Schriftsteller Gerhard Roth
ORF.at/Simon Hadler
1942–2022

Gerhard Roth ist tot

Der österreichische Schriftsteller Gerhard Roth ist am Dienstag im Alter von 79 Jahren an den Folgen einer schweren Krankheit verstorben. Er war Träger des Staatspreises für Literatur und hinterlässt ein Monumentalwerk, in dessen Zentrum die beiden Buchzyklen „Archive des Schweigens“ und „Orkus“ stehen.

„Keine Kompromisse eingehen“, sich nicht dem vermeintlichen, antizipierten Geschmack des Publikums anbiedern – diesen Rat hatte Roth für schreibenden Nachwuchs parat. Bei ihm selbst hieß das: Zeitgenossenschaft leben, diese von historischer, geistesgeschichtlicher Detailkenntnis durchdringen lassen, übergroß scheinende Vorhaben nicht als Größenwahn abtun – und dann trotzdem mit einer unglaublichen Lust am Geschichtenerzählen auf den Boden bringen.

Geboren wurde Roth 1942 in Graz. Im Buch „Alphabet der Zeit“ ließ er 2007 die Welt seiner Kindheit auferstehen und erzählte von seinem Vater, einem Arzt, der über die Nazi-Zeit schwieg, der nach dem Krieg zunächst nicht ordinieren durfte und seinen Sohn auf Hamstertouren ins Grazer Umland mitnahm, wo er seine Dienste gegen Nahrungsmittel anbot. So lernte Roth die bäuerliche Welt der Steiermark kennen, die ihm oft als Dreh- und Angelpunkt seiner Betrachtungen diente, für Romane, Essays, Fotobände. Das Erzählen aber, das lernte er von seiner Großmutter, die ihm wegen ihrer nervösen Ticks trotz aller Liebe immer ein bisschen Angst einjagte.

Der Autor Gerhard Roth
picturedesk.com/Imagno/Otto Breicha
In den 70ern machte Roth Karriere in der frühen Computerbranche

Nichts anbrennen lassen

Ein vom Vater gewünschtes Medizinstudium brach er bald ab. Nachdem Roth selbst früh Vater geworden war, arbeitete er von 1966 bis 1977 am Grazer Computerrechenzentrum, wo er Karriere machte und sich vom Programmierer zum Organisationsleiter hocharbeitete – eine Zeit, über die er im privaten Rahmen gerne und oft erzählte. Technologischen und medialen Weiterentwicklungen folgte er mit regem Interesse, zuletzt oft gemeinsam mit Enkeln. Sozialen Netzwerken gegenüber war er skeptisch, genauso wie Kindheiten, von denen Spielkonsolen als dominante Erinnerungen bleiben.

Roths Liebe aber galt während seiner Zeit am Rechenzentrum längst der Literatur. Seit den frühen 1970er Jahren veröffentlichte er experimentelle Prosa und schrieb Theaterstücke. Er zählte zum Kreis des Forum Stadtpark Graz und der Zeitschrift „manuskripte“ und war Mitglied der Grazer Autorenversammlung. Noch lieber als vom Rechenzentrum erzählte er davon, wie er mit seinem engen Freund, dem Dichter Wolfgang Bauer, die Straßen und Lokale von Graz, Wien und – Roths Lieblingsgeschichte – auch jene von Las Vegas unsicher machte; überkommene Denkmuster der Gesellschaft in minutiöser Kleinarbeit aufbrechen einerseits, nichts anbrennen lassen andererseits.

Programmhinweise

ORF III sendet am Mittwoch um 19.45 in „Kultur Heute“ ein Gespräch mit Heinz Sichrovsky über Roth.

Am Donnerstag liest Helmut Berger um 11.05 Uhr in Ö1 in den „Radiogeschichten“ aus dem Roman „Orkus“ von Roth.

Am Freitag ist ab 16.05 Uhr in Ö1 eine Ausgabe der „Tonspuren“ aus dem Jahr 2012 über Roths Spuren in der Südweststeiermark zu hören.

