Shopify-Merchandise
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Shopify

Kanadas Gegenthese zu Amazon

Das kanadische Unternehmen Shopify gilt als Anti-Amazon – und der in Deutschland geborene Firmengründer Tobias Lütke als Gegenthese zu Jeff Bezos. Shopify stellt kleinen und großen Unternehmen die Werkzeuge für eigene Webshops zur Verfügung – eine große Kundenplattform gibt es nicht. Mit enormem Wachstum während der Pandemie mehrten sich die Spekulationen, genau das könnte Shopifys nächster Schritt sein.

Hierzulande klingt der Firmenname zwar vertraut, das liegt aber an den Hunderten Internet-Start-ups, die sich ab Mitte der 2000er Jahre einen Namen mit der Endung „–ify“ gaben. 2006 – recht zeitnah zum Musikstreamingdienst Spotify – trat in Kanada auch Shopify auf den Plan. Der in Konstanz geborene Lütke galt als Programmierwunderkind, wanderte mit 21 nach Kanada aus und gründete zunächst einen Snowboard-Onlineshop, den er dann Richtung E-Commerce-Lösungen ausbaute und schließlich unbenannte.

Kleine wie große Unternehmen bezahlen zwischen 30 und 2.000 Dollar im Monat und dafür, die Dienstleistungen des Unternehmens für Onlinehandel zu verwenden: eine Verkaufswebsite, Bezahldienst, Inventursoftware, PR- und Werbetools, Social-Media-Vernetzung und, und, und.

Geschäft teilweise von Amazon „geerbt“

Shopify nutze die Lücke, die Amazon geradezu freiwillig abtrat. Der Onlinegigant hatte eigentlich seinen eigenen Dienst für Händler. Doch das Projekt Webstore verblasste im Vergleich zu den Umsätzen auf der Amazon-Website. Konzernchef Bezos entschied sich dafür, das Geschäft abzustoßen – und gab 2015 auch die Kunden an Shopify ab. Eine Million Dollar zahlte das kanadische Unternehmen, wie „Bloomberg Businessweek“ berichtete. Und für Shopify, das gerade an die Börse gegangen war, sollte sich die Investition lohnen.

„Amazon versucht, ein Imperium aufzubauen – und Shopify versucht, die Rebellen zu bewaffnen“, sagte Lütke vor einigen Jahren. Tatsächlich nutzte dem kanadischen Unternehmen der gute Ruf, lokale Händler, die sich bei Amazon immer wieder eher benachteiligt fühlten, anzulocken. Denen gewährte man sogar Kredite, um ihre Geschäfte aufzubauen. Mehr als zwei Milliarden Dollar wurden seit 2016 verborgt.

Glamour und Start-up-Klischees

Namhafte Kunden sorgten für Prestige und Glamour: Kylie Jenner, Taylor Swift, Lady Gaga und Pharrell Williams gehören ebenso zu den Kunden wie schicke Modelabels – und ebenso Großunternehmen wie der Bürobedarfskonzern Staples und die US-Restaurantkette Chipotle Mexican Grill.

Eine Zeitlang erfüllte Shopify auch die klassischen Klischees, was aufstrebende Technologiekonzerne tun zu haben: Ihre Zentrale hat den Look eines Abenteuerspielplatzes zu haben und andere Dienstleister aufzukaufen. Man bezog einen Wolkenkratzer in Ottawa, baute in einem Stock eine Gokart-Bahn und bot den Angestellten Tischtennis-, Gaming- und Yogaräume an. Geschluckt wurden kleine Entwicklungsstudios, Zahlungsabwickler und auch Handshake, eine Plattform, mit der man in den Business-to-Business-Markt einstieg.

Innenansicht des ehemligen Shopify-Hauptquartiers in Ottawa
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Sitzkissen im Glastipi – Must-have für „Kreative“ in Technologiekonzernzentralen

Alles nur mehr virtuell

Doch dann kam die Pandemie. Lütke, der schon einmal zuvor alle Angestellten für einen Monat probeweise ins Homeoffice geschickt hatte, entschied sich für einen radikalen Schritt: Im März 2020 wurde beschlossen, die Konzernzentrale und andere Büros aufzulösen und damit alle 5.000, mittlerweile sind es 7.000, Mitarbeiter permanent in die Heimarbeit zu schicken. Als Konzernsitz gab man ab Februar 2021 nicht mehr „Ottawa, Canada“ an, sondern „Internet, everywhere“. Die gesamte Firmenkommunikation wurde auf Videokonferenzen und vor allem das Messengerboard Slack verlegt.

