Kirche vor dem Atomkraftwerk Dukovany, Tschechien
Reuters/Petr Josek Snr
Grüne Technologie?

Atomkraft zieht Gräben quer durch Europa

Die Bedeutung der Atomkraft an der weltweiten Stromerzeugung schwindet, auch in Europa war die Zahl der produzierten Gigawattstunden Atomstrom zuletzt rückläufig. Vieles deutet aber darauf hin, dass der Trend sich wenden könnte – die EU-Kommission bereitet dafür den Weg, indem sie eine Einstufung als klimafreundliche Technologie plant.

Die Kommission hatte ihren Entwurf zur Taxonomie, der die Einstufung der verschiedenen Energiearten regelt, just am Silvesterabend verschickt. Der Vorschlag aus Brüssel sieht vor, dass Investitionen in neue Atomkraftwerke als grün klassifiziert werden können, wenn sie neuesten Standards entsprechen und ein konkreter Plan für die radioaktiven Abfälle vorgelegt wird. Auch Kapitaleinbringungen in neue Gaskraftwerke sollen übergangsweise als nachhaltig eingestuft werden können.

Die Umsetzung des Vorschlags kann nur verhindert werden, wenn sich mindestens 20 EU-Staaten zusammenschließen, die 65 Prozent der Gesamtbevölkerung der EU oder 353 Abgeordnete im EU-Parlament vertreten. Das gilt als unwahrscheinlich, da sich neben Österreich zu wenige Länder gegen eine Aufnahme der Atomkraft in die Taxonomie aussprechen – unter anderem Deutschland, Luxemburg, Dänemark, Spanien und Portugal unter Vorbehalten.

Gewessler bleibt bei Klagsdrohung

Die EU-Kommission hatte den Staaten eine dreiwöchige Frist für Rückmeldungen gesetzt, in der Nacht auf Samstag lief sie aus. Am Freitagabend wurde die 28-seitige österreichische Stellungnahme an die EU-Kommission übermittelt. Darin heißt es erneut, Österreich werde klagen, sollte die EU-Kommission ihre Pläne so in die Tat umsetzen. Umweltministerin Leonore Gewessler (Grüne): „Die EU-Kommission hat mit ihrem ergänzenden delegierten Rechtsakt zur Taxonomie still und heimlich versucht, die Atomkraft und das fossile Erdgas grünzuwaschen. Damit kommt sie den Wünschen der Atom- und Gaslobby nach.“

Auch die Rückmeldung aus Deutschland lag am Freitagabend vor, in ihr wurden mehrere Punkte scharf kritisiert. „Schwere Unfälle mit großflächigen, grenzüberschreitenden und langfristigen Gefährdungen von Mensch und Umwelt können nicht ausgeschlossen werden. Atomenergie ist teuer und die Endlagerfrage ist nicht gelöst“, heißt es etwa in der Stellungnahme der „Ampelregierung“.

Gespaltene Lager

So vehement sich Österreich dagegen sperrt, so erleichtert wurde der Entwurf andernorts begrüßt, allen voran in Frankreich. Präsident Emmanuel Macron hält die Atomenergie für unerlässlich, damit Frankreich und die EU wie geplant bis 2050 klimaneutral werden können. Ende vergangenen Jahres hatte er eine Milliarde Euro für ihren Ausbau angekündigt. Schon jetzt bezieht die Atommacht Frankreich fast 71 Prozent ihres Stroms aus AKWs – der höchste Anteil weltweit.

Grafik zeigt die Atomkraftwerke in der EU
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: BMK

EU-weit stand die Atomkraft laut EU-Kommission 2020 nur für einen Anteil von rund 25 Prozent, wie das EU-Statistikamt Eurostat am Dienstag mitteilte. Demzufolge erzeugten 13 EU-Staaten 683.512 Gigawattstunden (GWh) Atomstrom, im Jahr 2019 waren es noch rund 26 Prozent und 765.337 GWh. Der größte Erzeuger von Kernenergie in der EU war Frankreich (52 Prozent), gefolgt von Deutschland (neun Prozent), Spanien (neun Prozent) und Schweden (sieben Prozent).

Aus- und Umsteiger

Die Uneinigkeit der EU-Staaten bezüglich der Taxonomie ist wenig verwunderlich – die Visionen für den künftigen Umgang mit Atomkraft liegen weit auseinander. Deutschland etwa hatte sich im Jahr 2011 nach dem Atomunglück im japanischen Fukushima zum Ausstieg entschlossen. Mit Anfang 2022 gingen drei der verbliebenen sechs Meiler vom Netz, der Rest folgt Ende dieses Jahres. Eine Verlängerung schließt – wie im Koalitionsvertrag auch festgelegt – die neue Ampelregierung aus.

Auch Spanien, das derzeit noch fünf aktive Kernkraftwerke mit insgesamt sieben Reaktoren betreibt, sieht die Zukunft anderswo: Im Vorjahr löste Windkraft Atomkraft als die führende Energiequelle des Landes ab, bis 2030 soll sich die Anzahl der Windkraftanlagen fast verdoppeln. Schon derzeit decken Erneuerbare knapp die Hälfte des Energiegesamtbedarfs in Spanien ab.

