Madritsch´ Liste
ORF
Wiener Lebensretter

Im Schatten von „Schindlers Liste“

Mit dem Verschwinden der letzten Zeitzeugen wird die historische Betrachtung der Judenvernichtung zunehmend von Archiven abhängig. Mit deren Quellen ist es möglich, exemplarische Lebensläufe zu erzählen wie jene von Julius Madritsch, Raimund Titsch und Oswald Bouska, die in Krakau Juden und Jüdinnen das Leben retteten. Lange standen sie im Schatten des berühmten Oskar Schindler. Nun widmet sich eine ORF-Dokumentation den „drei Gerechten“.

Ob es nur ein Zufall in der Überlieferung ist oder nicht: Über Krakau gibt es im Gegensatz zu manch anderen Orten der Schoah viele Fotos und Filme, welche die Geschicke der dortigen jüdischen Gemeinde während des Zweiten Weltkrieges dokumentieren. Es sind beklemmende Zeugnisse des NS-Terrors. Ein Beispiel: Der Wiener Titsch fotografierte heimlich Zwangsarbeit und Ausbeutung im KZ Plaszow bei Krakau – Zeugnisse, die für heutige Historikerinnen und Historiker von unschätzbarem Wert sind.

Seine Bilder belegen die Gräueltaten der Nazis, machen den Schrecken der Lager nachvollziehbar. Plaszow war kein Vernichtungslager wie Auschwitz, aber auch hier wurden Menschen systematisch erniedrigt, ausgebeutet und ermordet. Kommandant von Plaszow war der Wiener Amon Göth, ein gefürchteter Gewalttäter, der vom Fenster seines Dienstsitzes aus wahllos Lagerinsassen erschoss.

Plaszów, Polen
United States Holocaust Memorial Museum, courtesy of Leopold Page Photographic Collection
Zwangsarbeit im KZ Plaszow, festgehalten von Raimund Titsch

Selbst nach dem Krieg versteckte Titsch diese Fotos. Erst 1963 übergab er die Negative an Leopold Pfefferberg, einem Überlebenden des KZ Plaszow. Titsch fühlte sich verfolgt, glaubte, dass er auf einer Verräterliste der „ODESSA“ stehe, einer mysteriösen „Organisation der ehemaligen SS-Angehörigen“. Für Titsch waren mögliche Angriffe ehemaliger Nazis eine reale Bedrohung, wie Pfefferberg später in einem Interview bestätigte: „Titsch hatte Angst vor der Untergrundorganisation ODESSA.“

Schauplatz Krakau

Doch Titsch hat nicht nur fotografiert. Gemeinsam mit dem Textilfabrikanten Madritsch und dem Polizisten Bouska rettete er bis zu 800 Juden und Jüdinnen vor der Verfolgung. Wie Schindler, der ebenfalls in Krakau eine Fabrik betrieb. Schindler und seine Liste, mit der er zu Kriegsende Juden und Jüdinnen vor der Deportation bewahrte, wurden durch den Spielfilm von Steven Spielberg weltberühmt. Eine Dokumentation der ORF-Reihe „Menschen und Mächte“, gestaltet von Georg Ransmayr, widmet sich nun den drei Wienern Titsch, Madritsch und Bouska, deren Rettungsaktionen bisher nur in Fachkreisen bekannt waren.

TV-Hinweis

ORF2 zeigt „Menschen und Mächte – Die drei Gerechten“ am Mittwoch um 22.30 Uhr – mehr dazu in tv.ORF.at.

ORF-Archivredakteurin Silvia Heimader hat für diese Dokumentation in Archiven in Polen, Israel, Großbritannien und den USA recherchiert und mehr Material gefunden, als für die TV-Produktion verwendet werden konnte: „So sind wir beispielsweise auf einige Filme gestoßen, die das noch intakte Leben der jüdischen Gemeinde in Krakau in der Vorkriegszeit zeigen. Einen davon machte der US-Filmemacher Julien Bryan 1936. Er hielt mit seiner Kamera Straßenszenen im Viertel Kazimierz fest, in dem der ärmere Teil der jüdischen Bevölkerung wohnte."

Polen 1936

Julien Bryans Drehmaterial wurde ohne Ton aufgenommen und zeigt Straßenszenen in Kazimierz (United States Holocaust Memorial Museum)

Auf den Aufnahmen sieht man Patriarchen, kleine Geschäfte und eine Gruppe fröhlicher Buben. „Wenn man mit dem Wissen der Nachgeborenen diese Aufnahmen betrachtet, sind sie erschütternd. Drei Jahre später marschierten die Nazis ein, und damit beginnt die schrittweise Vernichtung der jüdischen Gemeinde“, berichtet Heimader über ihre Arbeit.