Am Sonntag ist um 9.05 Uhr in Ö1 eine ebenfalls aus dem Jahr 2012 stammende Ausgabe aus den „Gedanken“ zu hören, in der Roth über Erlebtes und Imaginiertes spricht.

ORF III sendet am Sonntag um 21.50 Uhr „Der See“ nach dem gleichnamigen Roman von Roth; Regie führte sein Sohn Thomas Roth.

ORF2 sendet am kommenden Montag um 23.30 Uhr die Dokumentation „Schreiben ist Leben – Gerhard Roth“.

Chronist im Land des Verdrängens

Ein großer Vertrauens- und vor allem finanzieller Vorschuss des Fischer-Verlages, zu dem er von Suhrkamp kommend wechselte, ermöglichte es ihm schließlich, sich ganz dem Schreiben zu widmen. Nun konnte sich das Universum der „Archive des Schweigens“ entfalten. Sie sollten eigentlich aus zwei Bänden bestehen. Es wurden sieben daraus. Der erste Band „Der stille Ozean“ wurde von Xaver Schwarzenberger verfilmt, was dem Regisseur den Silbernen Bären der Berlinale 1983 einbrachte. 1984 erschien das 800-Seiten-Buch „Landläufiger Tod“, das vielen als markantes Kernstück von Roths Werk gilt.

Danach folgte „Orkus“ (der Zyklus heißt genauso wie sein letzter Band) mit acht Büchern. Beide Zyklen bestehen aus Romanen (mit Elementen von Kriminalliteratur), in denen die Protagonisten Wiedergänger sind, aber auch aus Fotobänden und Sammlungen essayistischer Betrachtungen. Literatur, Kino, Fotografie, Kunst, Religion und Wahn spielen die Hauptrolle neben Österreich, dem Land des Verdrängens und Vergessens seiner Nazi-Schuld.

Bußübung als Befreiungsschlag

2011 erschien mit „Orkus. Reise zu den Toten“ ein großer Abschlussband, in dem Figuren und Motive aus beiden Zyklen verwoben, Erfundenes und Gefundenes, Dokumentarisches, Essayistisches und Fiktionales verschmolzen wurden. In diesem Buch ließ Roth auch sein Erwachsenenleben noch einmal an sich vorüberziehen, allerdings klammerte er sein Privatleben weitgehend aus. Lediglich die Eckpfeiler wurden erwähnt. Nach seiner Zeit am Rechenzentrum folgte eine für beide Seiten mühsame Scheidung, Roth sprach von „Strindberg’schen Momenten“.

Beide: Der Autor Gerhard Roth in seinem Haus in Kopreinigg
Beide: picturedesk.com/Amadeus Ulrich
Auf dem Land und inmitten von Büchern fühlte sich Roth am wohlsten

Mit seiner späteren zweiten Frau zog Roth auf einen Bauernhof ohne Fließwasser und Telefon – „als wollte ich dafür büßen, einen neuen Anfang zu wagen“, wie er schrieb. Die Buße war zugleich ein beruflicher wie privater Befreiungsschlag. Das Schreiben als Lebensmittelpunkt, es war anders, als Roth das geplant hatte, nicht eine einsame Kontemplationsübung auf dem Hof. Das Landleben, sagte Roth in einem seiner Interviews mit ORF.at, war zu spannend. Er wurde zum Chronisten des Alltags, er sammelte Gespräche, die er in seine Arbeit einfließen ließ, und die Landbevölkerung bot Blaupausen für seine Romane.

