Luftaufnahme einer Stadt mit einem Gitter aus hellen Linien darüber.
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Neustart fürs Internet

Die vollmundigen Versprechen von Web3

Ein Internet, in dem die Nutzerinnen und Nutzer, nicht die Konzerne das Sagen haben: Das ist nur eine der vielen Visionen rund um Web3, das von seinen Fans schon jetzt als Zukunft oder gar als Neustart für das Netz gesehen wird. Einigkeit, was Web3 überhaupt bedeutet, gibt es zwar keine – doch die Aussichten locken Künstler ebenso wie Großinvestoren. Unklar ist, ob der mögliche nächste Schritt für das Web auch hält, was er verspricht.

Für die einen ist es die große Revolution, für die anderen ein großer Schwindel: Wer im Netz Diskussionen zum Thema Web3 liest, wird umgehend mit zahllosen aufgeladenen Kommentaren konfrontiert. Dabei ist oft gar nicht klar, ob alle Beteiligten über dasselbe streiten, denn Web3 ist momentan bestenfalls eine Idee – Teile davon existieren schon, andere sind noch Zukunftsmusik.

Auch wenn sich derartige Debatten schnell in technischen Details und einer Vielzahl von Schlagwörtern verlieren – überraschend einig ist man sich beim Ziel. „Es ist eine Idee, um das Web wieder zu verteilen“, sagte Matteo Maffei von der TU Wien im Gespräch mit ORF.at. Auch Internet-of-Things-Experte Mario Drobics vom Austrian Institute of Technology (AIT) sagte: Web3 sei zwar ein „vager Begriff“, aber „Dezentralisierung und die Autonomie der Nutzer“ stünden im Zentrum.

Vom Netz zur Plattform und zurück

„Verteilen“ und „Dezentralisierung“ heißt für das Web dabei eigentlich zurück zum Ursprung: Denn an sich war das World Wide Web stets ein riesiges Netz aus Informationen, die von Institutionen und Einzelpersonen an allen Ecken des Globus gespeichert wurden. Vor allem in den letzten 15 Jahren wurde dieses Prinzip zunehmend von Plattformen verdrängt.

Rechenzentrum
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Ein Grundpfeiler des Web sind die Server in Rechenzentren – das wird sich auch mit Web3 wohl nicht ändern

Anstatt mit viel Aufwand eine eigene Homepage zu erstellen, boten Dienste wie Facebook ein unkompliziertes Zuhause im Netz – oft gab es gar keinen Grund mehr, sich von der Plattform wegzubewegen. Heutzutage sind die Großkonzerne, allen voran die „Big Four“ – Google (Alphabet), Apple, Amazon und Facebook (Meta) – nicht mehr aus dem Netz wegzudenken und schneiden praktisch überall mit.

Umstrittene Antwort auf unumstrittene Probleme

Das bringe Probleme beim „Datenschutz, der Fairness und der Zensur – neben vielen anderen“ mit sich, so Maffei. Bis zu diesem Punkt sind sich nicht nur viele Web3-Verfechter und -Gegner, sondern auch Wettbewerbsbehörden und Datenschützer relativ einig. Web3 verspricht eine mögliche Antwort darauf, die dafür umso umstrittener ist: Lösen soll es die Blockchain, jene Technologie, auf der auch Kryptowährungen wie Bitcoin und Ethereum aufbauen.

Eine Blockchain ist wie ein digitales Kassabuch, darin werden in erster Linie Transaktionen aufgezeichnet. Im Gegensatz zum Kassabuch kann es beliebig viele Kopien davon geben, Manipulationen sind dennoch praktisch unmöglich, das stellt die Mathematik dahinter sicher. Jede Bezahlung mit einer Kryptowährung wird auf dieser Blockchain verewigt – und nach und nach auch in allen Kopien festgehalten.

