Der Sicherheitsexperte Sven Biscop vom Brüsseler Egmont-Institut konstatiert im Gespräch mit ORF.at, dass die EU als strategischer Akteur nicht ernst genommen werde, „weil wir in Diplomatie und Verteidigung selten mit einer Stimme sprechen“. Zwar sei die EU vor allem im wirtschaftlichen Bereich eine „geopolitische Weltmacht“, doch es fehle an schnellen, zentralisierten Entscheidungen – gerade in Krisenzeiten.
Die Union müsse auch als solche agieren, sie müsse jetzt entscheiden, welche Sanktionen sie zu verhängen bereit sei, sollte es zu einer Invasion von Russland in der Ukraine kommen und nicht erst, nachdem Russland eine militärische Operation bereits begangen habe. Schließlich hätte das auch einen gewissen Abschreckungseffekt, meint Biscop.

Ukraine als wichtiger „Pufferstaat“
Laut einem aktuellen Artikel der „New York Times“ hat Russland die Ukraine bereits von drei Seiten mit 100.000 Soldaten umzingelt. Den Westen treibt angesichts des enormen Truppenaufmarsches die Sorge um, dass Russland nach der Annexion der Krim einen Einmarsch im Nachbarland vorbereitet. Das weist der Kreml kategorisch zurück.
Tausende Todesopfer
Im Osten der Ukraine stehen sich seit der Annexion der Halbinsel Krim 2014 ukrainische Truppen und prorussische Kämpfer gegenüber. Mehr als 13.000 Menschen starben in dem Konflikt.
Biscop betont im Interview die Bedeutung des Nachbarstaats: „Für die EU ist die Existenz einer unabhängigen und souveränen Ukraine ein wichtiges Interesse“, meint er. Die Ukraine ist „wie ein Pufferstaat zwischen uns und Russland“. Auch in einem Fachkommentar schreibt der Experte: „Die Ukraine ist Teil der Nachbarschaft, die stabil sein muss, damit die EU selbst stabil bleiben kann.“
„Eine Invasion würde bedeuten, dass wir die Beziehungen mit Russland grundsätzlich ändern müssen. Weil das kann nicht ohne Konsequenzen bleiben“, so Biscop. Während für die Ukraine eine „ganz reelle“ militärische Gefahr von Russland ausgehe, sieht der Sicherheitsexperte die EU oder die NATO nicht bedroht. Nicht zuletzt deshalb, weil Russland nicht die Mittel für einen „wirklichen Großmächtekonflikt“ aufbringen könnte.

Festgefahrene Positionen
Während der Westen einen Abzug der Truppen an der Grenze fordert, verlangt Russland die Zusicherung, dass die NATO Truppen und Waffen in Europa abbaut und sich nicht weiter nach Osten ausdehnt. Die Ukraine gilt als potenzieller Beitrittskandidat des Verteidigungsbündnisses. Die Positionen sind festgefahren, auch das Konfliktgespräch am Montag brachte keine Lösung.
Am Dienstag wurden die europäischen Verbündeten seitens der USA über den Inhalt des Krisengesprächs vom Vortag informiert – für Biscop ist das aber zu wenig: Schließlich habe für den US-amerikanischen Präsidenten Joe Biden nicht Russland, sondern China und Asien Priorität.
Umso wichtiger sei es folglich, dass die EU bei den Gesprächen vertreten ist. „Wenn wir nicht unseren Platz am Tisch haben“, drohe Europa ein Spielball zwischen den beiden Mächten USA und Russland zu werden.

„Unklar, ob Russland wirklich an Lösung interessiert ist“
Neben dem Russland-Rat beraten auch die EU-Verteidigungs- und Außenminister ab Mittwoch im französischen Brest schwerpunktmäßig über die Ukraine-Krise. Am Donnerstag sollen Konsultationen zwischen Moskau und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) folgen.
„Was man nach dieser Woche hoffen kann, ist, dass ein Prozess anfängt“, sagt Biscop, der dafür plädiert, sich auf ein Gesprächsformat zu verständigen. Bis jedoch „wirklich ernsthaft“ Gespräche aufgenommen werden, könne es noch Wochen, wenn nicht sogar Monate dauern, so die Einschätzung des Experten.
Eine Lösung in dem Konflikt sei aber ohnehin nur möglich, wenn der russische Präsident Wladimir Putin seine Unterstützung für die prorussischen Kämpfer in der Ostukraine beende. Doch bis jetzt bleibe unklar, ob Russland überhaupt an einer Lösung interessiert sei. Oder ob an der permanenten Instabilität festgehalten werden wolle – „was Putin bis heute ja gut gepasst hat“, so Biscop.