„… als liege mein gesamtes Leben erst vor mir“

Acht Jahre später zog Roth nach Wien, wobei er bis zuletzt einen Teil des Jahres auf dem Bauernhof verbrachte, gegen Ende seines Lebens sogar den Großteil. Sowohl in Wien als auch in der Südweststeiermark lebte er umgeben von Abertausenden von Büchern. In „Orkus“ zog er ein persönliches Fazit: „Meine sogenannten Fehler haben mein Leben entschiedener verändert als meine guten Eigenschaften. Sie haben mich hineingeführt in den Mittelpunkt der Existenz und wieder herausgeschleudert an die Peripherie, wo ich mich immer noch in dem Wechselspiel von Verrücktheit und Normalität, Einbildung und Sachlichkeit, Wahrheit und Lüge übe, als liege mein gesamtes Leben erst vor mir.“

Periphere Ausnahmezustände waren es auch, die ihn stets interessiert hatten, immer wieder jene von Mördern etwa – und Wirklichkeitsentwürfe abseits der messbaren Realität, ob das Religionen waren oder die entrückten Welten der Gugginger Künstler, denen er jahrzehntelang verbunden war und einen ausladenden Fotoband widmete. Sein letztes großes Projekt war seine Venedig-Trilogie, in der Roth noch einmal sein immenses kulturgeschichtliches Wissen in die Waagschale warf, um sich im Rahmen einer packenden Handlung durch die Gassen und Zeitläufte der Lagunenstadt zu schlängeln.

Der Autor Gerhard Roth
picturedesk.com/Karl Schöndorfer
Roth wurde für sein Lebenswerk vielfach ausgezeichnet

Die schmerzliche Leere am Präsidententisch

Roth war trotz seiner Kompromisslosigkeit jemand, der seinen Status genoss. Wenn bei der privaten Geburtstagsfeier der Landeshauptmann und ein heimischer Popstar zur Gitarre griffen, wenn ihm anlässlich der Verleihung des Staatspreises für Literatur 2016 im Burgtheater gehuldigt wurde, dann konnte er das in vollen Zügen genießen. Gleichzeitig hatte er, stets gemeinsam mit seiner zweiten Ehefrau, der Journalistin Senta Roth, der er viel verdankte, immer ein offenes Ohr für Alltagsprobleme und Lebenskrisen von Freunden und nahm regen Anteil an ihrem Leben.

Seine späten Jahre waren nicht zuletzt auch geprägt vom Kulturzentrum Greith-Haus, das auf seine Initiative hin nahe seinem Bauernhof gebaut wurde und von einem Verein betrieben wird. Neben zahlreichen anderen Künstlern werden dort immer wieder auch Ausstellungen der Fotografien von Roth gezeigt. So wurde das Greith-Haus nicht nur zu einem Kulturzentrum in der Region, sondern auch zu einem späten Zentrum seiner Welt.

Roth war stolz auf das Greith-Haus, so wie er stolz war auf sein Werk, seine Familie – und auf seinen Ehrenplatz am Präsidententisch von Sturm Graz, „seinem“ Verein, bei dessen Spielen er über 70 Jahre lang mitfieberte. Nicht nur dort wird sein Platz eine schmerzliche Leere hinterlassen.

„Er wird Österreich sehr fehlen“

Die Trauer und Betroffenheit über den Tod des Ausnahmeautors ist groß. Bundespräsident Alexander Van der Bellen würdigt Gerhard Roth als „mutige und kluge Stimme, die für ein weltoffenes, solidarisches und friedliches Österreich eingetreten ist“.

„Ich war mit Gerhard Roth durch eine enge Freundschaft verbunden, auch wenn ich seine politischen Ansichten nicht immer teilte“, so Landeshauptmann Hermann Schützenhöfer (ÖVP) in einer ersten Reaktion. Und auch Kunst- und Kulturstaatssekretärin Andrea Mayer würdigte den Grazer Schriftsteller: „Politisch galt er manchen als unbequem, umso wichtiger war er für Österreich und das Nachdenken über unser Land. Seine beiden Romanzyklen ‚Die Archive des Schweigens‘ und ‚Orkus‘ sind zwei literarische Kontinente, durch die wir noch lange reisen werden und immer wieder Neues über uns und unsere Geschichte lernen und erfahren werden. Mit ihm verlieren wir einen unserer besten Autoren, er wird Österreich sehr fehlen.“