Ethereum-Münze auf einem Motherboard
Reuters/Dado Ruvic
Vor allem die Ethereum-Blockchain zeigt im Web3 auf – echte Münzen braucht man dafür freilich keine mehr

Fans des Kryptogelds feiern die Blockchain, weil sie dadurch Mittelsmänner wie etwa Banken überflüssig macht. Weil es unzählige exakte Kopien gibt – jeder kann eine Kopie der Blockchain problemlos auf dem eigenen Computer speichern –, ist das System praktisch immun gegen Datenverlust und Zensur. Auf diese Stärke will Web3 bauen und sich nun zunutze machen, dass nicht nur finanzielle Überweisungen auf einer Blockchain, sondern alle möglichen Daten darauf gespeichert werden können.

Begehrter Handel mit Bildern von Affenköpfen

In der Praxis gibt es dafür bereits ein populäres und ebenfalls umstrittenes Beispiel: Non Fungible Tokens, kurz NFTs. Diese Token sind wie digitale Sammlerstücke und werden wie Kryptogeld auf der Blockchain gehandelt. Für Schlagzeilen sorgte zuletzt ein „Der Kuss“-NFT, mit dem man sich ein digitales Stück des Klimt-Gemäldes sichern können soll. Bekannt sind etwa auch die Affenbilder des „Bored Ape Yacht Club“, die für Unsummen den Besitzer wechselten und heutzutage Profile von einigen Berühmtheiten in sozialen Netzwerken zieren.

Diese Bilder lassen sich zwar einfach per Rechtsklick speichern – ein NFT soll aber praktisch belegen, dass man das „Original“ besitzt, in Zeiten der unendlichen Reproduzierbarkeit also praktisch wieder das Konzept von Besitz in den Mittelpunkt stellen. Erst vergangene Woche kündigte etwa Twitter an, die von NFT-Besitzern erworbenen Bilder mit einem besonderen Rahmen zu verzieren – um sich damit von der Masse abzuheben.

Screenshot zeigt eine Gallerie mit Bored Ape Yacht Club NFT’s.
Screenshot/boredapeyachtclub.com
Die NFTs des „Bored Ape Yacht Club“ erzielten teils Unsummen

Das Prinzip lockt unter anderem viele Künstlerinnen und Künstler, die in Zeiten des Internets nach Wegen suchen, mit ihrer Kunst Geld zu verdienen. Doch der deutsche Informatiker und Philosoph Jürgen Geuter, bekannt als tante, fasst die Kritik an NFTs pointiert zusammen: „Nur weil ich einen NFT erstellt habe, der behauptet, dass ich die Mona Lisa besitze, besitze ich die Mona Lisa nicht.“ Die Token beinhalten keine Rechtsansprüche, durch den Besitz eines NFT sei man weder Lizenzinhaber noch der Eigentümer, so Geuter.

Wer bestimmt über die eigenen Daten?

Nun will man mit Web3 aber nicht nur digitale Sammlerstücke handeln, sondern viele andere Dinge dezentralisieren, praktisch das Internet, wie man es kennt, auf die Blockchain verlagern: Kommentare in sozialen Netzwerken, Gegenstände, die man in Onlinespielen ergattert hat, die gesamte digitale Identität, vielleicht sogar Besitzansprüche auf physische Objekte. Diese Daten gehören dann keinem Unternehmen mehr, stattdessen kann man ganz alleine über deren Verwendung entscheiden. Die Spielregeln machen damit nicht mehr Plattformen, sondern der Programmcode selbst, so die Theorie.

Drobics nennt hier etwa Fitnessdaten als praktisches Beispiel: Smartwatches speichern gesammelte Daten oft in der Cloud. Erhält man hingegen selbst Kontrolle über die Daten, könnte man gezielt entscheiden, wem welche Daten freigegeben werden. So könnte man etwa die wöchentliche Schrittzahl der Versicherung überlassen, diese belohnt das etwa mit einem Bonus – ohne mit der Versicherung sämtliche Fitnessdaten zu teilen. „Wer Zugriff hat, bestimme ich“, fasste der Experte das Prinzip zusammen.

Das würde auch Unternehmen helfen, so Drobics. Der Großteil der Daten läge damit nicht mehr auf Servern eines einzelnen Konzerns, sondern es wäre in der Macht der Kundinnen und Kunden zu entscheiden, wer welche Daten bekommt. Für eine derartige Dezentralisierung brauche es aber nicht unbedingt Blockchain-Technologie im Hintergrund, so Drobics, der auch unter Web3 in erster Linie versteht, „zentrale Instanzen in dezentrale Strukturen“ zu wandeln.