Archivbild des Atomkraftwerks in Gundremmingen, Deutschland
Reuters/Lukas Barth
Gundremmingen in Bayern ist seit Jahresbeginn vom Netz

In mehreren anderen EU-Ländern wird allerdings das Comeback der Atomkraft ausgerufen. Belgien etwa gab im Dezember des Vorjahres bekannt, seine Vorgaben für die 2025 geplante Abschaltung seiner Atomkraftwerke aufzuweichen. Zwar bekräftigte die Regierung das Ziel, die Anlagen Mitte des Jahrzehnts vom Netz zu nehmen. Allerdings sollen zwei Reaktoren weiter Strom produzieren, wenn die Energieversorgung nicht auf anderen Wegen sichergestellt werden kann.

Hoffen auf Minireaktoren

Außerdem sollen 100 Millionen Euro in die Erforschung neuer Technologien gesteckt werden. Belgien will sich dabei vor allem – ebenso wie Frankreich – auf das Konzept Small Modular Reactors (SMR) konzentrieren. Die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) definiert SMR-Anlagen als Atomreaktoren mit einer Leistung von maximal 300 Megawatt (MW), in Großkraftwerken kommen Reaktoren im Vergleich auf über 1.000 MW mehr. SMR haben aber den Vorteil, in Serie gebaut werden zu können, was im Regelfall eine kürzere Bauzeit und geringere Kosten mit sich bringen sollte.

Auch die Niederlande wollen unter ihrer jüngst angelobten Regierung verstärkt auf Atomkraft setzen. Das Koalitionsabkommen sieht den Bau von zwei neuen Atomkraftwerken vor. Das bisher einzige AKW Borssele soll länger am Netz bleiben. Das Kabinett des alten und neuen Ministerpräsidenten Mark Rutte begründete das mit dem Kampf gegen den Klimawandel.

Atomkraftwerk bei Dampierre-en-Burly, Frankreich
Reuters/Benoit Tessier
Frankreich will keinen Millimeter von seinem Pro-Atom-Kurs abweichen

Finnland hat bereits nachgerüstet – wenn auch wesentlich später als ursprünglich geplant. Mit zwölf Jahren Verzögerung und einer enormen Kostenexplosion wurde der dritte Atomreaktor im AKW Olkiluoto Ende vergangenen Jahres hochgefahren. Der Betreiber TVO bezeichnete den Schritt als „historisch“: Es ist die erste Inbetriebnahme eines neuen Kernreaktors in Finnland seit 40 Jahren und die erste in Europa seit der Inbetriebnahme des rumänischen Reaktors Cernavoda Block 2 im Jahr 2007. Mit 1.650 Megawatt wird es der leistungsstärkste Reaktor Europas sein und 14 Prozent des finnischen Strombedarfs decken.

Tschechien verlangt nach mehr

Auch Tschechien will unter der neuen liberal-konservativen Regierung die Atomkraft ausbauen. „Wir brauchen dringend Ersatz für die Meiler, die stillgelegt werden müssen“, sagte Ministerpräsident Petr Fiala Anfang des Jahres. Die ältesten Reaktorblöcke am Standort Dukovany in Südmähren sind bereits seit mehr als 35 Jahren am Netz. Das AKW Temelin, nur rund 60 Kilometer von der Grenze zu Österreich entfernt, ist besonders umstritten, weil es amerikanische Leit- mit russischer Reaktortechnik kombiniert. Die Pläne der Kommission gehen Prag nicht weit genug: Atomkraft solle nicht nur als Übergangstechnologie eingestuft werden.

Selbst in Italien, das bereits nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl im Jahr 1986 aus der Kernenergie ausgestiegen war, ist die Debatte jetzt wieder auf dem Tisch. Bei einem Referendum 2011 wurde eine Rückkehr zur Atomkraft abgelehnt. Nun aber machen die zuletzt drastisch gestiegenen Preise für Strom und Gas vielen Italienerinnen und Italienern zu schaffen. Die rechte Lega unter Matteo Salvini will daher einen neuen Versuch starten und sammelt Unterschriften für ein Referendum für den Bau neuer AKWs. Auch der Minister für den ökologischen Übergang, Roberto Cingolani, gilt als Verfechter der Atomenergie.

Grafik zur Anzahl der AKW-Neubauten seit 1951
Grafik: ORF.at; Quelle: DIW Berlin

Polen will Neuland betreten

Polen wiederum beschreitet einen Sonderweg in der EU: Als einziges Land der Union und als eines der ganz wenigen auf der Welt plant es einen Einstieg in die Atomkraft. Frühere Vorhaben wurden nach Tschernobyl ad acta gelegt. Nun aber forciert die nationalkonservative PiS-Regierung einen Richtungswechsel: Spätestens 2026 soll der Bau des ersten Reaktors beginnen, bis 2043 sollen fünf weitere folgen. Die Atomkraftwerke sollen Polen beim Ausstieg aus der Kohle helfen – gegenwärtig gewinnt das Land fast 80 Prozent seiner Energie aus Steinkohle und Braunkohle.