Definition dieses Verbrechens vor: Demnach bedeutet Ökozid „rechtswidrige oder willkürliche Handlungen, mit dem Wissen begangen, dass eine erhebliche Wahrscheinlichkeit schwerer und weitreichender oder langfristiger Schäden für die Umwelt besteht, die durch diese Handlungen verursacht werden“.

Christina Voigt, Professorin für internationales Umweltrecht an der Universität Oslo, war Teil dieses Gremiums, das von der Stiftung Stop Ecocide ins Leben gerufen wurde. Die Definition sei bewusst sehr abstrakt und generell gehalten, „sodass man sie auf möglichst viele Situationen und Täter anwenden kann“. Das sei auch der Grund, warum etwa keine konkreten Beispiele gelistet sind.

Ein Beispiel gibt sie trotzdem: die Tötung des letzten Nashorns. „Das ist jetzt nicht wirklich weitreichend, dafür aber langfristig.“ Sanktioniert würden durch eine Aufnahme von Ökozid in das Internationale Strafrecht nicht Staaten oder Unternehmen, sondern „die Menschen dahinter“, also etwa Unternehmens- und Regierungschefs. Im Fall des Umweltskandals von Zwijndrecht könnte so etwa der CEO von 3M zur Strafe gezogen werden.

Nashörner in freier Wildbahn
ORF.at/Tamara Sill
Wird Ökozid als fünftes Verbrechen in das Völkerstrafrecht aufgenommen, könnte etwa die Tötung des letzten Nashorns harte rechtliche Folgen nach sich ziehen

Expertin: Derzeitiges Umweltrecht reicht nicht aus

Derzeit haben 123 Staaten das Römische Statut ratifiziert, für eine Neuaufnahme braucht es eine Zweidrittelmehrheit. Doch „die Seite der Staaten ist relativ still. Es müsste nur ein Vertragsstaat die Definition an den UNO-Generalsekretär schicken als Vorschlag für eine Neuverhandlungsrunde, dann wäre die ganze Sache im Gang. Es braucht einen Staat, der den Prozess ins Rollen bringt“, erklärt Voigt. Ob es Belgien sein wird, bleibt aber noch abzuwarten. Konkrete Handlungen seitens der belgischen Regierung sind Voigt nicht bekannt

Christina Voigt
University of Oslo/uio.no
Christina Voigt war an der Erarbeitung der Ökozid-Definition federführend beteiligt. Im Bereich der Klimajustiz sei derzeit viel in Bewegung – „in die richtige Richtung“.

Klar sei aber, dass das derzeitige Umweltrecht bei Weitem nicht ausreiche: „Die Umweltschäden weltweit häufen sich, sowohl in der Anzahl als auch in der Schwere. Doch die meisten sind völlig rechtmäßig zustande gekommen. Da ist kein Gesetz gebrochen worden“, erklärt Voigt, die der Justiz als dritte Machtsäule im Staat eine bedeutende Rolle im Kampf gegen die Klimakrise zukommen lässt.

Wilde Papageien und die Frage der Umsetzung

Ähnlich sieht das Matthias Petel von der Harvard Law School. Während im Brüssler Stadtpark die wilden Papageien in den Bäumen singen, legt Petel seine Sicht der Dinge dar: „Das Gesetz ist ein massives und mächtiges Instrument“ – gerade wenn der politische Prozess zu langsam ist, sei es immer gut, die Justiz einzusetzen. Doch auch in diesem Bereich stehe man vor Herausforderungen: „Das EU-Umweltrecht ist wunderschön. Wenn man sich den Gesetzestext durchliest, würde man denken, wir leben in einer perfekten grünen Gesellschaft. Aber das ist nicht der Fall.“ Ähnlich könnte es sich bei Ökozid verhalten.

Selbst wenn es gelänge, am Internationalen Strafgerichtshof Ökozid als Verbrechen durchzubringen, stelle sich die Frage nach der Umsetzung. Hierbei bedürfe es ausreichender finanzieller Mittel und Ressourcen, um sicherzustellen, dass Einzelpersonen dann wirklich für ihre Taten bestraft werden. Auch hätten große Staaten wie die USA, Russland und China das Statut gar nie unterzeichnet. Bis es so weit sei, könnten aber ohnehin noch Jahre vergehen, wenn nicht sogar Jahrzehnte. Doch die Zeit drängt, denn „wir steuern auf eine Katastrophe zu“, so Petel.

Europäischer Strafgerichtshof
Reuters/Piroschka van de Wouw
Werden in Zukunft am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag Unternehmens- oder Regierungschefs für das Verbrechen Ökozid bestraft? Gut möglich, meinen Fachleute.

Zadic für Initiative

Justizministerin Alma Zadic (Grüne) begrüßte gegenüber ORF.at die Initiative. „Umweltzerstörer müssen wissen, dass ihre Taten von der internationalen Staatengemeinschaft als Verbrechen verfolgt werden können.“

„Immense Symbolkraft“

Egal ob nationale Klimaklagen, Gesetzesinitiativen wie das Menschenrecht auf eine gesunde Umwelt oder eben Ökozid – all diese unterschiedlichen Ansätze müssten Voigt zufolge als verschiedene Instrumente in einem Werkzeugkoffer gesehen werden. Auch würden sie zeigen, dass derzeit bereits ein gewisses Umdenken stattfände. Zwar könne man nicht erwarten, dass der Internationale Gerichtshof jetzt „die Instanz ist, die die Welt rettet“, doch Ökozid als internationales Verbrechen könnte eine immense Symbolkraft haben – und nicht zuletzt auch zu Änderungen in nationalen Rechtssystemen führen.

Doch wie realistisch ist das Vorhaben wirklich? Die Anwältin Pan-Van de Meulebroeke zeigt sich optimistisch: „Es ist nie einfach, ein Gesetz durchzubekommen, das Folgen mit sich zieht. Weder auf nationaler noch auf internationaler Ebene.“ Ausschlaggebend sei, von Ökozid nicht als etwas zu reden, das komplett verrückt ist. „Denn eigentlich ist es gar nicht so verrückt. Es erfordert nur eine andere Art des Denkens. Hin zu dem, was wirklich wichtig ist. Hin zu den Menschen, aber auch hin zur Natur. Also ja, es ist total realistisch.“