Buchcover von „Zum Paradies“
Ullstein Verlag
Hanya Yanagihara

Wilder Ritt durch Geschichte und Zukunft

Was, wenn man aktuelle Diskurse quer durch die Zeitachse menschlicher Geschichte durchrauschen lässt? LGBTQ, Postkolonialismus, Klimakatastrophe, Pandemien, datengetriebener Faschismus – durchgespielt vom 19. Jahrhundert bis weit über unsere Zeit hinaus? Hanya Yanagihara hat dafür in ihrem gewaltigen Roman „Zum Paradies“ eine Form gefunden, wenn auch eine seltsame.

Die 1974 in Los Angeles geborene US-amerikanische Journalistin und Schriftstellerin mit hawaiianisch-koreanischen Wurzeln hatte mit ihrem zweiten Buch „Ein wenig Leben“ einen international gefeierten, wirklichen Millionenbestseller gelandet. In dem schmerzhaft drastischen, viel und kontrovers diskutierten Buch ging es um sexuellen Missbrauch und seine Folgen. Jetzt debattieren angesichts der 900 Seiten von „Zum Paradies“ viele Leserinnen und Leser in sozialen Netzwerken (einfach auf YouTube „Yanagihara“ eingeben), ob es sich lohnt, erneut zuzugreifen.

Gewaltig ist das Buch jedenfalls nicht nur aufgrund seines Umfangs. Es besteht aus drei Teilen. Der erste spielt gegen Ende des 19. Jahrhunderts, der Zweite in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts, der Dritte in den 50er und 90er Jahren des 21. Jahrhunderts. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft werden zusammengehalten von einem Haus am New Yorker Washington Square, wo sich jeweils ein Gutteil der Handlung abspielt. Zumindest ein Protagonist ist jeweils Vor- oder Nachfahre derselben Familie quer durch die Jahrhunderte.

Hanya Yanagihara
APA/AFP/Getty Images/Ben Gabbe
Hanya Yanagihara bei der Verleihung des National Magazine Awards for Print and Digital Media 2018

Geschichte umschreiben auf homosexuell

Im ersten Teil wird eine bürgerlich-urbane Familie präsentiert, die ganz oben an der Macht steht in einer feudalistisch-utopischen Science-Fiction-Vergangenheit. In der ist New York nämlich eine Art Freistaat, in der homosexuelle Ehen die Norm sind. Da hat man also die ganze Förmlichkeit und die ganzen Zwänge der oberen 10.000 des 19. Jahrhunderts, inklusive strategischer Verheiratungen, Beziehungsdramen, politisch-gesellschaftlicher Verwerfungen in Sachen Klasse und Rasse – nur eben unter Vorzeichen einer homosexuell orientierten Gesellschaft.

Im zweiten Teil befindet man sich in der homosexuellen New Yorker Upper Class während der höchsten Phase der AIDS-Epidemie. Fast das ganze Personal dieser Geschichte ist HIV-positiv. Wie im ersten Teil spielt auch hier neben Machtfragen im Privaten vor allem offener und versteckter Klassismus eine große Rolle. Mit welch fein kalibrierter Wahrnehmung Yanagihara in diesem Kontext die menschliche Kommunikation beobachtet, ist erstaunlich. Ein sehr großer Schwenk der Handlung führt nach Hawaii, zwar etwas konstruiert, aber auch hier mit einer starken Erzählung, die postkolonialistisches Denken und ebensolche Realpolitik verhandelt.

Das „1984“ der Klimakatastrophe

Der dritte Teil spielt in der Zukunft und erinnert in seiner einfachen, dystopischen Zurechtgezimmertheit an die „Tribute von Panem“, eine Parabel für Jugendliche. In „Zum Paradies“ wird eine faschistische Überwachungsgesellschaft imaginiert, inklusive öffentlicher Hinrichtungen und ständiger Razzien in Privaträumen. Auch „1984“ und „Fahrenheit 451“ ist man nahe, was kein Zufall sein dürfte. Was neu ist: Normales Leben, wie wir es heute kennen, ist aufgrund der endgültig eingetretenen Klimakatastrophe nicht möglich. Und alles wird in dieser Welt von Pandemien und ihrer Bekämpfung bestimmt. Die schiere Wucht dieser Gemengelage spiegelt sich auch hier in den Paarbeziehungen wider.

