Energiespeicher-Turm von Energy Vault
Energy Vault
Tanz mit Schwerkraft

Energiespeicher in luftiger Höhe

Die Suche nach grünem Strom bei Windstille und bewölktem Himmel ist vielerorts eine Herausforderung. Die Speicherung von Energie in riesigen Betonblöcken, die hoch in die Luft gehoben und langsam wieder abgesenkt werden, könnte jedoch die Lösung sein, ist ein Schweizer Unternehmen überzeugt. So seien auch die Klimaziele bis 2050 realistisch zu erreichen. Ein Prototyp ist bereits in Betrieb.

Das Prinzip läuft folgendermaßen: Ein mehrarmiger Kran hebt rund 35 Tonnen schwere Betonblöcke vierzig Meter in die Luft. Die Blöcke hangeln sich den Stahlrahmen des Krans hinauf, wo sie an beiden Seiten eines horizontalen Arms aufgehängt werden. Die Betonblöcke werden von Motoren, die mit Strom aus dem Schweizer Stromnetz betrieben werden, langsam nach oben gezogen. Einige Sekunden lang hängen sie herum, dann lösen sich die Stahlseile, an denen die Blöcke befestigt sind, und ein langsamer Abstieg beginnt.

Der entscheidende Moment ist gekommen: Während sich jeder Block absenkt, beginnen sich die Motoren, die die Blöcke anheben, rückwärts zu drehen und erzeugen so Strom, der durch dicke Kabel, die an der Seite des Krans herunterlaufen, in das Stromnetz eingespeist wird. In den 30 Sekunden, in denen die Blöcke herabgelassen werden, erzeugt jeder einzelne etwa ein Megawatt Strom – genug, um rund 1.000 Haushalte zu versorgen.

IAEA: Stromerzeugung wird sich bis 2050 verdoppeln

Bei der Konstruktion handelt es sich um einen Prototypen des in der Schweizer Kleinstadt Arbedo-Castione ansässigen Unternehmens Energy Vault, eines von mehreren Start-ups, die neue Wege zur Nutzung der Schwerkraft für Stromerzeugung finden wollen. Eine größere Version des Turms könnte gar 7.000 Betonblöcke enthalten und genug Strom liefern, um mehrere tausend Haushalte für acht Stunden lang zu versorgen. Diese Art der Energiespeicherung könnte dazu beitragen, das größte Problem bei der Umstellung auf erneuerbare Energien zu lösen: einen CO2-freien Weg zu finden, um Strom fließen zu lassen, wenn kein Wind weht und die Sonne nicht scheint.

Energy Vault Testinstallation in Castione-Arbedo aus dem Zug gesehen
Ein futuristisch aussehender Kran bzw. die Betonblöcke am unteren Ende könnten die Zukunft der Energiespeicherung sein

Nach Angaben der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) wird sich die Stromerzeugung aufgrund des erhöhten Bedarfs bis 2050 verdoppeln – die Frage ist nur, mit welchen Energieträgern. Ohne eine einfache Möglichkeit, große Energiemengen zu speichern und bei Bedarf wieder freizugeben, wird die Abhängigkeit von mit fossilen Brennstoffen betriebenen Kraftwerken weiterhin bestehen. Expertinnen und Experten wissen: Wenn die Welt es nicht schafft, die Stromversorgung zu dekarbonisieren, kann das Klimaziel, die Treibhausgasemissionen bis 2050 auf netto null zu bringen, nicht erreicht werden.

Stromnetzbetreibung – ein Drahtseilakt

Doch die Dekarbonisierung der Stromnetze stellt die Welt vor große Herausforderungen. Allein der Betrieb eines Stromnetzes ist ein Drahtseilakt, bei dem Erzeugung und Nachfrage jederzeit aufeinander abgestimmt werden müssen. Erzeugt man zu viel Strom, kann das Netz zusammenbrechen, erzeugt man zu wenig Strom, ebenso. Genau das geschah beispielsweise in Texas im Februar 2021, als einer der kältesten Winterstürme seit Jahrzehnten über den US-Staat hereinbrach.

Die Texanerinnen und Texaner drehten also ihre Heizungen auf, doch die Pipelines zu den Gas- und Kernkraftwerken froren ein. Als in den frühen Morgenstunden des 15. Februar die Nachfrage in die Höhe schoss und das Angebot einbrach, riefen Mitarbeiter im Kontrollraum des Electrical Reliability Council of Texas (ERCOT) verzweifelt bei den Versorgungsunternehmen an und forderten sie auf, die Stromversorgung ihrer Kundinnen und Kunden zu unterbrechen.

Millionen von Menschen waren in der Folge tagelang ohne Strom. Einige starben an Unterkühlung in ihren eigenen Häusern. Wenige Tage nach der Krise räumte ERCOT-Chef Bill Magness ein, das gesamte Netz sei nur „Sekunden und Minuten“ von einem unkontrollierten Stromausfall entfernt gewesen, der Millionen von Menschen für mehrere Wochen ohne Strom hätte lassen können.

Strom speichern, aber wie?

