Montage des Schriftstellers Franz Grillparzer mit einer gezeichneten FFP2-Maske und einer Gedankenblase mit dem Text „LOL“
Public Domain/ORF.at (Montage)
150. Todestag

Die Überwindung des Grillparzer-Traumas

„Das Trauma ein Leben“, könnte man kalauern zu einem, der wie wenige andere den Habsburger-Mythos in der heimischen Literatur einzementiert hat. Franz Grillparzers Werk liegt in der Lifestyle-Kultur der Gegenwart wie schwere Kost herum. Dabei wäre er, der vor 150 Jahren gestorben ist, durchaus neu zu entdecken. Grillparzer mag als der Urvater eines österreichischen Wesens, das sich unaufmüpfig in die Ordnung der Welt einfügt, verstanden werden. Zugleich sind seine Prosatexte eigentlich eine große Fundgrube für eine klare Schreibkunst, die in ihrem Formwillen so unösterreichisch ist wie über die Schreibkunst hinaus verweist.

Wenn wir schon keinen Johann Wolfgang von Goethe haben, so bleibt uns immer noch der Grillparzer. So könnte man den Hang Österreichs im Umgang mit vielleicht dem Klassiker seiner eigenen Literatur auf den Punkt bringen. Wie Goethe ein Beamter, wie Goethe ein Mensch, der die Welt in allem durchdenken wollte. Und auch wenn Grillparzer vielleicht ein bisschen weniger in seinem Baruch de Spinoza gebadet hat, so durchzieht doch seine Welt ebenso ein pantheistischer Geist einer stillen Grundordnung wie beim späten Weimaraner Geheimrat.

Grillparzer wollte die Welt geordnet sehen, sie aus sicherer Distanz in den Blick nehmen – und mitunter auch auf die Essenz runter kochen, etwa wenn er sich mit den deutschen Debatten über die Rolle von Kunst und Fragen der Ästhetik auseinandersetzte. Mit Immanuel Kant konnte er umgehen, der deutsche Idealismus war ihm wesensfremd und mit der Überermächtigung des Ichs gekoppelt, die er in all seinen Dramen verdammte. Im Grunde war er ein Klassizist, der etwas zu spät in die Welt gestoßen wurde und, blickt man auf seine Biografie und die nie vollzogene Verheiratung, der nie ganz in ihr ankam. Auch wenn Grillparzer den Hof zu preisen schien, hat es ihm der Hof nie oder nur zögerlich gedankt. Empfindsamkeit, Romantik, aber auch der revolutionäre Idealismus eines jungen Deutschland waren ihm fremd. Sein Nichtankommen in der Welt wäre freilich ein Topos der österreichischen Literatur, der von Grillparzer bis hinauf zu einem Thomas Bernhard und Peter Handke verweist.

Hinweis:

Martin Kusejs Inszenierung von Grillparzers „König Ottokar“ ist in voller Länge in der 3sat-Mediathek zu sehen.

„Der Wert der Phantasie liegt in der Begrenzung“

„Die deutsche Phantasie könnte man beschuldigen, gar zu gern ins Weite zu gehen und dadurch unbildlich zu werden“, schreibt er in seinen „Studien“, die eigentlich den schönsten Schlüssel zu seinem Werk und Denken darstellen: „Je höher diese Kraft sich versteigt, umso nebelhafter werden ihre Gebilde, bis sie endlich zu bloßen Schematen einschwinden. (…) Der Wert der Phantasie für die Kunst liegt in ihrer Begrenzung, welche die Gestalt ist.“ Die Deutschen, so geht Grillparzers Grundbetrachtung weiter, seien gewohnt, „von scharf bestimmten Begriffen auszugehen“, doch zu leicht „verlieren sie (…) den Takt für die Zufälligkeiten des Lebenden“. Zu oft, so sein Fazit, „rollt denn die ganze Komposition als ein unentwirrbares Chaos belästigender Schönheiten um ihre eigene Achse“.

