Staatssymbol von Kasachstan am Rathaus von Almaty
AP
Mehr als nur Proteste

Machtkampf in Kasachstan wohl entschieden

Schwere Unruhen mit Dutzenden Toten und Tausenden Verhaftungen: Kasachstan scheint nach einer Welle der Proteste langsam wieder zur Ruhe zu kommen. Doch das war nicht nur eine Protestwelle gegen eine autoritäre Führung. Im Hintergrund tobte ein Machtkampf zwischen Präsident Kassym-Schomart Tokajew und dem früheren Herrscher des Landes, Nursultan Nasarbajew. Er und seine Clique dürften nun völlig entmachtet worden sein.

Das Land hat nun einen neuen Regierungschef. Das kasachische Parlament stimmte am Dienstag für Alichan Smajilow, der den Posten bereits übergangsweise nach der Entlassung der alten Regierung vor gut einer Woche innehatte, wie das Staatsfernsehen berichtete. Tokajew hatte kurz zuvor den 49-Jährigen als Ministerpräsidenten vorgeschlagen. Indes näherte sich die Zahl der Festnahmen der Marke von 10.000. Das Innenministerium sprach der Agentur Tengrinews zufolge davon, dass während der Unruhen etwa 9.900 Menschen in Gewahrsam gekommen seien.

Ihren Ausgangspunkt hatten die Unruhen mit der Freigabe des Preises für Autogas, dieser stieg vor allem in Regionen mit besonders hoher Nachfrage auf mehr als das Doppelte. Das auch LPG genannte Propan-Butan-Gemisch kostete über Jahre hinweg weniger als Benzin, weswegen viele Kasachen ihre Fahrzeuge mit Autogas betreiben.

Kassym-Schomart Tokajew und Nursultan Nasarbajew
APA/AFP/Stanislav Filippov
Ein Bild aus besseren Tagen: Tokajew und Nasarbajew

„Führer der Nation“ auch nach Amtsübergabe

Es waren nicht die ersten sozialen Unruhen in dem Land: 2011 wurde ein Aufstand von Ölarbeitern blutig niedergeschlagen. Doch anders als damals gab es nun auch hinter den Kulissen einen Machtkampf. Schon seit geraumer Zeit „emanzipiert“ sich Präsident Tokajew von seinem Vorgänger.

Nasarbajew regierte das Land ab 1990 autokratisch und mit Personenkult. 2010 wurde er als „Führer der Nation“ ausgerufen und ihm und seinen Angehörigen lebenslange Immunität vor Strafverfolgung zugesprochen – angesichts von Korruptionsvorwürfen und wichtigen Posten für seinen Familienclan und enge Vertraute eine nicht unwesentliche Entwicklung. Die Hauptstadt des Landes wurde von der Metropole Almaty nach Astana verlegt – das nach ihm in Nursultan umbenannt wurde.

2019 übergab er das Amt an seinen Vertrauten Tokajew – blieb aber Vorsitzender des einflussreichen Sicherheitsrates. Ab 2020 kam es dann zu ersten Spannungen. Im Frühjahr wurde Dariga Nasarbajewa, die Tochter des langjährigen Machthabers und Chefin des Oberhauses, entlassen. Sie galt, auch weil sie die Kontrolle über die großteils gleichgeschalteten Medien hatte, als mächtigste Frau des Landes. Jedenfalls, so meinen Beobachter, existierten weiterhin zwei Machtzentren nebeneinander. Und an diesem politischen Patt scheiterten offenbar auch wichtige Reformen im Land.

Machtkampf auch auf der Straße?

Welche Rolle der Machtkampf nun in den Unruhen spielte, darüber gibt es angesichts der spärlich nach außen dringenden Informationen mehrere Theorien. Gemunkelt wurde, dass Unterstützer Nasarbajews die Unruhen befeuert haben könnten. Ins Treffen wird geführt, dass die Proteste überall großteils friedlich verliefen, während es in Almaty zu Ausschreitungen kam, wobei eben Vertraute des Ex-Präsidenten die Finger im Spiel gehabt haben könnten.

Gegen diese These spricht, dass sich bei den Protesten der Unmut auch gegen den Ex-Präsidenten richtete. Daher gilt als plausibler, dass Tokajew eher die Gunst der Stunde nutzte, um sich des Störfeuers des Clans seines Vorgängers zu entledigen.

Nasarbajew und Vertraute abgesetzt

Der 68-jährige Tokajew entließ nicht nur die Regierung des Nasarbajew-Vertrauten Askar Mamin. Der Präsident übernahm von Nasarbajew auch den mit großer Machtfülle ausgestatteten Vorsitz im Sicherheitsrat. Und er ersetzte die mächtige Geheimdienstführung durch eigene Vertraute. Ex-Premier und späterer Geheimdienstchef Karim Massimow wurde wegen Hochverrats festgenommen. Unbestätigten Informationen zufolge wurde auch Samat Abish, der Neffe Nasarbajews, verhaftet. Er war bis vor einem Jahr stellvertretender Geheimdienstchef.

