PCR-Testlabor
Reuters/Kai Pfaffenbach
Endemie statt Pandemie?

WHO warnt vor zu frühem Strategiewechsel

Aktuell infizieren sich in Europa so viele Menschen mit dem Coronavirus wie nie zuvor. Trotzdem beginnen einige Länder damit, die Maßnahmen gegen die Pandemie zu lockern. CoV soll, ähnlich etwa der Grippe, als Endemie, die man – besser oder schlechter – kontrollieren kann, behandelt werden. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) warnt allerdings vor einem Strategiewechsel, der zu früh kommt.

In Spanien etwa will die Regierung unter Ministerpräsident Pedro Sanchez einen solchen Strategiewechsel vollziehen und Covid-19 als eine endemische Krankheit, mit deren saisonalen Ausbrüchen die Menschen leben könnten und die das Gesundheitssystem nicht überlasten, einstufen. Dieser Schritt sei „an der Zeit und notwendig“, sagte Gesundheitsministerin Carolina Darias, wie Sanchez von der Mitte-Links-Partei PSOE.

Die Voraussetzungen für einen solchen Strategiewechsel wären in Spanien theoretisch tatsächlich besser als in vielen anderen EU-Ländern. Laut dem Impftracker der ECDC (Europäisches Zentrum für Seuchenprävention) sind 75,7 Prozent der Gesamtbevölkerung „vollständig geimpft“, in Österreich 72 Prozent – in anderen Ländern aber noch deutlich weniger, etwa in Rumänien nur 41 Prozent und in Bulgarien nochmals deutlich weniger.

Nehammer glaubt nicht an rasches Ende der Pandemie

Anders als sein Vorgänger Sebastian Kurz stellt Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) kein baldiges Ende der Coronavirus-Pandemie in Aussicht – im Gegenteil: „Wir werden nicht so bald den Status erreichen, dass die Pandemie überwunden ist“, sagte er im Interview mit dem Nachrichtenmagazin „profil“. Mit der Omikron-Variante des Virus finde ein Paradigmenwechsel statt. Bei dieser neuen Variante gebe es „offenbar kein Limit, wir müssen aus auf neue Dimensionen“ einstellen, so Nehammer.

Kurswechsel auch in Großbritannien

Anders der britische Regierungschef Boris Johnson, dessen Land einen Kurswechsel plant. „Da Covid endemisch wird, müssen wir die gesetzlichen Vorschriften durch Ratschläge und Empfehlungen ersetzen“, sagte er Mitte der Woche und kündigte an, dass die meisten Maßnahmen bald aufgehoben würden. „Wir müssen lernen, mit Covid zu leben“, hatte der britische Gesundheitsminister Sajid Javid bereits Anfang des Jahres argumentiert.

Auch Irland hob mit Samstag fast alle CoV-Regeln auf. Pubs, Restaurants und Discos dürfen wieder öffnen, ohne Impfnachweise zu verlangen oder Abstandsregeln zu beachten, wie Regierungschef Micheal Martin Freitagabend in Dublin sagte. Teilnehmerbeschränkungen für Veranstaltungen fallen ebenso weg wie Vorschriften für private Treffen. Wer positiv auf das Coronavirus getestet wird, muss sich weiterhin isolieren. Auch die Maskenpflicht bleibt mindestens bis Ende Februar in Kraft. Irland habe den „Omikron-Sturm“ überstanden, sagte Martin.

Für WHO Pandemie „noch lange nicht vorbei“

Der WHO geht das alles zu schnell. „Die Pandemie ist noch lange nicht vorbei“, mahnte deren Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus. Es könnten immer neue Virusvarianten auftauchen. Krankheiten oder Erreger werden als endemisch bezeichnet, wenn sie dauerhaft und gehäuft in einer begrenzten Region oder in Teilen der Bevölkerung vorkommen. Endemie bedeute aber auch keinesfalls, dass eine Krankheit harmlos sei, stellte der WHO-Direktor für Nothilfe, Michael Ryan, klar. Das mache das Beispiel der in vielen Regionen der Welt endemischen Malaria deutlich.

„Falsche Hoffnungen“

Die Debatte um Covid-19 als endemische Krankheit wecke „falsche Hoffnungen“, warnte auch Fernando Garcia, Forscher an Spaniens Nationalem Zentrum für Epidemiologie (CNE).

„Wir bewegen uns tatsächlich darauf zu, dass das Virus endemischer wird, aber wir können nicht sagen, dass wir dieses Stadium bereits erreicht hätten“, sagte Marco Cavaleri von der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA). Wann dieser Punkt erreicht wird, lässt sich nicht an einer bestimmten Zahl von Fällen festmachen.

Zu viele auf Intensivstationen

Wenn das Coronavirus wirklich endemisch wird, „werden die meisten Menschen milde Symptome haben“ und nur wenige werden an Komplikationen sterben, sagte Epidemiologe Garcia. In einer solchen Situation werde „es nie vorkommen, dass ein Viertel der Betten auf Intensivstationen mit Covid-Patienten belegt sind, nicht einmal fünf Prozent“. Derzeit sind in Spanien allerdings mehr als 23 Prozent der Intensivbetten mit CoV-Patienten belegt.

Zeitpunkt für Übergang für WHO unklar

Die Chefwissenschaftlerin der WHO, Soumya Swaminathan, hatte es einem Medienbericht zufolge zuletzt begrüßt, wenn Regierungen bereits jetzt den Übergang der Pandemie in eine endemische Phase vorbereiten. Ob der Übergang in eine endemische Phase schon nach der Omikron-Welle geschehen könne, sei noch unklar. „Wir wissen nicht, wann und wo die nächste Variante auftauchen wird und wie sie mit Omikron und Delta interagiert“, zitierte das deutsche „Handelsblatt“ Swaminathan.

Außerdem könne bei einer Pandemie kein Land in eine endemische Phase übergehen, wenn der Rest der Welt noch mitten in der Pandemie sei. Zunächst müsse das Ziel sein, eine weltweite Impfrate von 70 Prozent bis Mitte dieses Jahres zu erreichen. Viele Länder sind davon noch sehr weit entfernt. In mehreren afrikanischen Staaten etwa liegt die Quote bei unter zehn, weltweit nach Schätzungen etwas über 50 Prozent.