Handschrift aus Grillparzers Selbstbiografie
Wiener Stadt- und Landesbibliothek
Denken und Schriftbild. Faksimile aus der Selbstbiografie von Grillparzer, digital erfasst von der Wienbibliothek.

Grillparzer und österreichische Konstanten

Will er „die Gegenwart in harmonische Vergangenheit verwandeln“, wie der Italiener Claudio Magris in seinem Buch über den „Habsburger Mythos in der modernen österreichischen Literatur“ schreibt? Wer auf Grillparzers Texte blickt und auch seine mittlerweile digital erfassten Handschriften, der sieht schon am Schriftbild einen Menschen mit klarem Ordnungs- und Orientierungswunsch vor sich.

Xylografie, circa 1880, von Franz Grillparzer
Sammlung Rauch / Interfoto / picturedesk.com
Selten heiter: Franz Grillparzer in einer Xylografie 1880

Seine Ästhetik ist klar an der Verbindung von Inhalt und Form geprägt, von einer Klarheit, die dem Ausschweifen Zügel anlegen will. Das hat auch viel mit Grillparzers Zeiterfahrung zu tun, durchmaß er doch die Welt der Napoleonischen Kriege hinauf bis zu den gesellschaftlichen Veränderungen der industriellen Revolution. Und in der Mitte standen die Erfahrungen des 1848er Jahres. Wenn er also tief in die Geschichte zurückblickte, so situierte er moderne Konflikte in der Antike ebenso wie im Mittelalter.

Der Ottokar etwa, er ist bei Grillparzer, wie Leonello Vincenti konstatierte, der „moderne Parvenu“, der mit Säbelgewalt und Hochmut gegen eine höhere Ordnung an die Macht drängt. Man mag darin wie Emil Staiger den „österreichischen Sinn für überliefertes Gut“ erkennen, und stets bemüht Grillparzer ja die höheren Zusammenhänge. Doch nach dem Zusammenbruch des Kaiserreiches mag man darin auch eine zeitkritische Polemik gegen den raschen Aufstieg Preußens verpackt sehen, der geschickt in ein Historiendrama ummäntelt ist. Die „ewige Staatsidee gegen das Übergangsindividuum“ (Vincenti) setzt Grillparzer und stützt sich dabei aber auf ein Regieren, das nicht von der Gnade Gottes, sondern der Zügelung der Triebnatur geprägt ist. Man mag in ihm durchaus einen Austro-Kantianer sehen, der auch die hohe Gedanken der Philosophie im „sanften Gesetz“, von dem später bei Adalbert Stifter die Rede ist, landen lässt.

Salzburger Festspiele 2005 – König Ottokars Glück und Ende – Tobias Moretti
Barbara Gindl / APA / picturedesk.com
Grillparzer und der Parvenu: Tobias Moretti als Ottokar, 2005 in Martin Kusejs Inszenierung bei den Salzburger Festspielen auf der Perner-Insel

„Die Ordnung kann gar nicht anders als in Ordnung sein"

Und ohne ihn, so könnte man sich vielleicht weit rauslehnen, auch keine Musil’sche „Eigenschaftslosigkeit“, die ja die Einsicht in das Wesen der Welt aus der Befindlichkeit der Moderne in den Blick nimmt. „Die Ordnung kann gar nicht anders als in Ordnung sein (…): Sie ist ihrem Wesen nach schon in Ordnung“, umreißt Musil ironisch die kakanische Befindlichkeit und Grillparzer’sche Sehnsucht nach dem Ordnungsrahmen. In der Moderne verbürgt nun nicht mehr die Vernunft oder die höhere Raison die Ordnung, sondern die Eigenschaftslosigkeit, die eben die Widersprüche zu seinem ausgeglichenen Ganzen zu fusionieren vermag. „Diese Ordnung war dem Franziskos-Josefinischen Zeitalter in Kakanien zur Natur, ja fast zur Landschaft geworden.“