Bei erneuerbaren Energien verhält es sich nicht anders, was sich am Beispiel Kaliforniens zeigt: Etwa 32 Prozent des Stroms werden dort aus erneuerbaren Energien erzeugt. Wenn der Wind beständig ist, kann dieser Anteil aber auf fast 95 Prozent steigen, was zu ungenützter Energie führt. Die Solarenergie kommt um die Mittagszeit auf ihren Höhepunkt, also Stunden bevor die Stromnachfrage ihren Höchststand erreicht, wenn die Menschen von der Arbeit nach Hause kommen, die Klimaanlage aufdrehen und den Fernseher einschalten. Da am späten Abend kein Solarstrom mehr erzeugt wird, wird diese Nachfragespitze in der Regel durch Gaskraftwerke gedeckt.

Lithium-Ionen-Batterie
Reuters/Thomas White
Lithium-Ionen-Akkus können elektrische Energie speichern, doch sie sind aus mehreren Gründen umstritten

All diese Herausforderungen sind auf die Eigenschaft der Elektrizität zurückzuführen: Strom ist grundsätzlich nicht speicherbar. Es sei denn, man wandelt elektrische Energie um, die freigesetzt werden kann – etwa in Form von Wasser in einem Pumpspeicherkraftwerk oder als chemische Energie in Lithium-Ionen-Batterien. Der Nachteil von Lithium-Ionen-Akkus ist aber, dass sie mit der Zeit leistungsschwach werden und seltene Erden zur Herstellung benötigen, was umwelttechnisch und auch im Sinne von Kinderarbeit umstritten ist.

Die Schweiz als Pionierin

Die Schweiz leistete schon früh Pionierarbeit bei der Energiespeicherung. Ganz im Norden befindet sich das älteste funktionierende Pumpspeicherkraftwerk der Welt. Das 1907 erbaute Werk Engeweiher – wie auch sämtliche Pumpspeicherkraftwerke in Österreich – funktioniert nach demselben Prinzip wie der Turm von Energy Vault – nur mit Wasser anstatt Betonblöcken: Bei hohem Stromangebot wird Wasser aus Flüssen in einen Stausee gepumpt. Wenn der Energiebedarf am höchsten ist, wird ein Teil abgelassen. Das Wasser stürzt in ein Kraftwerk, wo die Abwärtsbewegung die Schaufeln einer Turbine dreht und Strom erzeugt.

Engeweiher Pumpspeicherkraftwerk bei Schaffhausen in der Schweiz
Der Engeweiher ist das älteste funktionierende Pumpspeicherkraftwerk der Welt

Mehr als 94 Prozent der weltweiten großangelegten Energiespeicher sind Pumpspeicherkraftwerke, von denen die meisten zwischen den 1960er und 1990er Jahren gebaut wurden, um den billigen Strom aus den über Nacht laufenden Kernkraftwerken zu nutzen. Obwohl immer noch neue Pumpspeicherkraftwerke gebaut werden, hat auch diese Technologie einige Nachteile. Die Planung und der Bau neuer Projekte dauern Jahre, und sie funktionieren nur an Orten, an denen Höhe und Wasser im Überfluss vorhanden sind.

Anstatt sich darauf oder auf umstrittene Lithium-Ionen-Batterien zu verlassen, klingt das Prinzip der hängenden Betonblockspeicherung für viele Gegenden der Welt verlockend. So wird Energie relativ einfach „aufbewahrt“ und kann genau dann eingesetzt werden, wenn sie gebraucht wird. Auf diese Weise kann man aus erneuerbaren Energiequellen mehr herausholen und den Bedarf an Reservekraftwerken, die mit fossilen Brennstoffen funktionieren, verringern.

Blöcke könnten aus Müll bestehen

Eine der wichtigsten Fragen, der sich Unternehmen wie Energy Vault stellen müssten, schrieb das Magazin „Wired“, sei, ob die Kosten so weit gesenkt werden können, um mit Lithium-Ionen-Batterien mitzuhalten. Nur so würden sich Kunden an Land ziehen lassen. Denn schon seit 1991 sind die Kosten für Lithium-Ionen-Akkus um 97 Prozent gesunken. Analystinnen und Analysten gehen davon aus, dass dieser Preis in den kommenden Jahrzehnten weiter sinken wird. Dann werden Erwartungen zufolge Hunderte Millionen von Elektrofahrzeugen vom Band laufen, die Lithium-Ionen-Batterien enthalten.

Energy Vault arbeitet bereits an Möglichkeiten zur Kostensenkung, die zudem auch umweltfreundlicher sind, indem es etwa die tonnenschweren Blöcke statt aus Beton aus Erde von nahen Baustellen und Müll herstellt. Im Juli 2021 kündigte das Unternehmen zudem eine Partnerschaft mit dem italienischen Energieunternehmen Enel Green Power an, um Glasfasern aus stillgelegten Windturbinenflügeln für einen Teil seiner Blöcke zu verwenden.

Vielversprechend dürfte die Speicherform der Schwerkraft jedenfalls sein. Auf dem Markt gibt es zahlreiche ähnliche Ideen. Das schottische Energiespeicher-Start-up Gravitricity versucht etwa, Gewichte in stillgelegte Minenschächte fallen zu lassen, anstatt teure Türme neu zu bauen. Und Energy Vault schloss sich letztes Jahr mit der amerikanischen Mantelgesellschaft Novus Capital Corporation II zusammen, um in Folge an der New Yorker Börse notiert zu sein.