Dokumente der Vertreibung und Ermordung

Es wurden auch rare Filmdokumente gefunden, welche die NS-Zwangsmaßnahmen selbst dokumentieren. Ein deutscher Polizeifilm zeigt, wie Juden perlustriert und kontrolliert werden, Verhaftungen werden inszeniert. Von der Umsiedelung der Juden in ein Ghetto im Stadtviertel Podgorze im Jahr 1941 gibt es gleich mehrere Filmdokumente. 15.000 Juden wurden dort zusammengepfercht und gefangen gehalten.

Eine andere Quelle, ein Fotoalbum aus Krakau, hält eine weitere Stufe der Eskalation der Gewalt fest: Juden und Jüdinnen packen ihre letzten Habseligkeiten, müssen zum Bahnhof von Krakau marschieren, werden gezwungen in einen Güterzug zu steigen. Szenen einer der vielen Deportationen.

Fotostrecke mit 6 Bildern

Fotoalbum zu Deportationen in Krakau
Archiwum Narodowe w Krakowie
Ein Fotoalbum mit Aufnahmen, die den Ablauf einer Deportation in Krakau 1940 zeigen, vermutlich von einem deutschen Soldaten fotografiert
Deportationen in Krakau
Archiwum Narodowe w Krakowie
Polizei überwacht das Aufladen des Gepäcks
Deportationen in Krakau
Archiwum Narodowe w Krakowie
Unter Bewachung werden die Deportierten, darunter Frauen, Kinder und Alte, durch die Stadt getrieben
Deportationen in Krakau
Archiwum Narodowe w Krakowie
Eine Gruppe von Deportierten vor dem Krakauer Bahnhof
Deportationen in Krakau
Archiwum Narodowe w Krakowie
Güterwaggons stehen bereit
Deportationen in Krakau
Archiwum Narodowe w Krakowie
Noch eine Kontrolle vor der Abfahrt

Es sind historische Dokumente der systematischen Vertreibung und Ermordung der Juden und Jüdinnen von Krakau. Vor dem Krieg war die jüdische Gemeinde mit rund 65.000 Menschen die viertgrößte Polens. Einige tausend konnten rechtzeitig das Land verlassen. Den Holocaust haben nur wenige überlebt.

Arbeit gegen das Vergessen

Institutionen wie die Gedenkstätte Jad Vaschem, das United States Holocaust Memorial Museum, die USC Shoah Foundation und viele andere Archive bemühen sich, zeithistorische Quellen zu sammeln und Zeitzeugen und Zeitzeuginnen zu interviewen. Diese Arbeit gegen das Vergessen ist umso wichtiger, als es heute nur noch wenige Menschen gibt, die zu ihren Erinnerungen und Erlebnissen befragt werden können. Für die TV-Dokumentation ist es gelungen, bisher nie gezeigte Fotos und Akten ausfindig zu machen und mit den Überlebenden, die Madritsch, Titsch und Bouska in Krakau erlebt hatten, zu sprechen.

In Krakau selbst ist der Umgang mit der Vergangenheit schwierig. Auf dem Gelände des früheren KZ Plaszow erinnert nur wenig an die grauenhafte Geschichte dieses Ortes. „Das ist ein Naherholungsgebiet, wo die Leute mit den Hunden spazieren gehen“, so Filmemacher Ransmayr. „Es gibt ein Denkmal und einzelne Hinweistafeln, aber kein Dokumentationszentrum.“ Grabsteine des ehemaligen jüdischen Friedhofs, auf dem die Nazis das KZ errichteten, liegen noch immer unbeachtet herum. Doch in jüngster Zeit gibt es Bestrebungen, ein Besucherzentrum einzurichten.

Die „drei Gerechten“

In diesem Umfeld der Gewalt übernahm Madritsch im Herbst 1940 eine arisierte Wäschefabrik im Krakauer Stadtteil Podgorze. Der Wiener Metalltechniker Titsch war Fabriksleiter für Madritsch. Der Polizist Bouska war Mitglied der NSDAP, SS-Mann und Vizekommandant der in Podgorze stationierten Polizeiwache.

Raimund Titsch, Julius Madritsch und Oswald Bouska
Privat; Nachlaß Julius Madritsch; LPD Wien (Montage)
Raimund Titsch, Julius Madritsch und Oswald Bouska wurden in Krakau zu Gegnern der NS-Rassenideologie

Keiner der drei kam mit der Absicht nach Polen, Juden und Jüdinnen zu retten. Erst als sie in Polen erlebten, wie brutal das NS-Regime seine mörderische Rassenideologie umsetzte, wurden sie zu Gegnern des NS-Regimes. Die drei Männer taten, was viele für unmöglich hielten: Im Ghetto von Krakau und im nahen Konzentrationslager Plaszow retteten sie Menschenleben unter Einsatz ihres eigenen.