Grillparzer leuchtet da durch, sagen doch alle seine Charaktere: Füge dich in das Wesen der Dinge, bescheide dich – und verabschiede dich von der Hybris, alles beherrschen zu können. Das mag man als Antimodernismus deuten. Doch man mag zugleich nach der Funktion fragen, die das Grillparzer’sche Narrativ im 19. Jahrhundert hatte. Grillparzers Wunsch nach der Stabilisierung der Welt entspringt einer Zeiterfahrung und einer Warnung, wohin Überindividualisierung hinführen könnte. Ironischerweise wäre gerade Grillparzer in der Hegelianischen Rechtslehre und in dem dort ausgestellten Staats- und Gesellschaftsmodell heimisch geworden. Zu sehr aber nagten an ihm die Erfahrungen der Zeit, die er leicht mit dem idealisierten Ich in Verbindung bringen konnte.

Ottokars Sohn Wenzel bittet Rudof von Habsburg um die Aushändigung des Leichnams seines Vaters. Gemälde von Anton Petter 1826
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Der Ottokar-Stoff inspirierte die unterschiedlichsten landespatriotischen Erzählungen im frühen 19. Jahrhundert. Hier bei Anton Petter im Jahr 1826 erbittet Ottokars Sohn Wenzel bei Rudolf von Habsburg die Aushändigung des Leichnams seines Vaters nach der Schlacht bei Dürnkrut.

Die Last des Staatskünstlers

Dass Grillparzer zum Staatskünstler gerade nach 1945 wurde und das Vorbild Grillparzer einer neuen Österreich-Stabilisierung diente, kann nicht verwundern. Mit der Verortung Grillparzers als Schullektüre hat man diesem Klassiker aber mehr Blei aufgeladen, als tatsächlich in seinen Texten steckt. Für die Wiederentdeckung darf die Prosa dienen, nicht zuletzt auch die Novelle „Der arme Spielmann“ (im Vorrevolutionsjahr 1847 vollendet), der über Strecken wie eine Umsetzung seiner Kompositionswünsche wirkt.

Der Anblick des Kirchtages in der Brigittenau, der schon am Anfang die Atmosphäre des Texts aufbereitet, befreit den Wiener Mythos von der Lebensfreude all seiner Oberflächlichkeit: „Und so fort und immer weiter, bis endlich der breite Hafen der Lust sich auftut und Wald und Wiese, Musik und Tanz, Wein und Schmaus, Schattenspiel und Seiltänzer, Erleuchtung und Feuerwerk sich zu einem pays de cocagne, einem Eldorado, einem Schlaraffenlande vereinigen, das leider, oder glücklicherweise, wie man es nimmt, nur einen und den darauf folgenden Tag dauert, dann aber verschwindet, wie der Traum einer Sommernacht, und nur in der Erinnerung zurückbleibt und allenfalls in der Hoffnung.“

Trauerspiel, Fernsehspiel nach Franz
Grillparzer. Im Bild: Ewald Balser, Monique Christin.
First Look / picturedesk.com
Wunsch nach der klaren Form: „Des Meeres und der Liebe Wellen“ als Fernsehspiel im Jahr 1968. Im Bild Ewald Balser und Monique Christin.

Die Sehnsucht nach dem Glück, sie ist bei Grillparzer von einer Melancholie durchdrungen, die freilich ebenso wie das Glück kollektiv erfahren und erkannt werden soll. Hier unterscheidet er sich in der Erklärung der Umstände auch von Stifter, dessen heile Welt eine scheinbar heile Welt ist und in der nur vereinzelte Eskapisten auftauchen. Mag sein, dass sich genau deshalb die Forschung lieber auf Stifter geworfen und Grillparzer vernachlässigt hat. Der Wille zur Form – und auch der Mut zur Begrenzung der Form, er führt von Grillparzer vielleicht über die Literatur hinaus hin in Bauordnungen der Jahrhundertwende, in der Grillparzers Überlegungen zur Klarheit und Formbeherrschung zum Gestaltungsgrundsatz wurden. Die Komposition, sie ist bei dem Mann, der die Grabrede auf Ludwig van Beethoven hielt, jedenfalls ein Lebensthema gewesen.