Das löste viele Probleme, schuf aber auch neue: Onlinekommunikation kennt weniger Graustufen – und viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zeigten sich mehrfach irritiert, wenn Lütke als Firmenchef dort Untergebene teils recht schroff kritisierte, hieß es in „Bloomberg Businessweek“. „Tobi der Tornado“ werde er intern genannt, und emotionale Intelligenz gehöre eher nicht zu seinen Stärken, heißt es dort. Gleich einige Führungskräfte verließen – aus unterschiedlichen Gründen – das Unternehmen.

Enormes Wachstum

In Interviews zeigt sich Lütke eher als nerdiger Programmierer mit medientheoretischen und wirtschaftsphilosophischen Abhandlungen, dann wieder präsentiert er sich mit markigen PR-Sprüchen. Doch die Repräsentation überlässt er zumeist dem weit extrovertierteren Kanadier Harley Finkelstein, der als Präsident des Unternehmens fungiert.

Tobias Lütke und Justin Trudeau 2018
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Lütke im Gespräch mit Kanadas Premier Justin Trudeau

Und Interviews mussten die beiden seit der Pandemie viele geben. Mit dem Onlinehandelboom wuchs Shopify enorm. Die Umsätze stiegen 2020 um 86 Prozent gegenüber dem Jahr davor. Der Börsenwert stieg innerhalb von zwei Jahren von 46 auf 177 Milliarden Dollar. Mittlerweile gilt es als Kanadas wertvollstes Unternehmen, und selbst in den USA hat man einen Marktanteil von 8,6 Prozent am E-Commerce-Umsatz. Das ist Platz zwei nach Amazon.

Fallende Kurse und die Frage der „letzten Meile“

Allerdings läuft es seit einigen Monaten nicht mehr rund: Der Börsenkurs gab seit Herbst um rund ein Viertel nach. Inflation ist das Schreckgespenst im Handel, zudem sorgten sich Anleger, wie es mit dem Onlinehandel nach dem Ende der Pandemie weitergehen könnte. Und viele warteten darauf, dass Shopify den nächsten Schritt wagen würde, sich tatsächlich mit Amazon zu messen – und die „letzte Meile“, also auch die Zustellung zum Kunden anbietet.

Auch Shopifys Kunden wünschten sich angesichts der globalen Lieferkettenprobleme Unterstützung, sieht man sich doch gegen den Logistikgiganten Amazon deutlich im Nachteil. Tatsächlich tüftelt Shopify schon länger an einer Strategie – macht nach Schritten nach vorne aber immer wieder Rückzieher.

Fühler Richtung Logistik ausgestreckt

2021 führte Shopify eine Suchfunktion in seiner Shop-App ein, was als Versuch gewertet wurde, sich langsam an der Amazon-Website zu orientieren. Doch die Suchergebnisse liefern vor allem Produkte von Shops, in denen der Kunde bereits eingekauft hat. Offenbar fürchtet sich das Unternehmen, Kunden zu verärgern, wenn anderen Shops anderer Kunden eher angezeigt werden.

Schon 2019 versuchte man, mit Verträgen mit lokalen Abwicklungszentren und Lieferdiensten eine entsprechende Infrastruktur aufzubauen. 2019 wurde auch für 450 Millionen Dollar ein Unternehmen gekauft, das die gleiche Art von Robotern herstellt, die in den Lagerhallen von Amazon eingesetzt werden. Allerdings passierte dann nichts weiter. Auch ein von Amazon abgeworbener Betriebsleiter verließ nach wenigen Monaten das Unternehmen wieder.

Lütke sagte, dass die Logistik „eine harte Nuss für Byte-Firmen ist“. Software zu schreiben sei die eine Sache, sich mit Gewerkschaftskampagnen wegen ausgebeuteter Lagerarbeiter herumzuschlagen eine andere. Wenn für den Betrieb eines solchen Netzwerks eine rücksichtslose Effizienz im Stil von Amazon erforderlich ist, so Lütke, „dann glaube ich nicht, dass wir Erfolg haben werden. Wir werden es anders machen, weil wir nicht so auftreten wollen.“ Doch wie Shopify nun vorgehen wird, das ist offen.