Street Style auf der Fashion Week Paris
picturedesk.com/Action Press/Sabatelli, Lucia
„Kidcore“-Mode

Männer dürfen wieder Kinder sein

Konventionen können ignoriert werden: Seit Beginn der Pandemie verzeichnen Modeanalysten einen Trend, der sich hartnäckig hält und nur auf den ersten Blick besonders schräg und ausgefallen wirkt: „Kidcore“. In das Schlagwort „kleiden wie ein Kind“ lässt sich aber durchaus mehr interpretieren als ein paar Kollektionen mit Comicpullis und bunten Farben.

„Kidcore“ kann man nämlich auch weniger über spezifische Styles, sondern mehr als Einstellung definieren: Es gehe darum, sich an den Punkt der Kindheit zurückzuversetzen, an dem man seine Outfits noch nicht nach Trends oder gängigen Standards, sondern nur nach Laune auswählen konnte, beschreibt das „Wall Street Journal“.

Auch wenn der Trend auf den Laufstegen, bei Influencern und auf TikTok primär in Richtung bunter, schriller und extremer interpretiert wird, muss man sich nicht möglichst kindisch kleiden, um „Kidcore“ zu sein. Vielmehr geht es darum, sich möglichst befreit von gesellschaftlichen Vorgaben anzuziehen.

Bildkombo aus zwei Fotos des Modeautors Yu Masu
Reuters/Neil Hall; picturedesk.com/Action Press/Sabatelli, Lucia (Montage)
Ein Extrembeispiel für „Kidcore“: Street-Style-Star und Modescout Yu Masui gibt seinem inneren Kind offensichtlich gerne nach

Buntes Angebot im Handel

Mit der permanenten Revival-Schleife der Modeindustrie, die seit letztem Jahr ungeniert in den 2000er Jahren wildert, können sich Gen-Z-Angehörige (wie man die von Ende der 1990er bis Mitte der 2010er Jahre Geborenen schubladisiert) relativ bequem ihre Kindheitserinnerungen in Erwachsenengröße nachkaufen. Comic- und Spielzeugprints vom Pullover bis zur Unterhose sind in den Geschäften der großen Ketten genauso zu haben wie die damals wie heute schwer umstrittenen Crocs-Plastiklatschen.

Gesprengte Grenzen in jeder Hinsicht

Anders als in der Frauenmode sind bei Männern die Grenzen normalerweise deutlich enger: Hosen sind entweder lang oder (und da beginnen sich die Geister schon zu scheiden) kurz. Ein Hemd ist meist einfach ein Hemd, Variationen über Details im Schnitt hinausgehend galten lange als an der Grenze zum Gewagten. Diese alten Regeln beginnen schon länger zu bröckeln, bei „Kidcore“ sollen sie überhaupt keine Rolle mehr spielen. Wer etwa Hochwasserhosen bequemer findet als lange, wer gerne Muster, Farben oder Materialien ungewöhnlich kombiniert, kann sich gut aufgehoben fühlen – ausreichend Selbstbewusstsein vorausgesetzt.

Mit „Dopamin Dressing“ die Laune heben

Andererseits könnte sich dieses Selbstbewusstsein möglicherweise gerade durch „Kidcore“ steigern lassen, glaubt man einem anderen aktuellen Schlagwort aus der Modeszene: mit „Dopamin Dressing“. Die dazugehörige – und in mittlerweile zahlreichen psychologischen Studien untersuchte – Theorie besagt, dass Kleidung glücklich machen kann, wenn man aktiv Kleidungsstücke, in denen man sich wohlfühlt, trägt.

Dann wird das Glückshormon Dopamin ausgeschüttet, das soll wiederum das Selbstvertrauen stärken und die Ausstrahlung verbessern. In konkrete Modelinien gießen lässt sich das wohl kaum: potenziell dopaminprovozierende Mode ist natürlich höchst individuell.

Nagellack für Männerfinger

Von „Kidcore“ unabhängig, aber ebenso unkonventionell ist der gleichzeitig aufgekommene Trend zum Nagellack für Männer. Designer Marc Jacobs rückte vor einem Jahr mit einem Foto auf Instagram unter dem Hashtag „#malepolish“ das Nischenphänomen, zuvor gerne von Stars nerdiger Subkulturen zur Schau gestellt, ins Rampenlicht.

In der breiten Masse angekommen mag der Nagellack für den Mann möglicherweise noch nicht sein, für die Gen-Z sind bunte Nägel – zumindest in sozialen Netzwerken – aber schon eher Alltag. Während David Beckham in den Nullerjahren als Rolemodel des „metrosexuellen“ Mannes die simple Verwendung von Pinzette und Kosmetik salonfähig machte, sieht man seinen Sohn, Model Brooklyn Beckham, lässig mit Nagellack im Alltag spazieren.

Für die neue Zielgruppe gibt es natürlich längst auch ein maßgeschneidertes Produktangebot. In den USA brachte Ex-Backstreet-Boy AJ McLean gemeinsam mit seiner Familie eine eigene Nagellacklinie in Unisex-Aufmachung heraus. Der ehemalige Sänger, der schon zu seinen Bühnenzeiten oft mit Nagellack zu sehen war, begründete die Idee damit, dass er die Maniküre-Pediküre-Zeit mit seinen zwei Töchtern so genieße. Ebenfalls eine eigene Nagellacklinie darf man sich demnächst von Harry Styles erwarten: Der britische Popstar, Ex-Mitglied der Band One Direction, bringt eine genderneutrale Kosmetiklinie auf den Markt – darunter mehrere Nagelpflegeprodukte und -lack.

„Mearrings“ an den Ohren

Der 27-jährige Styles ist auch die Verbindung zum nächsten Trend, der auf die Männerwelt zukommen könnte, geht es nach dem „Wall Street Journal“: Ohrringe. Der Sänger zeigt sich regelmäßig mit originellen Schmuckstücken am Ohrläppchen – von Creolen bis Kreuzen.

Harrison Ford in Cannes
Reuters/Eric Gaillard
Harrison Ford trägt seit 1997 Schmuck am Ohr

Eine Renaissance sollen aber auch die generell schon seit den 1990er Jahren weit verbreiteten kleineren Ohrstecker feiern, berichtete die US-Fernsehshow „Today“. Die Nachfrage nach „Mearrings“ („men’s earrings“) sei in den letzten Monaten wieder sprunghaft gestiegen, hieß es dort. Eine Altersfrage ist das Thema nicht: Schauspieler Harrison Ford wird heuer 80 – und liegt mit seinem gepiercten Ohr aus „Air Force One“-Zeiten Ende der 1990er Jahre wieder voll im Trend.