Ein Geek stinkt, ist dreckig, brüllt herum. Er flößt kleinen Kindern Furcht ein und jagt Angstlustschauer über die Rücken der Zuschauerinnen, die in die Grube hinunterglotzen. Dort unten vegetiert er, sicher hinter Gittern verwahrt. Wenn ihm ein Huhn vorgeworfen wird, fetzt er mit bloßen Zähnen den Kopf vom Hals und trinkt das Blut. Ist er ein Monster? Ist er das Missing Link zwischen Tier und Mensch? Wurde er so geboren, oder ist er zu dem geworden, was er jetzt ist?
Im Neo noir „Nightmare Alley“ ist der Geek die wüsteste Attraktion des Jahrmarktes, auf dem der arbeitslose Stanton Carlisle (gespielt von Bradley Cooper) anheuert. Gerade noch hat er seine Vergangenheit in Flammen aufgehen sehen, seinen einzigen Koffer gepackt und ist mit dem Bus ins Nirgendwo gefahren. Auf dem Jahrmarkt von Clem Hoately (Willem Dafoe) bekommt er eine Suppe, ein Stück Brot und einen Job. Anpacken, Zelte aufstellen, Geld einsammeln, solche Tätigkeiten sind hier gefragt. Und wenn der Geek geflüchtet ist, dann muss er eingefangen werden.
Stanton wird am Jahrmarkt schnell heimisch. Er umschwärmt die Artistin Molly (Rooney Mara), die sich als Elektra vor Publikum unter Strom setzen lässt, er bewundert die Hellseherin Zeena (Toni Collette), die mit ihrem versoffenen Ehemann Pete (David Strathairn) einen perfekten Code zu unbemerkter Kommunikation ausgearbeitet hat, um das Publikum zu täuschen. Und er lässt sich von Clem in die Geheimnisse der Zirkusarbeit einweihen, in deren Zentrum immer wieder der Geek steht.
Ehrenkodex einer Hellseherin
Historisch zählten Geek-Shows auf amerikanischen Jahrmärkten immer zu den menschenverachtendsten Nummern, denn ein Geek wurde zum Geek gemacht: Meistens war er ursprünglich ein obdachloser Trinker ohne jede Hoffnung, der für ein Dach über dem Kopf und regelmäßigen Schnaps die Rolle des hühnerfressenden Monsters übernahm. Irgendwann wurde dem Schnaps etwas Opium beigemischt, und der Geek wurde unrettbar süchtig. Genau das erklärt Clem seinem neuen Mitarbeiter Stanton, als der Geek eines Nachts zu flüchten versucht.
So bedeutungsvoll die Geek-Figur jedoch ist, mehr noch als für ihn interessiert sich Stanton für Zeena, bei deren Show er zunächst als Anheizer das Publikum, das seine Fragen nach Geld, Liebe und Verstorbenen an die Hellseherin stellt, zu manipulieren lernt. Doch während Zeena und Pete einen strengen Ehrenkodex haben und etwa trauernden Personen nach der Show immer ihre Tricks enthüllen, ist Stanton fasziniert von den Möglichkeiten, die sich durch eine Kombination von Täuschung, Schmeichelei und Menschenkenntnis erreichen lassen.

Finsteres Finale
„Nightmare Alley“ beginnt schon mit einer Verunsicherung. Der Protagonist, dem der Film durch ein Stück seines Lebens folgt, ist einer, dem nicht ganz zu trauen ist, obwohl er von Cooper gespielt wird, diesem schwiegersohnhaften Superstar mit den melancholischen Untiefen. Die Vorlage zum Film ist der Roman von William Lindsay Gresham, den er auf Basis von Gesprächen mit Jahrmarktmitarbeitern schrieb und 1946 veröffentlichte.
Die erste Verfilmung 1947 mit Tyrone Power und Joan Blondell unter dem deutschen Titel „Der Scharlatan“ hatte ein moralisch erbauliches Ende verpasst bekommen, wie zu diesem Zeitpunkt für einen Studiofilm üblich. Dieses versöhnliche Finale fehlt in der Neuadaption des Mexikaners del Toro komplett, bei ihm ist die Konsequenz von Stantons Faszination für Macht und Manipulation noch brutaler, finsterer und blutiger als in der Vorlage.
Verführung zur Gewalt
Zunächst läuft jedoch alles gut für ihn: Zeenas Partner Pete säuft sich irrtümlich zu Tode, Zeena vermacht Stanton den wertvollen Code, den sie zur heimlichen Kommunikation mit Pete entwickelte. Stanton verlässt den Jahrmarkt und geht mit Molly nach New York, um dort als der Große Stanton in den Nachtclubs der Stadt berühmt und reich zu werden. Hier trifft er allerdings auf seine Meisterin: Die Psychologin Dr. Lilith Ritter (Cate Blanchett) will ihn vor Publikum als Schwindler enttarnen, doch verführt ihn dann, gemeinsam schmieden sie böse Pläne.

Zur Besetzung von Molly und Dr. Ritter als romantische Konkurrentinnen gibt es eine kuriose Fußnote: Beim letzten Film, bei dem Blanchett und Mara in ähnlich eleganten Kostümen gemeinsam mitspielten, in Todd Haynes’ Patricia-Highsmith-Verfilmung „Carol“, waren die beiden das zentrale Liebespaar.
Kritik an Verblendung
„Nightmare Alley“ dauert satte 150 Minuten, die nur teilweise gut genützt sind. Explizite Gewaltszenen machen aus dem Film-noir-Stoff streckenweise Horror, doch ohne die umfassende Sympathie für alle Außenseiter, welche die früheren Filme des Regisseurs so entscheidend geprägt hatte, von „Hellboy“ bis zu „Shape of Water“.
Hier steht im Zentrum eine Quersumme aus Psychoanalyse, Pseudoreligion und vermeintlicher Gedankenleserei, die das Publikum verführt, das an Jenseits und Vergebung glauben will, und die den Scharlatan Stanton in seinem Machtrausch blendet – bis er selbst zum Monster wird.
Vielleicht ist es Zufall, dass der Film ins Kino kommt, während Parawissenschaften und Esoterik einen gefährlichen neuen Aufschwung erleben. Wie die daraus resultierende Verblendung in Gewalt resultiert, gegen sich selbst und gegen andere, ist das bittere, späte Fazit des Films.