TV-Hinweis

Die ZIB1 berichtet am Montag, den 17. Jänner um 19.30 Uhr über Hanya Yanagiharas „Zum Paradies“.

Gnadenloser Blick in die Seele

Yanagihara blickt allen Protagonistinnen und Protagonisten des Buches zwar nicht ohne Liebe, aber doch gnadenlos auf den Grund ihrer Seele. Alltagssituationen, beiläufig dahingesagte Banalitäten und scheinbar nichtssagende Blicke bekommen von ihr jenes Gewicht zugewiesen, das sie für Menschen tatsächlich bekommen können. Dieses emotionale Gewicht wird einem Teil der Leserschaft zu schwer sein, vor allem über die weite Strecke von fast 900 Seiten, die man es mitschleppen muss.

Aber emotionaler Balast hin oder her – niemand kann Yanagihara vorwerfen, dass sie Introspektionsbegleitung mit Scheuklappen betreibt. Keine kaltherzige Mutter, kein abwesender Vater, keine Verwundung in den Schützengräben vergwirkster Paarbeziehungen bleibt ohne Vergesellschaftung. Und dabei ist Yanagihara mit allen diskursiven Wassern gewaschen. Manchmal sind die Diskurslinien als Dispositive nur spürbar, manchmal werden sie wortreich durchdiskutiert (besonders im postkolonialen Kontext, wenn es um Hawaii geht).

Radiohinweis

Die Ö1-Sendung „Ex Libris“ widmet Hanya Yanagiharas Buch „Zum Paradies“ am Sonntag, den 23. Jänner um 16.00 Uhr einen Beitrag.

Vernichtungen und „Vom Winde verweht“

Deutschsprachige Rezensentinnen und Rezensenten meinen oft, dem Publikum schuldig zu sein, den Daumen zu heben oder zu senken. Yanagihara wird für „Zum Paradies“ von vielen schlichtweg vernichtet. Schwülstiger Kitsch, durchsichtiges Aufpropfen aktueller Diskurse, quälend lange Schachtelsätze, quälend die ganze Lektüre, alles nur Schrott, zumindest aber wolle sie viel zu viel, heißt es da sinngemäß bis wörtlich.

Schachtelsätze können funktionieren – wenn man es kann. In diesem Zusammenhang ist die durchwegs gelungene Übersetzung von Stephan Kleiner zu erwähnen. Schwülstig oder nicht, das ist ein Geschmacksurteil und liegt im Auge des Betrachtenden. Dass es sehr viel um Gefühle geht, ist nicht bestreitbar. Der Ullstein-Verlag erlaubt sich diesbezüglich ein ironisches Augenzwinkern und hat den Buch-Teaser auf YouTube mit „Vom Winde verweht“-artiger Musik unterlegt.

Buchhinweis

Yana Hanagihara: „Zum Paradies“. Claassen, 895 Seiten, 30,95 Euro.

Rollercoaster-Ride in jeder Hinsicht

Dass Yanagihara viele Geschichten erzählt zu vielen unterschiedlichen Themen und Zeiten, mögen manche beliebig finden, andere wieder abwechslungsreich. Nicht nur deshalb dürfte es kaum jemandem bei dieser Tour de Force durch die Geschichte fad werden – Yanagihara versteht es auch, Spannungsbögen aufzubauen. Das Buch, könnte man zusammenfassen, ist ein seltsamer emotionaler und thematischer Rollercoaster-Ride; und mit Sicherheit nicht ohne Reiz.