Dafür wurden sie mit dem Titel „Gerechte unter den Völkern“ geehrt. Es ist die höchste Auszeichnung, die Israel an Nichtjuden vergibt, die während der NS-Zeit unter Lebensgefahr und ohne Gegenleistung Juden gerettet haben.

Zwangsarbeit im Generalgouvernement

In der Firma von Madritsch nähten jüdische Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen Uniformen für die Wehrmacht. Der Betrieb galt als kriegswichtig. Wer hier Arbeit fand, hatte bessere Chancen zu überleben. Bis zu 2.000 Menschen beschäftigte Madritsch in seinen Werkstätten – mehr als Schindler in seiner Emailfabrik. Sein Handeln – und auch jenes Schindlers – war zwiespältig: Sie machten mit dem Zwangsarbeitssystem durchaus Profite.

Aber sie setzten ihre Positionen und Profite dafür ein, die Menschen, die für sie arbeiteten, zu schützen. „Den Zwangsarbeitern, denen sie geholfen haben, erschienen Madritsch und seine Mitstreiter fast wie Wesen aus einer anderen Welt, die Mitgefühl und Menschlichkeit gezeigt haben, was es vonseiten der Besatzer nicht mehr gab“, fasst Filmemacher Ransmayr seine Eindrücke von den Interviews mit Zeitzeugen und Zeitzeuginnen zusammen.

Auf Dauer konnten sie nicht alle Beschäftigten vor Verfolgung und Deportation retten, aber sie bremsten die Spirale der Gewalt. „Das, was die nationalsozialistische Führung wollte, war, einen beträchtlichen Teil der jüdischen Bevölkerung möglichst rasch zu ermorden“, sagt Winfried Garscha, Historiker und Mitarbeiter am Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes.

In seiner Perspektive war das, was Titsch, Madritsch und Bouska taten, keine vernachlässigbare Größe: „Jeder und Jede, die mitgeholfen haben, dieses Ziel zumindest zu erschweren, hat dazu beigetragen, Menschenleben zu retten. Vielleicht nicht endgültig zu retten. Aber die Chancen, das Leben zu retten, werden natürlich umso größer, je länger es gelingt, diese Personen dem Zugriff der Mörder zu entziehen.“

Auf Madritschs Betreiben auf Schindlers Liste

1944 wurde Madritschs Firma geschlossen, seine 1.600 Arbeiter und Arbeiterinnen wurden deportiert. Aber 60 seiner Leute wurden auf seine Bitte hin von Schindler übernommen, der seine Emailproduktion noch in Brünnlitz bei Brünn weiterführen konnte. 60 Namen, die durch Madritschs und Titschs Engagement auf Schindlers berühmte Liste gelangten.

Madritsch´ Liste
ORF
Madritschs Liste rettete zu Kriegsende 60 Juden und Jüdinnen vor der Deportation

Offizielle Anerkennung bekamen Madritsch und Titsch erst in den 1960er Jahren, Bouska war zu dieser Zeit schon tot. Sie selbst sprachen wenig über ihre Rolle während des Krieges. Eine Debatte über den Nationalsozialismus und seine Folgen war im Österreich der Nachkriegszeit nicht willkommen, und jene, die Widerstand dagegen geleistet hatten, konnten nicht auf ungeteilten Beifall hoffen.

Auch die psychische Belastung hinterließ Spuren und prägte ihr Leben. Die Angst vor dem Auffliegen muss die drei Retter ständig begleitet haben. Sie mussten sich mit dem berüchtigten KZ-Kommandanten Göth arrangieren, sie mussten lavieren, vertuschen, bestechen.

„Was mich besonders beeindruckt an der Geschichte von Madritsch, Titsch und Bouska, ist die unglaubliche Nervenstärke, die sie gehabt haben müssen. Sie haben einerseits bei Fluchthilfeaktionen extrem viel riskiert, mussten andererseits aber SS-Massenmördern wie Amon Göth Regimetreue vorgaukeln, um ihr Doppelspiel zu tarnen“, sagt ORF-Redakteur Ransmayr, der die Geschichte der drei „Gerechten“ in seiner Dokumentation ohne Pathos, ohne Spielszenen, ohne fragwürdige Nachstellungen von Gewalttaten erzählt.