Dahinter wird vermutet, dass man vom Geheimdienst erwartet hatte, die aufkommenden Unruhen schneller zu bekämpfen. Tatsächlich war die Führung von den Protesten wohl überrascht worden. Dass das autoritäre Regime zunächst paralysiert wirkte, dürfte die Demonstranten ebenfalls überrascht und zu weiteren Schritten motiviert haben.

Kampf zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften in Aktobe, Kasachstan
AP/Vladimir Tretyakov
Proteste in der Stadt Aqtöbe im Nordwesten Kasachstans

Angebliche „terroristische“ Kräfte

Zudem tauchten Gerüchte auf, der 81-jährige Nasarbajew habe das Land verlassen – dem scheint aber nicht so zu sein. Nach außen hin gaben alle Beteiligten ein harmonisches Bild ab. Über seinen Sprecher ließ Nasarbajew ausrichten, die Bevölkerung solle seinen Nachfolger unterstützen.

Tokajew wiederum machte vom Ausland unterstützte „Terroristen“ und „Banditen“ für die Unruhen verantwortlich. Bei einer Videokonferenz mit Russlands Präsident Wladimir Putin sprach er von einem „versuchten Staatsstreich“. „Gruppen bewaffneter Kämpfer“ hätten auf den richtigen Moment gewartet und seien dann „in Aktion getreten“, so Tokajew.

„Ihr Ziel war klar: die Untergrabung der öffentlichen Ordnung, die Zerstörung der Regierungsinstitutionen und die Ergreifung der Macht.“ Das Land sei Opfer organisierter „terroristischer“ Kräfte geworden, darunter „Islamisten“, aber auch „Kleinkriminelle“ und „Randalierer“, erklärte Tokajew. Expertinnen und Experten sehen dahinter eine klassische Floskel mit wenig Wahrheitsgehalt.

Hilfe aus Russland

Ähnlich äußerte sich Putin. Kasachstan sei das Ziel von „internationalem Terrorismus“ geworden, sagte er. In die Unruhen seien „bewaffnete Banden“ verwickelt gewesen, die „eindeutig über Kampferfahrung“ verfügt hätten und in „Zentren im Ausland“ ausgebildet worden seien. Moskau werde keine „bunten Revolutionen“ in ehemaligen Sowjetstaaten tolerieren, warnte er.

Mit dem Begriff beschreibt der Kreml seit den 2000er-Jahren vermeintlich vom Westen initiierte Aufstände in Ex-Sowjetländern, darunter die „Orange Revolution“ in der Ukraine. Russland hatte über die Organisation des Vertrages über kollektive Sicherheit (OVKS), der außerdem Armenien, Kirgisistan, Usbekistan, Tadschikistan angehören, „Friedenstruppen“ nach Almaty geschickt, um für Ordnung zu sorgen.

Sicherheitskräfte bei einer Verhaftung
AP/Vladimir Tretyakov
In Almaty griffen die Sicherheitsbehörden spät ein

China an der Seite Russlands

Die ersten Soldaten werden nach den Worten von Tokajew Kasachstan bereits in dieser Woche wieder verlassen. In zwei Tagen solle der Abzug schrittweise beginnen, sagte der Staatschef in einer Ansprache im Parlament. „Die Hauptmission der OVKS-Truppen ist abgeschlossen.“

China stellte sich bei der Niederschlagung der Unruhen an die Seite Russlands. Die Volksrepublik teile die Einschätzung des kasachischen Präsidenten, dass die Ursache der Unruhen terroristische Aktivitäten seien, berichteten chinesischen Staatsmedien über ein Telefongespräch zwischen Außenminister Wang Yi am späten Montag mit dem russischen Außenminister Sergej Lawrow.

Politische Karten neu gemischt

Nun, da die Situation wieder beruhigt scheint, sind auch die politischen Karten neu gemischt. In nur wenigen Tagen habe Tokajew Nasarbajews Ära endgültig beendet, schreiben Experten der Denkfabrik Moskauer Carnegie Center in einer Analyse. Allerdings steht Tokajew nun wohl stärker in der Schuld Russlands, das sich mit der Hilfe mehr Einfluss in Kasachstan sicherte.

Und das könnte auch geopolitische Folgen haben. Das rohstoff- und insbesondere ölreiche Land gilt auch dem Westen gegenüber als investorenfreundlich, auch Österreich hält rege Wirtschaftskontakte zu Kasachstan. Zwar wird Tokajew diese Politik kaum ändern, aber als Druckmittel in einem internationalen Konfliktfall könnte Kasachstan sehr wohl eine Rolle spielen.