Web3 ersetzt das bisherige Web nicht

Ein verteiltes Netz, das den Menschen, nicht den Konzernen gehört, ist dennoch bisher Zukunftsmusik: Zwar können Daten auf der Blockchain gespeichert werden, doch die Rechenzentren von Amazon, Google und Co. werden dadurch nicht überflüssig. Einig sind sich die meisten Fachleute darin, dass auch zumindest mittelfristig der Webbrowser ins Netz führt und damit Web 2.0 und das ursprüngliche World Wide Web nicht obsolet werden.

Auch hier zeigen NFTs bereits, wie die Aufteilung zwischen „neuem“ und „altem“ Web funktioniert: Wer eines der begehrten Bilder eines Affenkopfes besitzt, hat praktisch nur den Nachweis, diese Transaktion getätigt zu haben. Als Anhängsel ist wie der Verwendungszweck bei einer normalen Überweisung eine herkömmliche Webadresse hinterlegt, wo das teuer erworbene Bild dann tatsächlich gespeichert ist.

Nebeneffekt: Wird die Webadresse gelöscht, etwa weil das dahinter stehende Unternehmen in Konkurs geht und die Server abdrehen muss, zeigt der erworbene NFT, der für immer auf der Blockchain gespeichert ist, nur noch auf eine Fehlermeldung – und erinnert damit bestenfalls an den Kauf eines Bildes. Lösungsansätze gibt es zwar – Garantie, dass ein NFT für immer das zeigt, wofür man ursprünglich bezahlt hat, gibt es jedoch keine.

„Web3 existiert kaum, aber es ist schon zentralisiert“

Und auch der Handel läuft bisher über herkömmliche Webplattformen ab. Geuter schreibt, dass damit eines der Kernversprechen von Web3 bereits jetzt nicht halte: „Das ganze System ist schon sehr zentralisiert. Es gibt nur wenige Börsen, um Token zu kaufen und verkaufen, es gibt nur sehr wenige NFT-Märkte. Web3 existiert kaum, aber es ist schon zentralisiert.“

Eine Frau im Bett mit Smartphone und Laptop.
Getty Images/Image Source/Eugenio Marongiu
Auch künftig wird der Weg ins Netz über Handy und Computer führen

Und Geuter kritisiert auch, dass das Web3 keinen Schutz vor neuen Monopolen, wie sie derzeit existieren, biete. Auch Drobics gibt zu bedenken, dass gewichtige Player einen großen Einfluss auf das gesamte Konzept haben könnten. Vielleicht ist das auch mit ein Grund, warum immer mehr Risikoanlegerinnen und -anleger ihre Fühler nach Web3 ausstrecken und enorme Summen investieren.

Zwischen neuem Modewort und neuem Denkmuster

Doch noch steckt Web3 in den Kinderschuhen – es ist unklar, ob es letztendlich die zahlreichen vollmundigen Versprechen halten können wird. Der deutsche IT-Experte Geuter sieht die Idee schon jetzt gescheitert und verweist auf einen weiteren großen Aspekt: Transaktionen auf Blockchains verbrauchen in vielen Fällen enorme Mengen an Rechenleistung, damit umso mehr Strom – was sich damit wiederum direkt auf das Klima auswirkt. Auch hier gibt es Lösungsansätze, von denen es seit geraumer Zeit heißt, dass diese in Griffweite seien. Doch momentan ist Web3 auch ökologisch ein Problemfall.

Und dennoch gibt es kaum Zweifel daran, dass die Köpfe hinter Web3 die entscheidenden Fragen gestellt haben. Ob sie auch die richtigen Antworten haben, ist hingegen noch nicht klar. Ist Web3 jetzt einfach nur ein weiteres Modewort oder wirklich ein neues Denkmuster für das Internet? „Es könnte beides sein, das wird sich erst mit der Zeit zeigen“, so Maffei.